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Vorwort (heißt so, damit´s niemand liest)
Ich habe mir vorgenommen, ein Buch zu schreiben. Grund dieses Vorhabens
ist eine Anzahl von nahezu unglaublichen Ereignissen, die in ihrem
Umfang zu brisant für meinen kleinen Kopf sind. Das ist die Ursache,
die mich dazu zwingt, sie in Form eines Buches niederzuschreiben.
Genaugenommen sollte es ein Roman werden, aber da ich nicht den
geringsten Schimmer habe, wie sich ein Roman schreibt, ist schon
der Anfang zum Scheitern verurteilt. Ein Roman, der mit "Ich" anfängt?!
Erste Person singular, wie egozentrisch. Genauso abwegig wäre es
allerdings, in der ersten Person plural zu schreiben: "Wir haben
uns vorgenommen, ein Buch zu schreiben." An dieser Stelle muß ich
zugeben, daß ich soeben mein Buch aus der Hand legen mußte, um mich
anhand eines Lexikons erst einmal über diesen Herrn Plural weiterzubilden.
Eine Seite hinter Plowdiw (bulgar. Stadt an der Maritza) finden
sich zwei Pluräle. Natürlich, schließlich ist der Plural ja der
Numerus der Mehrzahl. Vielleicht sollte ich mal unter S nachschlagen,
um zu zählen, wie viele Singulare es gibt. Ja, das sollte ich tun!
Einen Moment bitte......(Mach Dir mal einen schönen Nachmittag,
indem Du mit Gleichgesinnten durch die Straßen Deiner Stadt ziehst
und dabei der Reihenfolge nach die Wörter skandierst, die im Fettdruck
in den oberen Ecken der Seiten Deines Lexikons stehen. Passanten
werden sich sicher positiv und lobend über die Art Deiner Schulbildung
äußern.)... Tatsache: es gibt nur einen Singular. Nein, Fehlanzeige,
eigentlich gibt es zwei; oder besser: eine Steigerung des Singulars.
Die geistigen Eltern des Singulars waren sich ganz bestimmt über
die Härten des Lebens eines Einzelkinds im klaren, so daß sie ihm
nachträglich einen großen Bruder zur Seite stellten. Na wahrscheinlich
war´s mehr so ein Stiefbruder. Der große Bruder des Singulars heißt
Singularetantum. Er paßt nun einzig und allein, besser singulär
darauf auf, daß niemand Wörter, die nur im Singular vorkommen, verschandelt,
in den Dreck zieht oder böswillig deformiert. Beispiel: Adel, Obst,
Gold. Vielleicht wäre es ganz spaßig, dem großen Singularetantum
mal in die Eier zu treten. Also los, auf Drei! Eins-Zwei-Drei:
Mehrzahl von Adel = Adele oder Adels (bei Adels Zuhaus´). Mehrzahl
von Obst? Obstler, Öbste. Mehrzahl von Gold? Zwei Gold. Oha! Schluß
damit. Zurück zum natürlichen Feind des Singulars, dem Plural. (Eine
sehr traurige Vorstellung. Ich fürchte der Singular kriegt ständig
eins übergebraten, schließlich steht er alleine da, während der
Plural gleich in der Mehrzahl anrückt. Also zurück zum Plural, wobei
ich mich zunächst korrigieren muß: es gibt nämlich mehr als zwei
Pluräle, insgesamt vier: den gemeinen Plural und seinen großen Bruder,
den Pluraletantum. (Gut aufgepaßt? Dann versuch mal den Singular
von Leute oder Ferien zu bilden. Ha! Sofort kommt der Pluraletantum
um die Ecke und schreit Zeter und Mordio oder Schlimmeres.)
