Es war einmal eine Frau, die in einem Häuschen lebte, das aus Holz war, weit ab vom Dorf, am Rande einer kleinen Lichtung.
Das Häuschen war klein aber urgemütlich. Unten gab es eine kleine Stube mit einem Sofa und zwei bequemen Sesseln. Alle waren überzogen mit einem Stoff in einem Muster unzählige kleine Blüten mit fünf Blütenblättern. Die meisten waren orange, gelb und braun, manche blaue und sogar wenige grüne. Sie hatten in der Mitte einen gelben Punkt und man dachte, in einer Wiese zu sitzen, wenn man auf dem Sofa Platz genommen hatte. Zur Lichtung hinaus gab es zwei kleine gelbe Fenster, mit einem Fensterkreuz. Durch sie fiel oft am Tag die Sonne auf den Teppich, der aus lauter verschiedenen Stoffflecken geknüpft war. Er war warm und so konnte man auch im Winter, wenn es draußen stürmte und schneite, barfuß gehen, ohne kalte Füße zu bekommen. An einem der beiden Fenster hing ein Windspiel. An unsichtbaren Fäden bewegten sich ganz leise fast durchsichtige Seepferdchen aus Alabaster. Manchmal stießen sie aneinander und dann gab es einen ganz zarten glockenhellen Klang.
Neben der Stube war die Küche. Auch sie ganz klein aber es gab eine ganze Reihe an wundersamen Gewürzen, die alle in kleinen Gläsern standen. Die junge Frau, sie hieß Aina, wußte genau, wann sie welches der Gewürze verwenden mußte. Die Gewürze hatten nicht nur die Aufgabe, dem Essen einen besonderen Geschmack zu verleihen, sondern sie ließen auch in dem, der es dann aß, ganz eigene Empfindungen wach werden. So war Aina im Dorf drüben bekannt dafür, daß sie Stimmungen in Menschen erzeugen oder vergehen lassen konnte. Aus diesem Grund kamen immer wieder Leute zu ihr auf Besuch, aßen bei ihr zu Mittag oder zu Abend und gingen dann wieder nach Hause. Wenn sie aber gingen, dann waren sie verwandelt. Die Bedrückten hatten danach ein Lächeln auf den Lippen, die Hochmütigen einen nachdenklichen Blick. Die Hartherzigen hatten plötzliche weiche Gesichtszüge bekommen, die Mutlosen gestraffte Schultern und die Wehmütigen legten stolz und unternehmungslustig den Kopf in den Nacken. So kamen oft Leute zu ihr, wenn sie etwas bedrückte. Zuerst plauderten sie ein wenig und dann kochte Aina etwas. Sie aßen und es schmeckte den Besuchern immer ganz besonders gut. Manche konnten nicht sagen, was sie mehr schätzten - daß ihnen Aina wegen ihrer Probleme zuhörte oder wegen des wunderbaren Essens.
In dem Dorf war auch Krankheit ganz unbekannt. Natürlich gab es mal einen Schnupfen oder Husten oder es hatte mal ein Kind Masern. Auch konnte es geschehen, daß sich jemand ein Bein brach. Aber schlimmere Krankheiten kannte man nicht. Die Leute wußten nicht, warum das so war, also dachte natürlich auch niemand darüber nach. Lediglich Aina wußte es, denn sie kam nicht aus dem Dorf, sondern sie war irgendwann einmal hierhergekommen, in dieses Häuschen, in dem vorher eine andere Frau gelebt hatte. Davor wieder eine andere, niemand wußte woher sie gekommen waren und wohin sie gingen. Daß die Leute im Dorf nicht krank waren, das lag daran, daß sie dann, wenn sie nicht mehr so richtig fröhlich sein konnten, zu Aina gingen, um Rat zu holen. Da sie immer mit Freude im Herzen von ihr gingen, konnte auch keine Krankheit entstehen, die ja nur dann kommt, wenn man nicht froh ist und es einem lange nicht gut geht.
Eines
Tages kam ein gebeugter Mann zu Aina und bat, mit ihr sprechen zu dürfen.
"Komm herein", lud sie ihn freundlich ein und wies ihn an, auf dem
geblümten Sofa Platz zu nehmen. Sie verließ den Raum. Man konnte
sehen, wie er die Umgebung genoß und direkt versuchte, sie einzuatmen.
