Es war einmal ein Junge, der in einem Internat zur Schule ging und auch dort wohnte. Nur alle Monate wurde er nach Hause geholt. Er war ungefähr dreizehn Jahre alt oder vierzehn. Er war ein Außenseiter überall. In der Schule war er nicht besonders gut. Er hatte kaum Freunde, nur solche - und das waren nicht viele - die ähnlich waren wie er und eigentlich waren das gar keine wirklichen Freunde. Er fand keinen Anschluß zu anderen, wurde von diesen nie um etwas gefragt, beim Mittagessen schnappten sie ihm immer die schönsten Portionen vor der Nase weg und wenn er sich dann zu wehren versuchte, dann lachten alle und fanden das furchtbar komisch. Er war nicht besonders gut im Turnen, es passierte ihm ein wenig öfters vor, daß er beim Handball danebengriff, als den anderen und lange laufen konnte er auch nicht, denn er hatte oft Keuchhusten. Wen wundert es, daß Tobias, so hieß der Junge, sehr oft sehr bedrückt war und mit hängenden Schultern durch den Tag ging. Für ihn war immer Nebel rundherum, auch wenn die Sonne schien, von anderen befürchtete er immer etwas Unschönes und daß ihn niemand mochte, das war in sein Herz genauso unauslöschlich eingebrannt wie das Brandzeichen auf dem Popo eines Ochsen im Wilden Westen.
Sonntage waren natürlich für Tobias speziell schreckliche Tage. Während viele andere Jungen und Mädchen von ihren Eltern abgeholt wurden, saß er meist alleine in seinem Zimmer. Die anderen drei Kojen waren leer, es kehrte immer erst am Sonntag Abend Leben in das Zimmer zurück. Zu einem Geburtstag hatte Tobias ein Geschenk bekommen, daß er heiß liebte: Ein Tonbandgerät, das mit Batterie betrieben werden konnte. Wann immer es ging nahm er von irgendwo Musik auf oder hörte sie, machte Aufnahmen von irgendwelchen Geräuschen und dann wagte er sich auch einmal an ein Hörspiel, was aber gar nicht so einfach war, da er keine Töne zusammenmischen konnte. Die absoluten Höhepunkte waren aber manche Sonntage. Ja, ihr hört richtig, Sonntage. Aber nicht die, an denen er in seinem Zimmer saß oder lustlos und bedrückt durch das nahe Wäldchen schlenderte, sondern die, an denen er so viel Geld von seinem kargen Taschengeld zusammengespart hatte, daß er einen neuen Satz Batterien kaufen konnte. An diesen Tagen - und Herbst- oder Wintertage mochte er da besonders - zog er seine Windjacke an und dicke Socken, wickelte sich in den warmen Schal ein, den ihm einmal seine Großmutter geschenkt hatte, hängte sein Tonbandgerät über die Schulter und wanderte los. Sein Ziel war im nächsten Dorf das Kino, der Weg dorthin dauerte etwa drei Stunden. Er führte ihn den Hügel hinunter, quer durch den Ort und dann lange, lange auf dem schnurgeraden Damm des Flusses entlang, links und rechts Auwald und natürlich kein Mensch, denn wer geht schon freiwillig bei Nebel vor die Türe. Während des Spazierganges hörte er seine Musik und es war meistens melancholische. Er merkte es gar nicht, wie er Schritt vor Schritt setzte, sondern seine Gedanken waren mit lauter traurigen Dingen beschäftigt.
So war es auch an jenem Tag, als er, sein Tonbandgerät geschultert, über den Kies durch den Nebel stapfte, den Blick schon lange hinunter zu den kahlen Bäumen und Büschen neben dem Damm gerichtet und den Gräsern, die winterbraun am Boden lagen wie ungewaschenes Haar. Plötzlich schreckte er aus seiner Melancholie hoch, denn er glaubte neben sich Schritte im Kies knirschen gehört zu haben. Er blickte nach rechts, aber da sah er niemanden. Auch hinter ihm nur der Weg, der sich im Trüb verlor, vorne das selbe. Also nahm er seine Wanderung wieder auf und bald kreisten seine Gedanken wieder um lauter traurige Dinge. Nach einer Weile hörte er wieder Schritte, er war sich ganz sicher. Er blickte aber jetzt nicht hinüber, auch wenn er ordentlich Angst hatte, sondern hörte ganz genau hin. Ja, da waren Schritte, die in einem etwas langsameren Rhythmus als dem seinigen die Kiesel gegen den Boden preßten. Auch spürte er, daß er nicht alleine war. Ganz behutsam wandte er den Kopf zu Seite und, tatsächlich, er glaubte einen Schatten wahrzunehmen. Er blickte wieder weg und dann langsam nochmals hin und nun sah er es ganz deutlich: Neben ihm wanderte mit der gleichen Geschwindigkeit wie er ein alter Mann, in einen langen Mantel gehüllt. Er hatte lange weiße Haare und auch einen ebensolchen Bart. Trotz seines offensichtlichen Alters ging er aber sehr aufrecht. Als Peter zu seinem Gesicht blickte, wandte auch der Mann seinen Kopf, lächelte ihn freundlich an und meinte "Hallo, Tobias."