Wohin habe ich mich denn nach so kurzer Zeit schon verrannt? Ich
werde mich wohl am Faden der Erinnerung durch das Labyrinth meiner
Ideen zurückhangeln müssen. Jenun: In meiner Aufzählung der Pluräle
will ich über die beiden Interessanteren berichten. Die Aufgabenstellung
war ja diese, daß ich mich fragte, in welcher Form ich über das
Erlebte berichten soll. Und siehe da, es haben sich schon vor mir
kluge Geister Gedanken über diese Form gemacht. So gibt es zwei
Formen, die möglich wären: den Pluralis majestatis (lat. "Plural
der Majestät"), eine Bez. für die Verwendung der ersten Person
plural statt der ersten Person singular zur Selbstbez. regierender
Herrscher ("Wir, Wilhelm von Gottes Gnaden dt. Kaiser"). Und es
gibt den Pluralis modestiae (lat. Plural der Bescheidenheit) (Autorenplural),
Bez. für die Verwendung des Plurals statt des Singulars für die
eigene Person ("Wie wir früher gezeigt haben"), um die eigene Person
zurücktreten zu lassen.
Ich denke, den ersten Plural überlasse ich ruhig größenwahnsinnigen
Despoten. Sollen die sich doch damit bloßstellen! Aber probieren
wir mal diesen Pluralis modestiae aus. Ach was, der taugt auch nichts.
Der ist mehr was für wimmernde, kleinwüchsige, feige Autoren.
Die erlebten Ereignisse habe ich erlebt, nicht wir. Sie sind ferner
von einer solchen Dringlichkeit und wurden nur einem winzigen Kreis
von Eingeweihten zuteil, daß es nur logisch ist, in der ersten Person
Singular zu schreiben. Außerdem hat sich der Leser schon seit den
ersten Sätzen an diese Darstellungsweise gewöhnt. Ein Wechsel hätte
jetzt einen längeren Umdenkprozeß zur Folge.
(Eine Seite hinter Plural findet sich das Wort Plusquamperfekt.
Bedenke ich jedoch, daß ich schon seitenweise über den Plural doziere,
so lasse ich dieses Plusquamschrammschramm besser links liegen auf
diesem kurvenreichen Weg über die Zeilen.)
Somit sind alle Formalitäten geklärt, und ich kann mit der Aufzählung
meiner Erlebnisse beginnen, die so folgenschwere Veränderungen brachten,
mich noch heute so nachhaltig belasten, daß ich nicht umhin kann,
das Erlebte niederzuschreiben, in der vagen Hoffnung, einen Leser
zu finden, der mit mir die Last meiner Sorgen teilt.
Diese schriftliche Form der Erinnerung ist ebenso die Reaktion auf
zahllose nutzlose Gespräche mit Menschen, denen ich meine Geschichte
nahebrachte. Hätten sie nicht in der Mehrzahl mit blankem Unverständnis
reagiert und wäre nur ein Bruchteil meiner Worte ohne Kopfschütteln
aufgenommen worden, so bräuchte ich diese Zeilen nicht niederzuschreiben.
Ich habe mehr als einmal versucht, Freunde, auch sehr intime Freunde,
in meine Geheimnisse einzuweihen, mit dem Fazit, daß sie mir nicht
glaubten und sich schlimmstenfalls von mir abwandten.
(Doch nun genug des Selbstmitleids, es ist Zeit zu beginnen.) (Wenn
das hier noch ein Buch werden soll, sollte ich mit den Klammern
aufhören!) (Eine noch!) (Und noch eine!) (Vielleicht sollte ich
einfach eine Klammer aufmachen und am Ende des Buchs wieder zu,
das wäre dann eine Art Endlosschleife oder Ursupatorklammer...)(
1. Kapitel: Day in, day out
Zeit meines Lebens lebe ich in diesem westfälischen Oberzentrum
Münster, einem Freilichtmuseum von Stadt. Das soll durchaus keine
negative Wertung sein. Nein, ich fühle mich in dieser Stadt wohl
wie ein Bär in seiner winterlichen Höhle. Genauso geruhsam läßt
es sich hier leben. Man sagt meinen Mitmenschen hier einen gewissen
Hang zur Behäbigkeit nach. Etwas, was sie mir nur liebenswerter
erscheinen läßt. Es lebt sich hier wie im Auge eines Orkans. Gleichsam
beständig verläuft das Leben meiner Stadt. Zeugnis ihres unerschütterlichen
Gleichmuts gaben seine Bewohner, als sie die in zahllosen Detonationen
der Bombennächte des letzten großen Krieges atomisierten Häuser
ihrer Stadt so wieder herrichteten, als sei nichts geschehen. (Viele
vergaßen darum auch, was geschehen war). Original bis ins klitzekleinste
Detail steht nun alles wieder da, eben ein taubenverschissenes Freilichtmuseum.