Es schwebte immer ein ganz leichter frischer und guter Duft in dem Raum und
das leise Klingen, daß von den Seepferdchen aus Alabaster kam, wenn sie
aneinander stießen, strömte wohltuende Ruhe aus, die sich in das
Herz des Besuchers senkte. So legte sich auch sofort Friede über den müden
Mann.
Kurz darauf kam Aina aus der kleinen Küche und stellte eine große
Tasse dampfenden Tees vor den Fremden auf das Tischchen. Trotz der Hitze der
Tasse umschloß er sie vorsichtig mit beiden Händen, als er sie zu
den Lippen führte.
"Woher kommst du, Fremder?" fragte Aina nach einer Weile, als sie
bemerkte, wie sich der Mann begann zu entspannen.
"Ich komme von weit her," antwortete er, "und es war eine lange
Reise."
Das glaubte Aina sofort, denn er hatte lange Haare und auch einen langen Bart.
Der Filzhut, den er abgelegt hatte, zeugte von Regen und Sonne, die ihm oft
und lange zugesetzt haben mußten. Er nahm wiederum einen Schluck, schloß
kurz die Augen, als ob er genau nachdachte, wie es schmeckt und fuhr fort:
"Es ist ein Planet weit weg von hier, man nennt ihn den 'Blauen Planeten'.
Ich wohnte dort in einer großen Stadt, in der es viele Menschen gibt.
Aber diese Mensche sind nicht froh und glücklich, sondern sie streiten
sehr viel, sind unzufrieden, obwohl jeder von ihnen eine Wohnung hat. Sie haben
Autos und Busse..." auf den fragenden Blick von Aina erklärte er "das
sind Blechkisten, die sie von einem Ort zum anderen tragen. Man kann während
dessen sitzen und wird darin nicht naß, wenn es regnet. Im Winter kann
man sie heizen, damit man nicht friert, man benötigt nicht einmal einen
Mantel, so warm sind sie. Busse sind größere Kisten, in denen viele
Leute zugleich Platz finden, Autos eben kleinere"
"Aha", machte Aina und er fuhr mit seiner Geschichte fort.
"Ich habe dort keine Wohnung und auch keine Blechkiste sondern ich schlafe
im Sommer auf einer Bank im Park und im Winter unter der großen Brücke,
die über den Fluß führt.
Ich
lebe dieses Leben gern, denn ich kann tun, was ich will. Die Leute müssen
den ganzen Tag arbeiten, damit sie sich eine Wohnung leisten können oder
ihre Blechkisten oder viele Kleider und wer weiß was noch alles. Weil
ich das alles nicht habe, brauche ich auch nicht zu arbeiten. Ich kann im Park
auf einer Bank sitzen und den Vögeln zusehen, wie sie die Körner aufpicken,
die ihnen ein altes Mütterchen streut. Andere schimpfen wieder darüber,
weil die Vögel alles vollmachen. Kann den Kindern zusehen, wie sie mit
den Skateboards vorbeiflitzen, den Müttern mit den Kinderwägen, den
alten Männern mit Aktentaschen und denn jungen mit Aktenkoffern und wichtigem
Gesicht. Den Gärtnern, wenn sie neue Blumen pflanzen, den Verliebten, wenn
sie auf einer Bank sitzen und sich küssen und den alten Leuten, wenn sie
ihre kleinen Hunde spazieren führen, mit denen sie reden, um ihre Einsamkeit
zu zerstreuen.
Etwas, das mir immer schon aufgefallen ist, sind die vielen Gesichter, die nicht
lachen und fröhlich sind. Fast alle Gesichter sind nicht fröhlich.
Sie sind verschlossen, ärgerlich, verzweifelt, verweint, mürrisch,
alles Mögliche aber selten lachen sie. -
Als ich neu in den Park kam, wurde ich meist geringschätzig behandelt."
"Wieso?"
"Weil solche Leute wie ich nicht zur 'Gesellschaft' zählen, als Schmarotzer
und Penner angesehen werden."
"Ah. - Und weshalb?"
"Weil ich nicht arbeite keine Wohnung habe und kaum Kleider zum Wechseln."
Aina nickte nachdenklich. Offenbar konnte sie das nicht so richtig nachvollziehen.
"Jedenfalls hat es eine Weile gedauert, bis einmal ein kleiner Junge etwas
zögernd kam und mich fragte, wo ich denn wohne. 'Immer wenn ich zur Schule
gehe, dann seh' ich dich hier. Mußt du denn nicht arbeiten?' fragte er
und so kamen wir ins Gespräch und plauderten immer öfters miteinander."