Man kann sich vorstellen, daß Tobias nicht schlecht gestaunt hat, denn
so etwas passiert einem nicht alle Tage. Vorsichtshalber schaute er nochmals
in die andere Richtung und dann wieder nach rechts. Der Mann war noch da, so
deutlich wie er selbst und wanderte im gleichen Tempo neben ihm her. Er lächelte.
"Wunderst du dich?"
"Das kann man wohl sagen," antwortete Tobias. "Wer bist du? Und
wie bist du so unbemerkt hergekommen? Es ist doch sonst niemand unterwegs."
"Ich bin ein Wanderer wie Du," entgegnete der Fremde, "nur dauert
meine Wanderung eben schon ein wenig länger."
"Und wohin willst du?"
"Dorthin," sagte der Fremde vage und deutete nach vorne.
"Auch ins Kino?" fragte Tobias ungläubig.
"Nein." Der fremde Wanderer lächelte ein nettes, freundliches
Lächeln. "Wie geht es Dir denn so?"
Sofort fielen Tobias' Schultern wiederum nach vorne, er hatte gar nicht gemerkt,
wie seine Haltung auch aufrechter geworden war. Seine traurigen Gedanken meldeten
sich allesamt und bestürmten ihn, von ihnen zu erzählen. Und so quoll
es aus ihm heraus und er sprach zu dem netten alten Wanderer von seinem ganzen
Leid des Alleinseins und Andersseins, davon, daß er nirgends Anschluß
fand, eben von allem, das ihn bedrückte und das war sehr, sehr viel.
Still hörte der alte Mann zu, nickte nur hie und da mit dem Kopf oder brummte,
daß er verstanden hätte.
Im Nu war der Weg über den Damm für Tobias zu Ende, nun mußte
er abzweigen und querfeldein zu dem nun nahen Dorf gehen. Sie blieben stehen.
"Ich muß nun hier hinunter," sagte Tobias traurig, denn die
Nähe des Wanderers hatte ihm sehr wohl getan.
"Mein Weg führt mich hier weiter." Und während er das sagte,
griff der Fremde in eine Tasche seines weiten Mantels. Als seine Hand wieder
herauskam, lag etwas Kleines, Blinkendes darin. Er öffnete die Hand ganz
und nun sah Tobias, daß es etwas Rundes war, aus blank poliertem Metall.
Der alte Mann hielt es ihm hin und meinte: "Hier, Tobias, das gebe ich
Dir als Geschenk mit auf deinen Weg."
Neugierig und vorsichtig nahm Tobias das runde Etwas, das wie die Tablettendose
aussah, die er früher bei seiner Großmutter gesehen hatte, als sie
noch lebte. Nur größer.
"Mach es auf," forderte ihn der Alte auf.
Auf leichten Druck sprang der Deckel auf und es war Tobias, als ob er einen
ganz leisen Klang gehört hätte. Aber da mußte er sich doch wohl
getäuscht haben. Er blickte hinein, die Dose entpuppte sich als Kompaß.
"Es ist kein gewöhnlicher Kompaß, Tobias. Dieser Kompaß
zeigt dir, wohin du willst."
Verwundert blickte Tobias auf die Nadel und die feinen Buchstaben S, N, O und
W. Sie waren sehr schön und verschnörkelt. Die Nadel zitterte leicht,
wie sich das so für einen Kompaß gehört. Er konnte absolut nichts
Besonderes erkennen. Fragend blickte er den Fremden an.
"Der Kompaß zeigt dir, wohin du willst," wiederholte der Fremde.
