Vorurteile
oder
der Tag der Schmetterlinge

 

Hast du Vorurteile?
Nein.
Nein?
Nein!
Gar keine?
-
Wie?
Na ja...
Aha!
Viele?! Nein, also das sicher nicht!

Es ist einer von den Sommertagen, die man eher dem Herbst zurechnet. Die Wolkendecke ist zwar löchrig aber sie reicht von Horizont zu Horizont. Trotzdem: Ich muß wieder raus. In den letzten Tagen hat es teils heftig geregnet. Nördlich der Alpen gab es schwere Überschwemmungen. Das alles legt sich aufs Gemüt. Entsprechend ist auch meine Fahrweise; ich bin mehr in mir drinnen als an meiner Oberfläche, achtzig, neunzig Kilometer in der Stunde sind gerade recht. Ein richtiger Fünfeinhalblitertag sozusagen. Und das ist bei hundert PS und sechs Zylindern nicht viel.

In ausladenden, sanften Sprüngen frißt Akbar die Kilometer in sich hinein, berührt eben das Asphaltband unter sich. Es ist zwar Sommer, aber trotz der südlichen Breiten - ich hab mich für Slowenien entschieden - ist es kühl. Gemütlich rolle ich die paar Serpentinen hinunter, entscheide mich dafür, rechts abzubiegen. Durch das Tal mit den vielen schönen Kurven, dann vielleicht über den Vrsic-Paß zurück.

Nach etwa zehn Kilometern drehe ich um. Ich habe keine Lust zu dieser Strecke. Wenn es irgendwie machbar ist, dann gehe ich danach, wie mir zumute ist. Also fahre ich wieder an der Kreuzung vorbei, bei der ich vorhin eingemündet bin, vorbei weiter nach Süden. Hinter der Stadt kommt der kleine Parkplatz mit den zwei Bänken und dem Tisch aus Holz. Dort werde ich ein wenig über der Karte rätseln. Obwohl - ich glaube, der Platz ist heute nicht frei. Noch ein paar hundert Meter. Tatsächlich, besetzt. Also fahre ich weiter, immer noch in mir drinnen, leicht abwesend, mehr in Gedanken als draußen bei der Gegend. Die Wolken, teils dunkelgrau und mäßig drohend sind auch nicht dazu angetan, das zu ändern. Die Kurven verlassen eine nach der anderen in gleitender Abfolge das Feld des Rückspiegels. Meist fünfter Gang, sechzig bis siebzig Stundenkilometer, zwölf- bis fünfzehnhundert Touren. Akbar schnurrt verschlafen.

Als ich weiter nach Süden komme, über den Sattel, hinter dem sich ein überraschender und deshalb immer wieder Freude bereitender Weitblick aus der Höhe übers Land auftut, sehe ich, daß die Wolkendecke beginnt auszufransen und noch weiter südlich dem rein blauen Himmel das Revier überläßt. Verschiedene Gerüche streichen auf mich zu, ich komme etwas an die Oberfläche und gehe ihnen bewußt nach. Die Herkunft des Heuduftes ist nicht schwer zu erraten, liegen doch lange Wälle getrockneten Grases auf der Wiese neben der Straße. Im nächsten Ort umweht mich plötzlich ein seltener Geruch, wie frisch gewaschen, nach guter Seife. Etwas später zwischen Häusern hindurch riecht es nach Kloake, gleich darauf dringt der beißende Geruch eines großen Brennesselfeldes in meine Nase. Kurz später süßer Duft von Gartenblumen. Den Berg hinauf zuerst nach Fichten, dann nach Föhren und gleich darauf entströmt dem Wald der charakteristische Duft nach Pilzen.

Hier, weiter herunten, habe ich vor ein paar Jahren in dem weitläufigen Macchie- und Wiesengelände einen besonders schönen Platz entdeckt. Von der wenig befahrenen Straße geht es an einem dieser typischen Steinmäuerchen entlang, die das Land im Süden oft kreuz und quer durchziehen, dann über eine kleine Lichtung, noch mal kurz durch den Wald, um nun auf die zweiten Lichtung zu gelangen. Eine der bereits vereinzelten Wolken hat die Sonne freigegeben. Mein Kommen bringt die Natur in Aufregung, überall staubt es förmlich von verschiedensten aufgescheuchten Insekten. Heuschrecken suchen die Flucht, Schmetterlinge gaukeln in unstetem Flug über die Gräser. Ich wende Akbar, stelle den Motor ab, Zündung aus. Das T-Shirt hänge ich über das Windschild, genieße die Sonne auf der Haut und spaziere die Lichtung ab. Das Gras ist lang uns verflochten, weiße und pinkfarbene Lippenblütler, sperrige Disteln, hochbeinige Skabiosen, fast alle gut besucht von Bienen, Schmetterlingen, Hummeln, Käfern und Fliegen. Immer wieder zucken Grashüpfer aus dem dichten Gras. Ich schlendere zurück zu Akbar. Zwei, drei, ja fünf kleine Heufalter umgaukeln ihn, setzen sich mal hierhin, mal dorthin. Sie erkennen schnell, daß die heißen Teile ungesund sind und meiden sie. Ich beobachte sie eine Zeit lang, dann setze ich mich in den Sattel. Aus welchem Grund auch immer, Akbar steht senkrecht und das recht stabil, ich muß mit den Beinen keinerlei Kraft aufwenden, um das Gleichgewicht zu bewahren.