Der Fremde nahm wieder einen Schluck von dem Tee. "Wie er duftet..."
sagte er ganz leise. Dann setzte er seine Erzählung fort.
"Durch den Jungen, er hieß übrigens Peter, habe ich dann viel
erfahren. Warum die Leute alle so bedrückte und ärgerliche und mürrische
Gesichter machen, warum sie so hetzen und so nervös sind. Er hat mir erzählt,
daß er ein Außenseiter ist. Er ist nicht besonders sportlich und
so lachen sie ihn oft aus. Seine Eltern zu Hause zanken sich ständig, betrinken
sich häufig und er ist ihnen nur lästig."
Aina
schüttelte mitfühlend den Kopf, als er das erzählte."
"Mit der Zeit kamen dann auch andere Kinder vorbei und erzählten viele
ähnliche Geschichten. Aber nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche,
die noch zu Hause lebten. Sie klagten darüber, wie Gefangene in der Welt
der Erwachsenen zu leben, die sie so überhaupt nicht verstanden. Es war
schön, wir saßen dann nachmittags oft auf der Wiese und hatten auch
viel Spaß.
Eines Tages kamen dann die Parkwächter. Sie vertrieben uns von der Wiese
und sagten zu mir, daß sie mch hier nicht mehr sehen wollten. Denn es
wäre ja ein ordentlicher Park. Nicht lange darauf kamen ein paar Männer
und beschimpften mich und drohten mir, wenn ich mit ihren Kindern sprechen würde,
dann würde sie dafür sorgen, daß ich aus der Stadt vertrieben
würde oder gar ins Gefängnis käme. Sie wollten nicht, daß
ihre Kinder mit einem Landstreicher zu tun hätten.
Ja und dann... dann kam der schlimme Winter. Es war sehr kalt und naß,
viele Monate unaufhörlich bedeckt und ich bekam eine schlimme Erkältung.
Schließlich kam irgendwann das Fieber dazu bis ich eines Tages erwachte
und mich sehr wohl fühlte. Ich konnte ganz einfach aufstehen und freute
mich schon darüber. Ich reckte und streckte mich, froh, daß die Knochen
nicht mehr schmerzten. Dann wollte ich mich bücken und sah am Boden dort,
wo ich gelegen hatte, eine Gestalt zusammengekrümmt liegen. Ich bückte
mich dann doch hinunter und zog den Hut ein wenig beiseite, der mir seltsam
vertraut vorkam. Als ich das Gesicht sah, kam mir das auch so bekannt vor und
es dauerte ein Weilchen, bis mir klar wurde, daß ich das war, der dort
lag. Offenbar hatte die Erkältung meinen Körper so geschwächt,
daß er meine Seele nicht mehr halten konnte und so stand ich nun daneben.
Als ich eine Weile so gestanden hatte, kamen Leute vorbei und bald darauf Polizei
und ein Krankenwagen. Mich sahen sie natürlich nicht und so sah ich, wie
sie meinen Körper abtransportierten. Traurig setzte ich mich hin und bin
dann eingeschlafen." Der Fremde schwieg.
"Du mußt ja hungrig sein" fragte Aina nach einer Zeit.
"Ja, das bin ich tatsächlich", antwortete der Fremde.
"Warte, ich mach dir etwas Schönes. Du kannst Dich ja zu mir in die
Küche setzen und weiter erzählen."
So geschah es. Während der Fremde Aina seine Geschichte weiter erzählte,
dem weiten Weg vom Blauen Planeten hier her an den Ort, von dem er erfahren
hatte, daß eine Frau wohnen solle, die Menschen helfen kann, die sich
in Not befinden und verzweifelt sind. Sie aßen und es schmeckte dem Fremden
ganz wunderbar und es ging ihm so wie allen, die bei Aina auf Besuch sein durften.
Seine Gestalt straffte sich zusehends und seine Bewegungen wurde kräftiger
und lebhafter.
Als die Mahlzeit zu Ende war fragte Aina: "Was ist nun Dein Wunsch, Fremder?"
"Es gibt da unten so viele Menschen, die in ihrem Herzen Gutes wollen und
doch so unter den anderen Leuten leiden. Gibt es nicht eine Möglichkeit,
was man da tun könnte? Ihnen Zuversicht geben könnte? Ihnen einen
Sinn in ihrem Leben zeigen kann?"