Tobias verstand absolut gar nichts.
"Sag mir, wohin die Nadel zeigt."
Tobias schaute in das Rund. "Zwischen S und W".
"Wohin zeigt die Nadel eines Kompaß denn gewöhnlich?"
"Nach Norden." Das wußte Tobias, denn sie hatten darüber
vor nicht allzu langer Zeit bei den Entdeckern in Geographie gesprochen.
"Genau. Und wo ist Norden?"
Etwas verwirrt blickte Tobias in die Gegend und deutete dann in die Richtung,
aus der sie gekommen waren.
"Und die Nadel?"
Da bemerkte Tobias, daß die Nadel tatsächlich nicht nach Norden zeigte.
Nun verstand er gar nichts mehr. Warum schenkte ihm der Fremde einen Kompaß,
der nicht funktionierte? Sicher, er war sehr schön, blank poliert und auf
dem Deckel hatte er auch ein paar einziselierte Worte entdeckt, die er allerdings
nicht beachtete.
"Der Kompaß, Tobias, zeigt dir, wohin du willst, aber es ist nicht
die geographische Himmelsrichtung, wie das bei einem Kompaß üblicherweise
der Fall ist. Sondern es ist die Richtung, die du innen drinnen in deinem Herzen
gerade wählst. Um ihn zu verstehen, mußt du sie Symbolik seiner Himmelsrichtungen
verstehen."
Ungläubig blickte Tobias den alten Mann an. Dieser fuhr fort: "Seine
Himmelsrichtungen haben mehrere Bedeutungen, du wirst es im Lauf der Zeit lernen,
was er dir sagen will. Ich werde dir jetzt lediglich sagen, was die Richtungen
grundlegend bedeuten. Norden bedeutet Stille. Aber auch Trauer, Einsamkeit,
Weite, Distanz. Der Süden steht für Freude, Nähe, auch Übermut
und Wagemut. Osten und Westen bedeuten Zukunft und Vergangenheit. Die feinen
Nuancen wirst du schon noch kennen lernen."
Sofort überlegt Tobias, was die Nadelstellung zwischen Süden und Westen
bedeuten sollte.
"Was bedeutet dann, daß die Nadel zwischen Süden und Westen
steht?" Fragte Tobias den Alten und blickte auf. Vor ihm lag der Auwald,
links und rechts verlor sich der Weg im Nebel. Der alte Mann war nicht mehr
da. Ebenso geheimnisvoll, wie er gekommen war, war er nun auch verschwunden.
Ungläubig blickte Tobias rundherum. Aber er blieb verschwunden. Dann entsann
er sich wieder des Kompaß und er schaute in seine Hand. Ja, der Kompaß
war noch da, er hatte also nicht geträumt. Wie eine graue Welle schwappte
die Trauer und Enttäuschung über Tobias herein und Tränen standen
in seinen Augen. Wie wohl hatte er sich in der Nähe des alten Mannes gefühlt,
spürte trotz des kalten klammen Nebels Wärme und Freude, nicht allein
zu sein. Die Träne tropfte, wie es Tränen so an sich haben, wenn man
sie nicht wegwischt, hinunter und landete ausgerechnet auf dem Kompaß,
den Tobias in der offenen Hand hielt. Schnell putzte er die Träne weg und
da sah er, daß der Zeiger direkt nach Norden wies, zwischendurch nach
Westen zuckte und so stark zitterte, als wolle er in diese Richtungen fliegen.
Als er genauer hinsah, wurde er plötzlich ganz ruhig und in gleichem Maß
hörte die Nadel auf zu zittern. Zwar begann es ganz leise dunkel zu werden,
aber trotzdem konnte Tobias noch gut sehen und so sah er sich das Gehäuse
des Kompasses genauer an. Auf der Unterseite war in der Mitte ein Herz eingraviert.
Rundherum sah er ein lachendes Gesicht, eine Sonne, einen Mond, einen Tropfen,
einen Blitz, einen Hammer, eine offene Hand, ein kleineres Herz, zwei eng umschlungene
Wesen, eine Faust. Er klappte ihn zu und sah nun auf der Oberseite kunstvoll
und mit vielen Verzierungen, Ranken und Blättern, die Worte 'Es ist, wie
du willst'.
Tobias schüttelte nachdenklich den Kopf. Aber es geschah etwas ganz Seltsames.