Der Vorteil der Sturheit dieser Menschen ist der, daß man sich,
als ein so lethargischer Mensch wie ich, durch eine Art Mimikry
prima zwischen ihnen aufhalten kann. Ouha, sollte ich mich da eventuell
als Opportunist entblößt haben?! Gottlob bin ich noch soweit geistig
rege, daß ich einen offenen Disput nicht scheue, zumal sich in dieser
Gesellschaft viele Knackpunkte bieten. Ich bräuchte mir nur einen
Burschenschaftler greifen , ihn schütteln und rufen: "Ich pinkel
Dir in Dein Bücherregal, Du dreckiger Revanchistenarsch."
Schon wäre eine feine politische Diskussion im Gange. Ich fürchte,
daß es dabei in Folge weder bei ihm noch bei mir zu einer positiven
Meinungsbildung kommen würde. Ich täte das also nur, um zu beweisen,
daß ich eben kein Opportunist bin. So ähnlich würde ich es dem Burschenschaftler
auch erklären, sollte sich unsere Zwiesprache denn in einer Sackgasse
befinden. Der würde sagen: "Ach, wenn das so ist...", würde sein
saublödes Käppi zurechtrücken, an seiner verschwitzten Schärpe zupfen,
mit seinem Säbel klappern, um Zünftigkeit zu beweisen und dann hoffentlich
verschwinden. Ich würde wohl noch so was denken wie "Scheiße fressen!"
oder ihn vor meinem geistigen Auge treten. Aber das tue ich immer,
wenn ich Burschenschaftler sehe, von denen es in meiner Stadt so
viele gibt wie anderswo Ratten.
Wenn ich schon bei der Selbstdarstellung bin, sollte ich dem Leser
auch alles offenbaren. Also: Mein Geschlecht ist männlich und von
zufriedenstellender Größe. Ich bin Mitte zwanzig und trage mein
dunkles Haar mittellang. Eingerahmt von herzhaften Lachfalten und
einer obligaten Sehhilfe blinzeln zwei angeblich hübsche, braune
Augen ins Leere, deren Schönheit jedoch wenige Zentimeter tiefer
von einem Doppelkinn und reichlich gelben Zähnen kompensiert
wird.
Mein Charakter läßt sich als herzensgut, aber völlig disziplinlos
beschimpfen. Mein vorheriges Leben in wenigen Worten: Nach einer
chaotischen und wenig erfolgreichen Schulausbildung, deren Abschluß,
die "Hochschulreife", ich mir gegen Ende irgendwie erschlich, lungerte
ich zunächst zwanzig Monate im Auftrage Vater Staats im Krankenhaus
herum und stellte dumme Fragen. Sowas nannte sich damals Zivildienst,
war im Großen und Ganzen wenig zivil, jedoch immer noch ziviler
als das völlig sinnfreie Soldatentum, womit der Name Zivildienst
doch schon irgendwie taugt.
Im Anschluß versuchte ich eine erfolglose berufliche Exkursion ins
grafische Gewerbe; erfolglos nicht aus mangelndem Können heraus,
sondern wegen meines herzensguten, ehrlichen Charakters, der in
dieser Branche scheinbar wenig gefragt ist. So entschloß ich mich
im Laufe der Jahre für ein Studium einer der Naturwissenschaften,
von denen ich ungefähr soviel verstand wie der Papst vom Kindermachen
(Ich bewies auch ungefähr dessen Lernfähigkeit darin). Hemmschuh
beim schnellen, zielstrebigen Vorankommen in meinen Studien ist
nicht zuletzt mein großer Freundeskreis und die uns gemeinsame,
hiesig oft anzutreffende Lust am Saufen.