Aina überlegte eine Zeit und meinte darauf, daß sie hier auch keinen
Rat wüßte. Aber sie wolle darüber nachdenken. Er solle sie doch
in ein paar Tagen wieder besuchen.
In
Ainas Häuschen war das Schlafzimmer im ersten Stock direkt unter dem Dach.
So konnte sie durch das Fenster neben dem Bett zu den Sternen hinaufblicken
und deren freundliches Leuchten mit in den Schlaf nehmen. Diesen Abend schickte
sie Gedanken zu den kleinen flimmernden Punkten hinauf, in die sie die Bitte
nach einer Antwort auf die Frage des Fremden legte. Darüber fiel sie in
tiefen Schlaf.
Am nächsten Tag besuchten sie wiederum Leute aus dem Dorf, ein Paar, das
bedrückt war, weil sie sich gern hatten aber so unterschiedliche Interessen.
Aina lud sie zum Essen ein, in das sie wiederum von ihren geheimnisvollen Gewürzen
mischte. Als die beiden sich verabschiedeten, waren sie beide sehr froh, sich
zu haben und freuten sich darauf, durch die verschiedenen Interessen Dinge dazulernen
zu können, die ihnen sonst fremd verblieben wären.
Gegen Abend klopfte es wieder an die Tür. Draußen stand eine alte
Frau. Nachdem Aina sie hereingebeten hatte, erkannte sie, daß die Besucherin
eine eigenartige Mischung aus Hoheit und doch wieder Zuwendung ausstrahlte.
Als sie beim Tee beisammen saßen begann die Fremde:
"Liebe Aina, ich komme zu Dir, weil Du mich gerufen hast."
"Gerufen?" Aina blickte etwas verständnislos drein. "Und
außerdem - woher weißt Du meinen Namen?"
"Ich kenne Dich schon lange, denn schließlich habe ich Dich auch
damals hierher schicken lassen, wo Du lernen solltest, welche Probleme Menschen
bedrücken, lernen solltest, ihnen zu helfen, indem Du ihnen zuhörst
und sie verstehst. Die Gewürze in Deiner Küche sind wie die Gabe,
jedem mit dem Essen zu vermitteln, daß er sich selbst erkennt und so fähig
wird, sich aus seiner unangenehmen Lage selbst zu befreien. Bei jedem ist das
anders, denn jeder hat eine andere Vergangenheit und benötigt so eine andere
Gewürzmischung."
Nach einer Pause fuhr sie fort. "Deine Zeit hier ist zu Ende, Aina. Du
hast mich heute Nacht gebeten, Dir einen Weg zu zeigen, den Leuten auf dem Blauen
Planeten zu helfen. Antworten auf Fragen sind meist anders, als man sie erwartet.
Die Antwort auf diese deine Frage lautet: Geh zu den Leuten hin und hilf ihnen
selbst"
Aina war erschrocken und eine große Trennungs-Wehmut stieg in ihr auf.
"Ich fühle mich hier so wohl und was soll aus den Leuten aus dem Dorf
werden?"
"Mach dir um die keine Sorgen. In diesem Häuschen hier wohnt schon
seit ewigen Zeiten jemand, der ihnen hilft, wenn sie in Not sind. Schon an dem
Tag, an dem Du gegangen bist, kommt jemand anderes.
Was Dich selbst betrifft: Das Leben ist eine ständige Entwicklung. Auch
Du darfst nicht stehenbleiben für alle Zeiten an dem gleichen Ort, auch
wenn Du Dich noch so wohl fühlst. Irgendwann würde es Routine werden
und dann Wert verlieren. Doch es sei Dir zum Trost gesagt: Du kommst jedesmal
an einen neuen Ort, der etwas schöner ist. Also schließe mit der
Vergangenheit ab und hab den Mut für eine Zukunft, auch wenn sie Dir noch
nicht bekannt ist. Solange du Zuneigung für andere im Herzen trägst
wie jetzt, wird es nie schlechter, nur besser."
Aina fühlte ein Ziehen in der Brust aber sie war gleichzeitig auch voll
Tatendrang und Zuversicht.
Die
Fremde sah es und lächelte leise. "Du bist bereit dazu?"
"Ja, es kam nur etwas überraschend," antwortet sie mutig.
"Immer kommen Dinge anders, als man es sich erwartet. Sei immer bereit,
Neues anzunehmen. Doch egal, was auch kommen mag, denke immer an eines: Wenn
du Gutes willst, dann kommt auch nur Gutes zurück." Und nach einer
kurzen Pause setzte sie noch hinzu: "...auch wenn es manchmal nicht so
aussehen mag."