Es stieg in ihm eine unbändige Freude auf. Ganz zart zuerst und ganz tief
drinnen begann sie sich zu regen, so, als ob sie von weit, weit her käme.
Und dann wurde sie stärker und stärker, rieselte durch den ganzen
Körper und es schien Tobias, als ob er explodieren müßte. Schließlich
bahnte sich die Freude einen Weg hinaus, fand ihn auch und suchte in einem lauten
'Juuhuuuhhh!' das Weite. Zugleich machte Tobias einen Satz, daß ihm fast
das Tonbandgerät davongeflogen wäre. Daß das Juhu wie im Gebirge
als tausendfaches Echo zurückgeworfen wurde, was es im Nebel ja gar nicht
geben kann, daß fiel ihm nicht weiter auf. Sofort machte er den Kompaß
auf und was sah er? Die Nadel stand nach Süden und hüpfte wie wild!
Zudem glaubte er, bei Öffnen einen glasklaren wunderschönen Klang
gehört zu haben.
Plötzlich besann sich Tobias wieder seiner Wanderung zum Kino und schaute sofort erschrocken auf die Uhr. Er hatte nur noch eine Viertelstunde und es war eine ganze Strecke! Er begann zu laufen und auch da bemerkte er nicht, daß er gar keine Probleme mit dem Atmen hatte. Denn üblicherweise mußte er, speziell dann, wenn es kalt und naß war, achtgeben, daß er nicht seinen Keuchhusten bekam. Das Kino erreichte er so noch rechtzeitig. Die Dame an der Kinokasse, die zugleich auch Platzanweiserin war - denn es war ein klitzekleines Dorfkino - und meisten traurig dreinschaute, lächelte Tobias freundlich an. Einer der Gründe, warum Tobias ins Kino ging war übrigens auch der, daß er hier hie und da ein Mädchen traf, an das er immer wieder denken mußte, die ihn aber nie beachtete. Tatsächlich war sie auch heute da. Und was mußte er sehen? Sie blickte zu ihm herüber. Zu ihm! Und sie lächelte ihm zu! Und war da nicht eine kleine Handbewegung, die wie ein Gruß aussah? Daß der Film sehr lustig war, das braucht nicht eigens gesagt zu werden. Nach dem Film sah er das Mädchen nochmals, sie war zwei Reihen vor ihm gesessen. Früher hätte er sich nie und nimmer getraut, sie anzusprechen. Aber heute kam ein leises 'Hallo' wie von selbst über seine Lippen. Und sie blickte kurz auf und hauchte ebenfalls ein leises 'Hallo' und er sah, daß sie ganz leicht rot geworden war. Der Weg nach Hause war für Tobias wunderbar, er kam sich vor wie neu geboren.
Natürlich blieb dieses wunderbare Gefühl nicht lange erhalten. Aber immerhin: Tobias hatte es einmal erlebt und wußte nun, wie einem dabei zumute ist. In der kommenden Zeit schaute er oft verstohlen auf den Kompaß und merkte, daß es sich genauso verhielt, wie der alte Wanderer gesagt hatte: Wenn er bedrückt und traurig war, dann zeigte die Nadel nach Norden. Freute er sich, was zwar nicht sehr oft vorkam, dann wies sie nach Süden. Nahm er sich vor, etwas zu tun, dann war der Osten ihre Richtung und Westen dann, wenn er mit seinen Gedanken in der Vergangenheit gefangen blieb. Das einzige, was er nicht verstehen konnte waren die Worte 'Es ist, wie du willst'. Er wollte doch so gern Freunde. Aber er hatte keine. Und sofort war er traurig, wenn er daran dachte. So zogen Wochen und Monate dahin.
Seit der Begegnung mit dem alten Mann waren zwei Jahre vergangen. Manchmal hatte das Geld wieder gereicht, daß er ins Kino gehen konnte. Allerdings war alles ziemlich so, wie es auch früher gewesen war. Tobias hörte melancholische Musik, seine Schultern neigten dazu, nach vorne zu hängen und seine Schritte kamen oft sogar einem Schlurfen gleich, wie man es von alten Leuten her kennt, wenn sie in ihren Filzpantoffeln durch den Gang in einem Altersheim schurren. Das Mädchen hatte er schon eine ganze Weile lang nicht mehr gesehen, er dachte, daß sie sicher jetzt mit jemandem anderen in einem Kaffee sitzen würde, sie lachen, sich lustige Dinge erzählen und verliebt anschauen würden. Und dabei wurde ihm ganz eng ums Herz, die Schultern fielen ein wenig weiter nach vorne und die Schritte wurden noch etwas mutloser. Hätte er in seinen Kompaß geblickt, so hätte er die Nadel ganz verzweifelt nach Norden zittern gesehen.