Warum auch schnelles Vorwärtskommen? Warum machen sich nicht viel
mehr Menschen bewußt, wie wenig es doch zum Leben braucht! Ein Dach
überm Kopf, ein Bett, etwas zu Essen und eine Liste zehn wichtiger
Dinge, die sich jeder Leser selbst aufstellen mag.
Nichts ist schöner als ein geruhsamer Weg durchs Leben, nichts dümmer
als bornierte Zielstrebigkeit.
Was macht man denn da am Ziel? Gibt es überhaupt einen Fixpunkt
wie ein Ziel oder handelt es sich nicht eher um eine Art mobiler
Phase, der man endlos hinterherrutscht? Einem Gel, das in den Händen
zerrinnt, das man sich vielleicht hilflos ins Gesicht schmieren
kann. Aber ich frage mich ernsthaft: Wie, um Gottes willen sieht
man denn dann aus? Was macht man mit dem erreichten Ziel? Ein neues
suchen? Wortwörtlich eins höherstecken? Sterben? Sind meine Ziele
überhaupt die richtigen? Und was schwerer wiegt: Wieviele Menschen
erreichen ihr Ziel nicht?! -Scheitern,-Verlieren,-Versagen?!- Wer
macht die wieder glücklich? Ach was, denen geht es ja noch glänzend
im Vergleich zu denen, die niemals eine Chance hatten, sich ein
Ziel zu setzen. Gibt´s nichts Unwichtigeres als persönliche Ziele.
Gäb´s nicht wesentlich viel mehr glückliche Menschenskinder, wenn
man ihnen sagen würde: "Hey, nimm Dich selbst nicht zu ernst!" oder
"Du mußt lernen, mit Schicksalsschlägen zu leben! Du wirst wesentlich
öfter verlieren als gewinnen!" Oder "Fang schon mal an zu üben!
Ich nenn Dich Arschkrampe, und Du bedankst Dich dafür!".
Fazit: Drehen wir den Knopf der eigenen Zielstrebigkeit auf "Null".
Lassen wir uns treiben und lesen (schreiben) wir weiter.
Ziel meiner Aufreihung ist die Schilderung meiner Person, was für´s
Erste, wie ich meine, schon ganz gut geklappt hat.
Nun ist es Zeit zu beginnen:
Stell Dir vor, es ist ein Herbstabend, ein knackig kalter, feuchter
Herbstabend, dessen Kälte Dir in Deine Glieder zieht. Es ist nebelig,
kurz nach zehn Uhr abends und stockfinster. Ich liebe solch ein
Klima.
Den Sommer kann ich nicht leiden. Brütende Hitze macht mir dann
die Glieder und das Denken schwer. Die Sonne brennt auf der Haut
und in den Augen. Das Atmen wird flach und flacher. Wenn dann noch
eine Horde alberner Gleichaltriger vorbeikommt, voll Schweißgeruch
vom hirnzerstörenden Sonnenbad, hektisch tut und sich über das "schöne
Wetter" freut oder drüber wie "schön braun" doch alles wird, rufe
ich: "Zum Baggersee mit Euch, Ihr Kroppzeug. Laßt euch Euer Hirn
wegbraten", ferner: "Schön ist ein Wetter nicht, wenn ich drunter
leide, und braun sind die Hemden eurer Großeltern". Dann denke ich
mich in die klamme Behaglichkeit eines Herbstabends, eben einen
solchen wie den, von dem ich jetzt berichten will.
Meine Stadt bietet übrigens den Vorteil, daß sie für solcherlei
ruppiges Wetter prädestiniert ist.