"Was soll ich also tun?"
"Dein Leben lang wolltest Du immer helfen. Nun bekommst Du eine andere
Möglichkeit dazu. Du sollst diesen Leuten, von denen dir der Fremde gestern
erzählt hat, dazu verhelfen, Lebensmut zu bekommen, damit sie wiederum
lernen, den Dingen den richtigen Wert zu geben. Lernen zu erkennen, was wirklich
wichtig ist und was nicht"
Aina freute sich. "Das wird schön werden!"
Da wurde die Fremde ernst. "Liebe Aina. Es wird vor allem am Anfang sehr
schwer für Dich werden und in den ersten Jahren gar nicht schön."
"Warum?" Eine leichte Kälte berührte Aina.
"Um helfen zu können, mußt du erfahren, wie sich die Leute fühlen."
"Ist das so schlimm?"
"Es ist nicht leicht. Denn um wirklich die Verzweiflung nachempfinden zu
können, mußt du dich so einsam und verlassen fühlen, wie sie
es sind. Du wirst dort in einer Familie zur Welt kommen, wo sich die Eltern
nicht gut verstehen, wo keine Harmonie ist."
"Das ist doch nicht so schlimm, denn ich muß ja nur an hier denken."
"Auch diese Erinnerung wird dir ausgelöscht. Du wirst allein sein
und die Einsamkeit kennen lernen in ihrer ganzen Bitterkeit. Du wirst dadurch
auch ein Einzelgänger sein, oft andere nicht verstehen und von anderen
nicht verstanden werden. Nur so kannst du später verstehen, wie es den
anderen geht. Und nur so kannst du ihre Herzen öffnen. Denn würdest
du sie nicht wirklich verstehen, würden sie dir nicht glauben."
Nun saß Aina doch ziemlich betroffen auf dem Sofa mit den bunten kleinen
Blüten in orange, rot, blau und sogar ein wenig grün. Und dem gelben
Punkt in der Mitte. Sie hörte das leise Klingen der Seepferdchen aus Alabaster
und es rann eine Träne über ihre Wangen. Da spürte sie, wie die
Fremde neben sie trat und ihr die Hand auf die Stirn legte. Angenehme Kühle
linderte ihre plötzliche innere Hitze und damit senkte sich auch Zuversicht
in sie. "Du wirst, auch wenn es schlimm ist, nie alleine sein, wenn du
nur immer gut willst. Vergiß nur einfach nie, den Funken an Liebe, der
in deinem Herz wohnt am Brennen zu erhalten. Dann wird für Dich immer in
den Stunden der Verzweiflung irgendwo ein Stern der Hoffnung am Himmel zu sehen
sein. Immer. Irgendwie. Unerwartet"
Aina hob den Kopf und blickte fragend zu der Frau hinauf, aus deren Augen ein
Strom von Wärme auf sie zukam. "Vertrau mir einfach. Vertrau..."
Ihre Stimme begann leiser zu werden und Aina erkannte eben noch, daß sie
sich von ihr entfernte.
Das Mädchen wachte auf. Sie war fast kein Mädchen mehr sondern würde bald eine junge Frau werden. Langsam wurde sie ihrer Realität wieder gewahr. Ihre Eltern waren nach Mitternacht betrunken nach Hause gekommen und hatten sich noch entsetzlich gestritten. Es kam ihr wieder in den Sinn, wie sie am Abend verzweifelt geweint hatte, weil sie nicht weg durfte, ihr 'Zuhause' als würgendes Gefängnis empfunden hatte, glaubte, daß sie aus dem Fenster springen mußte, um wieder Luft zu bekommen. Der Schmerz ihres Herzens war körperlich gewesen, pochend in ihrem Kopf, hatte ihre Brust zusammengeschnürt, so daß sie schließlich zu der versteckten Rasierklinge gegriffen hatte, um den übermächtigen Druck abzulassen. Doch die Linderung hatte nicht lange angehalten, sie war in die Verzweiflung und Wirrheit einer Sinnlosigkeit zurückgefallen und irgendwann spät in den Morgenstunden schluchzend eingeschlafen. Dann hatte sie geträumt.
Es war einmal eine Frau, die in einem Häuschen lebte, das aus Holz war, weit ab vom Dorf, am Rande einer kleinen Lichtung...