So
versunken war er in seinem Leid, daß er tatsächlich die Schritte
neben sich nicht wahrnahm. Erst als eine Stimme seinen Namen sagte, schreckte
er zusammen und als er aufblickte, sah er geradewegs in die warmherzigen Augen
des alten Wanderers von ehedem. Ohne zu wissen, was er tat, kehrte er sich ihm
zu, schlang seine Arme um ihn, vergrub sein Gesicht in dem weiten Mantel und
seine Schultern zuckten vom Schluchzen. Die Hände des Alten strichen über
seinen Kopf und so beruhigte sich Tobias recht bald.
"Was soll ich tun," seine Stimme rutschte zwischendurch immer wieder
aus, "es ist alles so traurig. Ich habe keine Freunde, niemand mag mich,
nichts gelingt mir und oft habe ich auch zu gar nichts Lust. In der Schule bin
ich nicht gut, der Keuchhusten ist oft schlimm und ich bin so allein!"
Da schob der Alte Tobias auf Armeslänge von sich weg und sah ihm ernst
in die Augen. "Hast du deinen Kompaß genutzt?"
"Ja doch! Ich hab immer draufgeblickt und die Nadel steht immer nach Norden,
fast nie nach Süden, aber auch kaum nach Osten oder Westen."
"Hast du die Worte auf dem Deckel denn nicht bemerkt?"
"Natürlich habe ich sie gelesen!" Seine Stimme wurde ein wenig
trotzig. Er war ja schließlich nicht blöd.
"Und?"
"Was 'und'?
"Hast du sie auch befolgt?"
"Natürlich! Ich will ja Freunde und mich freuen und es so schön
haben wie die anderen. Aber es wird eben nicht."
"Hmm.." machte der alte Mann nur und sie begannen in der Richtung
zu dem Kino zu gehen.
Nach einer Weile blickte Tobias den alten Mann von der Seite an. "Hab ich
was falsch gemacht?"
"Hat sich etwas geändert?" kam die Gegenfrage.
"Nein, eigentlich hat sich gar nichts geändert."
Sie schritten eine Weile schweigend nebeneinander einher.
"Warum hast du nichts geändert?" fragte ihn der alte Mann in
die nebelige Stille. Denn es war ein Tag, der gerade so war wie der, als sie
sich zum ersten Mal getroffen hatten.
"Ja, wie hätte ich denn sollen?!" Tobias schrie es fast heraus.
"Du hast doch den Kompaß."
"Ja, aber der sagt mir doch nur, wie mir zumute ist."
"Eben."
Irgendwie ärgerte sich Tobias über die Rätselraterei des Alten.
"Dann sag doch endlich, WAS ich tun soll!!"
"Na, na."
"Entschuldigung." Tobias merkte, daß der Alte ja offenbar extra
wegen ihm hier war. Also kam es ihm nicht zu, ihn verantwortlich zu machen,
daß es ihm nicht gut ging. Kleinlaut fragte er nochmals: "Kannst
du mir sagen, was ich tun soll?"
Der Alte Wanderer blieb stehen und wandte sich Tobias zu. "Hast du den
Kompaß bei dir?"
"Natürlich!" Sofort zog er ihn heraus.
"Öffne ihn einmal."
Tobias öffnet ihn und - wie üblich - war der Klang ein dumpfes 'blopp'.
Daß tatsächlich ein Klang war, wenn er ihn öffnete, da war er
sich mittlerweile sicher. Verschieden, aber meistens 'blopp'.
"Wo zeigt die Nadel hin?"
"Na ja.. nach Norden. Sie steht ziemlich still."
"So, jetzt machen wir einmal ein Experiment."
Gespannt blickte Tobias den Alten an.
"Konzentriere dich einmal ganz fest auf Freude. Denk an irgend etwas, das
du gerne magst."
Tobias dachte an den Sommer, als er ein Fahrrad geschenkt bekommen hatte. Er
war in den Wald gefahren und hatte sich auf eine Lichtung gesetzt und ein Buch
gelesen, das war sehr schön gewesen.