Ein weiterer Grund, mich hier wohl zu fühlen, ist daß ein Teil seiner
Bewohner die vermeintlichen Vorteile des Automobils strikt ignoriert
und als einzig wahres Fortbewegungsmittel das Fahrrad akzeptiert
und benutzt, so auch ich an diesem Abend. Rekapitulieren wir die
Ausgangssituation dieses Buchs: Ich schreibe in der ersten Person
singular, es ist Herbst, es regnet, ich fahre Fahrrad.
Ein antikes Rixe-Herrenrad mit langem Oberrohr, Ledersattel, chinesischer
Klingel, schwarzem Lack und einem surrenden Dynamo, der meinen abblendbaren
Scheinwerfer zum Leuchten bringt. Meine Haltung ist aufrecht, das
Tretlager rotiert reibungsarm, und das Rücklicht ist defekt. Ich
liebe dieses Fahrrad. Jedes Teil ist individuell von mir ausgesucht
und angebaut worden. Alle anderen meiner Räder hat es über Jahre
überlebt: Zwei nutzlose, wenig robuste sogenannte "Mountain-Bikes",
ein Rennrad, ein Tourenrad. Alles erwies sich als Schrott. Nur mein
altes Herrenrad verbindet Robustheit mit sportlicher Eleganz. -Der
Markenräder Spitze, das ist ein Rad von Rixe.-
Ähnliche Liebe zum Qualitätsbewußtsein vorheriger Generationen beweise
ich auch bei der Wahl meiner Kleidung. Sie ist ererbt, gebraucht
zugelegt oder höchst preiswert erstanden. Sie erzeugt fortwährend
einen Eindruck unterschwelliger Nonkonformität genauer: Lässiger
Zerstreutheit.
Der Witterung entsprechend trage ich (von oben nach unten): Eine
von der Großmutter für irgendeinen Verwandten väterlicherseits gestrickte,
schwarze Wollmütze. Über meinem Leibchen trage ich ein derbes Hemd
(gebraucht), darüber einen schwarzen Wollpullover (erschlichen),
darüber wiederum eine kurze, braune Lederjacke, deren linker
Ärmel zur Hälfte so abgerissen ist, daß er nur noch locker an der
Schulter hängt (ebenfalls gebraucht). Ein in Achselhöhe abgerissener
Ärmel verhindert zwar ein übermäßiges Transpirieren meines linken
Armes, könnte aber im Alter zu Rheuma führen. Zur prophylaktischen
Abwendung rheumatischer Beschwerden trage ich über der Lederjacke
noch eine grobe Jeansjacke (schwarz, relativ teuer, jedoch über
fünf Jahre alt). Eine knappe U-hose verhindert leider nicht ein
leichtes, schmerzhaftes Frösteln meiner jetzt sehr schrumpeligen
Gonaden. Über meine Schenkel habe ich eine zugige Nieten-Baumwollhose
geschlenzt (schwarz, mit Beulen), Socken, natürlich. Ein paar braune
Wildlederschuhe schützen meine Füße vor Feuchtigkeit. Ein netter
Professor empfahl sie mir während einer Exkursion ins spanische
Küstengebirge. Meine alten Stiefel hatten diese boykottiert, indem
sie damals auf zweitausend Metern Höhe eine Sohle verloren. So mußten
wir, dreizehn Studenten, zwei Professoren, die lange geplante Wanderung
abbrechen, in einen nahegelegenen Marktflecken umkehren und Schuhe
kaufen. "Only twenty Deutschmarks! The japanese army wore them during
the second world war," pries mein Professor das einzig erwerbbare
Paar Schuhe an. "Fine, but they lost that war," antwortete ich.
Irgendwie hatte ich da den Eindruck, daß der Gute im Folgenden etwas
sauer war. Zur Sühne trage ich diese Schuhe nun immer noch.
Um ehrlich zu sein wirkt meine Kleidung so, als könnte ich mein
nächstes Bier nicht mehr zahlen. Widme ich mich also besser wieder
dem Radfahren.