Die Sonne scheint nun durchgehend, ich bin hier im Schatten eines ausladenden Busches. Auch wenn man hier nichts von Zivilisation bemerkt, außer manchmal weit oben einem Düsenjet, ist es alles andere als ruhig. Der Luftraum ist dicht bevölkert. Ein Summen und Surren in allen Höhen- und Tonlagen, aus und in alle Richtungen. Dünnes Summen, feines Sirren, mit der ändernden Entfernung an- und abschwellend, Fliegen, Mücken, Bienen. Aus dem Gebüsch auf der anderen Seite das Schaben und Ratschen einer Grille. Von links vorne biegt, immer lauter werdend ein Käfer um die Ecke, zieht eine kühne Parabel mit sonorem Schurren an mir vorbei, um gleich wieder hinter dem Busch zu entschwinden. Eindeutig der fünfzehnhunderter Chopper im Parcours.

Ich sitze ganz ruhig, trotz der großen Betriebsamkeit wirkt die Stimmung einschläfernd. Ich lasse den Kopf auf die Brust sinken. Plötzlich spüre ich federfeines Krabbeln auf der Hand, öffne die Augen. Und traue ihnen nicht: Ein kleiner Heufalter sitzt auf meinem linken Handrücken und bohrt ganz eifrig mit seinem Rüssel in den Poren herum! Meistens spüre ich nichts, nur ganz selten fühlt es sich ein wenig feucht an. Ich freue mich sehr! Denn es hatte mich der Gedanke traurig gestimmt, hier, einerseits ein Stück Natur, andererseits als Fremdkörper zu sein. Ja, Fremdkörper, ist doch schon eine schlimme Sache. Wir haben es fertig gebracht, zwar einen Körper zu besitzen, der eindeutig ein Stück Natur ist, ihn aber völlig aus den Zusammenhängen zu reißen! Und nun sitze ich hier, auf einem Stück schwarz-weiß karierter Technik und muß erkennen, ein Außenseiter zu sein, so wie wir alle.

Und in diese Gedanken hinein kommt plötzlich so ein kleiner Schmetterling, setzt sich auf die Hand so eines Außenseiters, prüft deren Beschaffenheit und kommt zu dem Schluß, daß sie brauchbar ist. Biegt und rollt seinen Rüssel in alle Richtungen, spaziert dabei hin und her, hat manchmal zwar etwas Probleme mit den hohen Ästen der Haare weiter oben, nimmt aber sogar diese Störungen in Kauf, um seinem Genuß nachkommen zu können. Schert sich einen Dreck drum, ob er es hier mit einem Außenseiter zu tun hat, mit jemandem, auf dessen Motorrads Scheibe, Scheinwerfer, Gabel schon manche Verwandte aus ihrem unbeschwert gaukelnden Leben gerissen wurden. Kümmert sich nicht darum, auf der Hand eines jener Wesen zu sitzen, die für die systematische Vernichtung der Natur zuständig sind. Er erinnert mich irgendwie an jene Indianer damals, die den Weißen völlig arglos entgegenkamen, mit offenem Blick und ebensolchem Herzen. Auch wenn sie erfahren hatten, daß aus dieser Ecke nichts Gutes kommt. Trotzdem. Ob der Schmetterling sich denkt 'egal, ob es ein Mensch ist, Hauptsache er schmeckt'? Schmetterlinge denken nicht. Sagt man zumindest.
Aufgrund verschiedener Gegebenheiten hat mich das Kerlchen als besuchswürdig erklärt. Mensch hin, Mensch her, Tatsachen zählen. Schmeckt gut. Erschreckt mich nicht durch hektische Bewegungen. Also ist alles Ok. Kann durchgehen.

Wenn er ein Mensch wäre, der kleine Heufalter, dann würde er mich bestimmt nicht besuchen. Oder die Mohnblüte im Asphaltspalt. Sie würde sicher nicht wachsen, geschweige denn blühen. Denn sie hätten erkannt, daß man sich mit der Kreatur Mensch besser nicht zu eng auseinandersetzt, besser daran tut, Distanz zu bewahren. Aber sie haben keine Vorurteile. Der Schmetterling. Die Mohnblüte. Und all die anderen. Und mit einem Mal wird mir bewußt, daß wir randvoll gepfropft sind mit Vorurteilen. Nein, wir benutzen unser Denkvermögen nicht nur zum Be-urteilen, sondern wir ver-urteilen. Und das auch noch vorschnell.