"Schau auf die Nadel", hörte er die Stimme des Wanderers. Er
blickte darauf und sah, daß sie nach Süden zeigte.
"Stop!" sagte der Wanderer. "Nun versuche diese Stimmung festzuhalten!"
Die Nadel hatte nämlich schon wieder über Westen nach Norden wandern
wollen. Sobald er versuchte, die Stimmung in sich wieder erstehen zu lassen,
kehrte sie jedoch nach Süden zurück.
"Nun versuch, einfach nur die Stimmung in dir zu haben, auch wenn du nicht
mehr das Bild von der Lichtung siehst." Erst später, als sich Tobias
an diese Stunde zurückerinnerte, fragte er sich, woher der Alte Mann gewußt
hätte, woran er gedacht hatte.
Tobias versuchte es und es gelang ihm tatsächlich, dieses Gefühl der
Freude in sich zu retten.
"Das, Tobias, ist das Geheimnis, um das es geht. Um etwas zu erreichen
mußt du es zuerst wollen. Um es erreichen zu können, mußt du
es in dir wahr machen. Erst nachdem du es in dir wahr gemacht hast, kann es
auch wahr werden. Wenn du auf den Kompaß blickst, dann wirst du immer
sehen, was du momentan willst. Das hast du ja bereits in den letzten Jahren
bemerkt. Aber dir war nicht klar, daß du den Kompaß beeinflussen
kannst. Nun weißt du es. 'Es ist, wie du willst' bedeutet, daß alles,
was ist, du irgendwann einmal so wolltest. Wenn du glaubst, daß das nicht
stimmt, denn du wolltest niemals traurig sein, dann hast du leider nicht Recht.
Denn du BIST immer traurig. Und damit säst du Trauer für die Zukunft."
"Aber ich hab doch probiert, NICHT traurig zu sein und dann ging es kurz
und dann war es wieder so wie immer."
"Natürlich. So viel Trauer wie du säst, so viel erntest du auch.
Bist du zwei Tage traurig, dann bekommst du zwei Tage Trauer zurück. Wie
lange warst du denn fröhlich?"
Das leuchtete Tobias ein und ihm dämmerte, was der Mann meinte. "Nicht
viele..." gab er zu.
"Siehst du," sagte der alte Mann und legte ihm den Arm auf die Schulter.
"Es kommt noch etwas dazu. Wenn du NICHTS willst, dann wird alles so, wie
es rundherum die anderen wollen. Denn der welcher seine ganze Kraft ins Wollen
legt, der wird immer der Sieger sein. Bist es du nicht, dann bestimmen andere,
wie es dir geht. Dann lenken andere deinen Kompaß. Verstehst du das?"
"Ja, ich glaube schon..." Ein wenig begann Tobias, die Zusammenhänge
zu verstehen.
"Du mußt nun weiter, denn dein Kino fängt bald an," mahnte
ihn der alte Mann. "Und auch ich muß weiter. Diesen Teil an Wissen
um dein Schicksal mußt du umsetzen. Die Kenntnis nützt dir nichts,
wenn du sie nicht anwendest. Hast du übrigens schon einmal nachgesehen,
was auf der Innenseite des Deckels steht?"
Tobias blickte hinunter zum Kompaß. Innen war doch gar nichts gewesen
außer ein paar Ranken und Blüten. Aber er sah sich die Innenseite
doch noch mal an und da stand tatsächlich etwas. Gleich verschnörkelt
wie auf der Außenseite waren die Worte zu sehen 'Wiederhole die Freude'.
"Das habe ich gar noch nicht gesehen," Tobias hob den Kopf und wollte
den Alten fragen, wieso er es bisher immer übersehen hätte. Doch ebenso
geheimnisvoll wie beim ersten Mal war der Fremde verschwunden.