Du, lieber Leser, sollst an dieser Stelle nicht glauben, daß das
Radfahren eine sportliche Marotte ist, ein Faible, schrulliges Hobby
oder Zeitvertreib. Nein, schon früh habe ich mich von der Nutzlosigkeit
eines eigenen Autos überzeugt und es damals schnell wieder abgestoßen.
In meiner Stadt benutze ich nun, wie zehntausende Anderer auch,
das Fahrrad als tägliches Transportmittel. Seinen Platz neben oder
besser vor dem Auto werde ich mir notfalls blutig erkämpfen. Nichts
ist schöner, als einem armen, gestauten Autofahrer im Vorbeifahren
aufmunternd aufs Dach zu klopfen. Hei, wie der sich erschrickt.
"Komm heraus aus Deiner lärmgedämpften Zelle, lerne hinzunehmen,
daß jemand Deinen Fetisch berührt, beweg Dich, tue den ersten Schritt
weg vom Auto, Du bist nicht allein!" Das, in ungefähr, wären wohl
die Worte eines alternativen Oberstudienrats für Physik und Reli.
Ich jedoch würde mich wohl nicht so geschwollen, eher hart und schmutzig
ausdrücken und hab´s außerdem heute eilig.
Geben wir (Pluralis modestiae) meiner Radtour einen Anfangs- und
Endpunkt, ergo eine Richtung. Anfangsort ist die Stelle der Tätigkeit
meines Broterwerbs, Endpunkt wird die Negation des Geldverdienens
mit sich bringen: der abendliche Kneipenbesuch. Flink wie eine Mehlschwalbe
fliege ich zwischen den Häusern meiner Stadt umher.
Radfahren läutert den Verstand, gibt Dir Gesundheit, heitere Gelassenheit
und einen strammen Po (zur Erbauung weiblicher Blicke). Du wirst
Dir Deiner Ausdauer bewußt und lernst die Elemente zu lieben, indem
Du ihnen trotzt. Mit einiger Übung redest Du mit dem Wind. Solcherlei
Träumereien nachhängend erreiche ich den "Schluckspecht" (der heißt
wirklich so und ist ein toller Name für eine Kneipe in der Realität.
In einer fiktiven Geschichte würde man "Schluckspecht" jedoch für
eine alberne Effekthascherei eines senilen Autors halten. Mein "Schluckspecht"
ist jedoch so reell, wie ich ihn nur wahrnehmen kann).
Für Auswärtige: Der "Schluckspecht" befindet sich in der Jüdefelderstraße,
ist dezent beleuchtet und bietet angenehme Unterhaltung bei moderater
musikalischer Beschallung in Staubsaugerlautstärke (Hoover, 1968,
Lagerschaden).
Drinnen warten auch immer ein paar nette Kumpane auf Dich. Johlend
heißen sie Dich an, an ihrer Kumpanei teilzunehmen. Genauso johlend
bestellst Du Dir den ersten Halben und schiebst Dich vermittels
eines angeberisch vorgestreckten Bäuchleins in eine Ecke. Weitere
Schilderungen werde ich dem Leser erstmal vorenthalten. Ich habe
hier etwas Zeit, zu erwähnen, daß ich trotz anachronistischer Kleidung,
Fortbewegungsmittel und rüdem Umgangston durchaus ein Kind des späten
ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen Videorekordern,
Faxgeräten, Großrechnern, Fernsehern, Fernreisen bin. Vielleicht
ist der Grund für mein Vorliebe für alles Alte, Derbe, Gebrauchte
eben eine Absage an die Wichtigkeit dieser Dinge. Nun, ich benutze
viele dieser Dinge, aber essentiell sind sie alle nicht. Mach Dir
das jeden Tag klar! Generationen von Menschen mußten ohne Funktelefon
leben, verpassten ohne Video die wichtigsten Fernsehsendungen, konnten
sich keine Werbung faxen und sich nicht auf Fernreisen selbsterfahren
(Wer meint, sich auf Fernreisen, möglicherweise auch noch in Hungerländern,
selbstverwirklichen zu müssen, verwirklicht sich als Arschloch!