 

Was sind Vorurteile eigentlich? Aufgrund irgendeiner Erfahrung, die wir irgendwann einmal gemacht haben, haben wir etwas beurteilt. Nun neigen wir dazu, Automatismen aufzubauen. Ohne diese kämen wir auch nicht zurande, denn wir gerieten ordentlich in Streß, wenn wir jedesmal überlegen müßten, wie man ißt, wie man schreibt, wie man eine Tür aufmacht oder die Hand gibt. Aber genauso, wie wir hier diese Lernfähigkeit nützlich einsetzen, wendem wir sie auch auf Gebieten an, wo sie nichts verloren hat. Weil einem einmal in Italien das Auto ausgeräumt worden ist, sind deshalb ja nicht alle Italiener Halunken. Weil der Bekannte eines Bekannten bei einem Motorradunfall ums Leben kam ist deshalb Motorradfahren nicht unverantwortlich gefährlich. Weile eine Kassiererin in dem Supermarkt unfreundlich war, sind es deshalb nicht alle. Nicht alle Chefs sind Blutsauger, nicht alle Beamten Nichtstuer, nicht alle Fahrer schwarzer Audis rücksichtslos und so weiter. Selbst wenn Beurteilungen bei einem großen Teil einer Gruppe oder einer großen Anzahl vergleichbarer Situationen zutreffen, dann muß es noch lange nicht immer sein. Aber aus Bequemlichkeit neigen wir dazu, nicht jeweils wieder die aktuelle Situation zu beurteilen, sondern uns das Leben mit einemn pauschalen Urteil zu erleichtern. Erleichtern?

Ein befreundetes Paar lebt nun schon seit zehn Jahren zusammen. Es ging wie so oft: Die Beziehung war am Anfang gegenseitige Begeisterung pur und wurde im Lauf der Jahre immer schlechter. Nun ist wohl Trennung angesagt. Das ist ja nichts Neues oder Seltenes. Aber interessant ist daran folgendes. Der Hauptgrund für das Auseinanderdriftens sind die unterschiedlichen Interessen. Seine Welt ist Alltägliches, der Beruf, das Auto, hie und da Arbeiten am Haus, seine Kollegen und der Stammtisch. Sie hingegen geht gern ins Theater, liebt es, sich mit Leuten über Esoterik zu unterhalten, besucht Lesungen und stöbert in Buchläden. Zu Beginn hörte er ihr ja auch zu, wenn sie von Buddhismus oder den alten Griechen sprach, ging auch mal mit zu einer Vernissage. Das unterschiedliche Interesse fiel am Anfang natürlich kaum ins Gewicht. Aber im Laufe der Jahre fühlte sie sich immer einsamer und verlassener, trotz ihres Bekanntenkreises. Denn ein Partner ist eben doch etwas anderes. Jetzt steht das ganze vor dem Aus. Und nun kommt das Interessante. Vor nicht allzu langer Zeit hat er begonnen, sich mit Literatur auseinanderzusetzen, hat den Stammtisch auf einmal pro Monat reduziert. Hat hie und da ein Buch gelesen, die sie auch liest. Hat einen Theaterbesuch vorgeschlagen. Nun sollte man meinen, daß sie darüber sehr erfreut gewesen wäre? Als ich sie kürzlich fragte, wie es denn so mit ihnen so gehe, kam die Antwort: 'Ich halte das nicht mehr aus, ständig beschäftigt sich Mark nur mit seinem Auto, seinen Kollegen und ich verhungere in der Beziehung innerlich komplett.' Hmm..

Das sind wohl die schlimmsten Vorurteile, wenn wir uns eine Meinung über jemanden Nahestehenden gemacht haben und ihm dann nicht zugestehen, sich zu ändern. Wenn wir ihn stets so sehen wie er zu dem Zeitpunkt war, als wir uns die Meinung gemacht haben. Nicht nur daß diese Vorurteile viel zerstören oder Zerstörtes nicht reparieren lassen, sondern wir behindern den anderen dabei, nehmen ihm vielleicht sogar die Möglichkeit sich zu ändern, indem wir ihn immer wieder in die alte Rolle zwingen.

Je mehr Vorurteile wir in uns entdecken, umso starrer sind wir. Ein Maßstab. Umso weniger geneigt, das Hier und Jetzt so zu sehen, wie es ist. Nicht wie es vielleicht einmal war. Einmal mehr geht es um Beweglichkeit. Darum, bewußt der Situation gemäß zu handeln. Nur wenn wir uns ständig und immer bemühen, alles bewußt zu sehen, unseren Nächsten und unser Nächstes immer von Neuem mit Augen zu betrachten, die ihn bzw. es noch nie gesehen haben, nur dann wird es uns gelingen, das abzubauen, was soviel Kälte in unser Leben bringt und soviel zerstört.

Es ist schon viele Jahre her, als ich die ersten Male nach Slowenien gefahren bin. Den ersten Kontakt mit dessen Leuten hatte ich, logischerweise, an der Grenze. Nachdem mir die Zöllner alle drei ersten Male den Paß nach der Begutachtung mit solch einer Überheblichkeit zurückgaben, daß sie ihn mir auch gleich hätten vor die Füße werfen können, habe ich mich jahrelang nicht überwinden können, dorthin zu fahren. Irgendwann ist es mir dann doch gelungen. Die Motorradstrecken in Slowenien sind landschaftlich wunderschön. Es gibt tolle Kurvenstrecken. Wenig befahren. Und ganz in der Nähe. Schade um die Jahre dazwischen...