Nachdenklich
ging Tobias ins Kino. Er kam zu spät, aber die Frau ließ ihn noch
hinein und er mußte sogar nur den halben Preis bezahlen. Es war ein Western,
ja, er war recht nett, aber nicht eben aufregend. Das Mädchen war, wie
die letzten Male, nicht gekommen. Am Heimweg dachte Tobias weiter über
die Begegnung nach. Und er machte den Kompaß auf und es machte 'plinng',
was schon ein wenig freundlicher war und er las die Worte, die nach wie vor
da standen. Tobias plante seinen nächsten Kinobesuch für nächste
Woche. Dafür würde er zwar kein Geld für Batterien haben, aber
dann ginge er eben ohne Tonbandmusik. Aber er nahm sich vor, mit seinem Kompaß
zu üben. Jeden Tag und immer, wann er die Möglichkeit hatte und daran
dachte, 'wiederholte er Freude'. Zuerst merkte er praktisch nichts, aber die
Kompaßnadel schon. Sie war seinem Empfinden immer ein wenig voraus. Er
sagte sich 'jetzt denke ich an irgend etwas Nettes', dann wanderte die Nadel
nach Süden und etwas später begann er es auch selbst zu spüren.
Schließlich kam das Wochenende und er machte sich wiederum auf den Weg
zu seinem Kino, wie er es nannte. Auch auf dem Weg 'wiederholte er Freude' und
seine Laune wurde immer besser. Sie war auf gar nichts Bestimmtes gerichtet,
kurz wurde ihm klar, daß er eigentlich ja gar keinen Grund hatte, gut
gelaunt zu sein. Aber er freute sich einfach weiter, entdeckte plötzlich
unter den Büschen und Bäumen welche, die wie lustige Figuren aussahen,
dachte, daß das eine prima Hintergrundstimmung für einen Krimi wäre
und kam um einiges zu früh ins Kino, so munter war er dadurch ausgeschritten.
"Na, heute schon so früh da?" Die Dame wunderte sich, sie war
auch eben selbst erst gekommen und hatte aufgesperrt. Tobias half ihr, Holz
in den Ofen zu schieben und es dauerte nicht lang, bis das Feuer knisterte und
der Raum wieder warm wurde, so wie er es kannte. Weil immer noch Zeit war, plauderte
die Dame ein wenig mit Tobias. Alles war anders und neu und irgendwie freundlich.
Dann kamen nach und nach andere Besucher und sie mußte Karten verkaufen.
Es geschah nichts besonderes, aber Tobias fühlte sich einfach wohler als
sonst. Er beschloß, noch eine Batterie zu opfern, denn insgeheim hatte
er ja den Wunsch, das Mädchen zu treffen, das heute auch nicht gekommen
war. Die Enttäuschung schluckte er hinunter, übte während der
Woche, Freude zu wiederholen und ging wieder ins Kino, noch ein bißchen
besser gelaunt, als am Sonntag zuvor. Und diesmal hatte er tatsächlich
Glück. Sie war gekommen! Er getraute sich zwar nicht viel zu sprechen,
aber zumindest machte er ausfindig, daß sie in zwei Wochen wieder kommen
würde. Später erfuhr er dann, daß sie gar nicht mit wem anderen
im Kaffee gesessen hatte, sondern nur auch wenig Geld hatte, alle drei Wochen
kam und deshalb nie mit ihm zusammentraf.
Jahre
später, als für Tobias das 'Wiederholen von Freude' ganz selbstverständlich
geworden war, er zuerst zwar nur langsam auch Freunde gewonnen hatte, aber dann
immer erfolgreicher wurde und seine Kompaßnadel meist irgendwo zwischen
Süden und Osten weilte, hatte er einen Traum. Er wanderte auf einem langen
gerade Weg, es war neblig, links und rechts von Auwald, kahle Bäume und
Büsche Gräser, die winterbraun am Boden lagen wie ungewaschenes Haar.
Er wußte nicht den Grund und so zog er lediglich den weiten Mantel fester
um sich und schritt kräftig aus. Der Atem bildete Tauperlen auf seinem
weißen Bart und auch alles andere nahm die Feuchtigkeit an. Da sah er
mit hängenden Schultern einen Jungen den gleichen Weg spazieren, die Hände
in den Taschen seiner Windjacke. Schnell holte er ihn ein.
"Wie geht es Dir denn so?" fragte er ihn und der Junge erzählte
ihm sein ganzes Leid. Er dauerte ihn und er nahm seinen Kompaß aus er
Manteltasche, drückte ihn dem Jungen in die Hand und erklärte seine
Bewandtnis. Mit den Worten "... Die feinen Nuancen wirst du schon noch
kennen lernen." schloß er und erwachte. Als er auf das Nachtkästchen
blickte, sah er, daß der Kompaß nicht mehr da lag.