Hiergeblieben, trag Dein Kreuz selber, Du Göre! Denk an die armen
Schweine, die sich nicht mal Deine bunten Trekkingschühchen leisten
könnten).
Apropros Schweine, machen wir eine kurze Stippvisite im "Schluckspecht",
einen kleinen Sprung über vier Halbe hinweg und sehen wir zu, was
passiert (pluralis modestiae, da war er wieder!).
Meine Laune ist auf dem Höchstpunkt, meine Augen glänzen, die Wangen
glühen. Soeben beginnt Tom, ein guter Freund von mir, eine Diskussion
über den Wert einer 16 mm Tonfilmkamera zur Realisation eines sehr
schönen, weil sinnfreien Filmprojektes. Wir rauchen, bestellen uns
zwei Halbe und fachsimpeln angeregt die nächste halbe Stunde über
dieses Thema. Zeit, sich wieder auszublenden.
Vier schwere Halbe später: Mein Blick ist glasig, die Laune glänzend,
nur habe ich leider ein wenig den Kontakt zur Außenwelt verloren.
Ich bin geistig geschrumpft. Mein Geist sitzt circa fünf Zentimeter
groß in der hinteren Schädelecke herum und betrachtet interessiert
die fahrigen Bewegungen meines Körpers durch die Scheiben meiner
Pupille. Dort, im Halbdunkel sitzend, rät er mir, jetzt besser zu
gehen. Ich verabschiede mich in einer mir noch möglichen Art mit
"Wieherschen" und ernte ein kollektives "Wieherscheeen". Na fein,
Zeit zu gehen! Ich öffne mein Fahrradschloß, schließe es versehentlich
wieder ab, und öffne es dann endlich ganz. "Das Schloß bloß nicht
wieder über die Schulter wegwerfen, wie das letzte Mal!" denkt sich
mein Geist. Mit einigem Bandenspiel an den Autos schaffe ich den
Weg aus dem Kuhviertel. Ich überquere den Ring, die kalte Luft macht
mich nüchtern. Um in meinen Ortsteil zu kommen, muß ich circa fünfhundert
Meter über eine unbeleuchtete Landstraße. Ich liebe diesen Anachronismus.
Fünf Minuten mit dem Rad, und ich stehe zwischen Wäldern und Wiesen.
Die Luft ist hier so klar, daß man die Sternbilder sieht, heute
jedoch ist es neblig. Ich bleibe mehr schlecht als recht auf dem
Fahrradweg. Auf der Höhe des Ausläufers eines kleinen Wäldchens
zur Rechten, nähern sich von vorne zwei Scheinwerfer. "Scheiße,
die Bullen!" denke ich, aber das denke ich immer, wenn mein Rücklicht
im Eimer ist. Dabei wäre ein Streifenwagen jetzt das kleinere Übel
gewesen: Der Wagen schaltet sein Fernlicht ein und hält auf mich
zu. "Du Sau!" brülle ich geblendet. Das muß der Fahrer wohl gehört
haben, denn er benutzt nun mit seiner linken Fahrzeugseite auch
noch den Radweg, wobei er reihenweise Begrenzungspfosten aus Plastik
umnietet. Ich schlingere, rufe "Gottverfickte Scheiße!" und segele
in den brusttiefen Straßengraben. Ich hör´s noch hupen und sause
dann mit der Fontanelle auf einen Feldstein.
Als ich zu mir komme, denke ich zuerst "Na fein, immer dasselbe!".
Dann denke ich auf einmal ganz schnell "Ouauaha!", fummel an meinen
Beinen herum und ziehe mir fünf Zentimeter einer Edelstahl-Fahrradspeiche
aus der Wade. Als ich versuche, die Böschung hinaufzurobben (natürlich
auf der falschen Seite), bemerke ich, wie sich auf der richtigen
Seite zwei Schatten aus dem Wald lösen, die Straße überqueren und
auf mich zugehen.
Fortsetzung folgt.... (...e leider nie)
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