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Außer
den Deckarbeitern und uns ist niemand da, von dem man abschauen könnte,
wo es hinausgeht. Die drei Landsleute haben sich zu mir gesellt und so
nehmen wir gemeinsam die nächst verfügbare Türe. Eine enge
Stiege aufwärts, einen noch engeren Gang entlang. Links und rechts
machen die Wände den Eindruck, als hätten sie riesige Löcher,
die mit Polyester zugekleistert worden wären. Erinnert mich ein wenig
an die Fähre in Kroatien, auf der man unter dem flüchtig aufgepinselten
Namen noch das Relief chinesischer Schriftzeichen sehen konnte. Vielleicht
war sie in Hongkong aus altersgründen ausgemustert worden... Aber
als mitteleuropäisch-penible Landratte sieht man solche Dinge natürlich
viel zu verklemmt und deswegen werden die zweifelnden Schatten auch gleich
von den sommerlichen Urlaubsgefühlen aufgelöst. Schließlich
finden wir denn doch den offiziellen Aufgang, der sogar mit einer Rolltreppe
aufwartet. Allerdings ist sie außer Betrieb.
Vor dem Eingang zur Lounge ein Tischchen
mit einem blau und weiß uniformierten Griechen, der den in Schlange
anstehenden ihre Kabine weist, nachdem sie in der Bordliste abgehakt worden
sind. Uns, die wir nur eine Deckpassage haben, weist er gleich mit einer
recht desinterssierten Handbewegung ins Ungewisse weiter. Ein paar Schritte
über den dicken Teppichboden, ein kräftiger Druck gegen die
bulläugige Türe, die Hitze schlägt uns entgegen krasser
Kontrast zur klimaanlage-temperierten Innenluft. Es ist etwa 14 Uhr, und
das Schiffsmetall brütet. Nach einer kurzen Inspektion haben wir
uns für zwei Bänke entschieden, die etwas weiter auseinander
stehen. Selbst noch so sehnsüchtige Rundblicke zeigen mir keinen
freien Liegestuhl, wie ich ihn mir beim Begriff 'Deckpassage' vorgestellt
hatte. Wie es dem Recht geschieht, der mit Erwartungen in die Zukunft
wandert und diese dann von der Gegenwart zerknittert sieht, schwindet
auch meine dahin, die aus einer Liege bestanden hatte, nur einer ganz
einfachen, mit einer - wenn auch ruhig billigen - aber so doch wenigstens
Stoff-Bespannung, irgendwo an Deck, wo man sich dann später, etwas
windgeschützt, hätte zum Schlafen zurückziehen können.
Denn man hat doch, wenn auch bedeutend weniger, aber eben doch bezahlt...?
Die Ernüchterung ist herb und wie sich später herausstellen
soll, zusätzlich hart.
Kaum
haben wir uns niedergesetzt, ziehen meine Kollegen ihre Bikerstiefel aus
und beginnen, sich häuslich einzurichten. Ich habe eben mal mein
Tankrucksäckchen, die Fototasche und die Lederjacke mitgenommen,
zu wenig an Hausrat, ums über vierundzwanzig STunden lang gtemütlich
zu haben. So lange wir noch am Kai liegen, kann man ja noch zu seinem
Fahrzeug, so mache ich mich also, kaum angekommen, wieder auf den Weg.
Das Vorhaben erweist sich abber als gar nicht so einfach. In der Zwischenzeit
haben sich noch ein paar Trucks eingefunden, die Fahrer aller Einpark-Weltmeister
und außerdem wohl optimal schlank, denn wie sollten sie aus ihren
Boliden herausgekommen sein und sie später dann wieder erklettern,
ohne daß ihr Nebenmann wegfährt. So werkel ich mich durch das
Labyrinth vor-link-rechts-vor... bis ich schließlich angelangt bin.
Natürlich sind die Sandalen nicht leicht erreichbar, sondern in der
einen Satteltasche recht weit unten (Naturgesetz). Als ich geraume Zeit
später wieder durch die bulläugige Türe auf das vor Hitze
wabernde Deck trete, fällt mir ein, daß etwas zu lesen für
die Nacht wohl ganz praktisch sein könnte. Labyrinthgang die Zweite.
Und es wird sogar Labyrinth die Dritte: Das Griechischbuch kann nicht
nur zum Zeitvertreib dienen, sondern ist auch nützlich. Nur dabei
haben sollte man es...
Mittlerweile hat Hannah, die Freundin von
Freddy, eine gute Brotzeit ausgepackt. Nach einem kurzen Rundgang komme
ich mit einem Rucksäckchen Bierdosen zurück. Einfach optimal!
Eine Bank, ein paar Plastiksessel, Wurst, Käse, Brot und Bier, das
ganze unter dem flachen Plastikdach am Vordeck. Der Blick auf die Containerschlangen
des Hafens wird sich bald ändern. Die Sonne steht noch sehr hoch,
aber ein stetig leichter Luftzug macht auch das Körperbefinden gar
nicht so unangenehm. Ganz vorne schwappt ein Schwimmbad, in dem Kinder
rumtollen.
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- 2 -
Kaum spürbar beginnt der Dampfer zu
vibrieren. Turmtief weit unten sehe ich, wie sich der Spalt zwischen Pier
und Schiffswand beginnt zu vergrößern. Die Fahrt hat begonnen!
Der Hafen fängt an rundherum zu wandern, zerschnitten durch die steil
aufstehenden Enden der Steuerbord- und Backbordrampe am Bug. Mit einem
kühnen Schwung windet sich der Koloß aus dem Triester Hafen
hinaus auf die offene Adria. Mir ist nach Rundgang zumute und ich wandere
ein wenig über die drei Decks, Stiegen hinauf, Stiegen hinunter,
grünes und weißes Eisen in jeder erdenklichen Form: Flach,
kantig, glatt, rund, als Träger, Kugeln, Röhren und Platten,
wuchtig und filigran.
Alles ist an Deck, blickt zurück auf
die schwindende Küste oder voraus in die schon leicht geneigte Sonne,
die sich gleißend im ruhigen Wasser spiegelt. Träge wandern
die Menschen über Deck, sitzen auf ihren Luftmatratzen und man kann
leicht zwischen Kabinenbuchern und Deckpassanten unterscheiden. Welche
Gedanken wohl hinter mancher Stirne sind? Erinnerungen? Sehnsüchte?
Vielleicht auch Ängste? Oder einfach nur der Genuß und die
Freude am Augenblick, wie sie in mir hüpft? Es
ist wundersam, wenn ich mich so betrachte. Nach außen wirke ich
wohl ruhig, wenn ich so über den grünen Lack wandere. Innerlich
aber eine quirlige Maschinerie, die blitzschnell zwischen unterschiedlichsten
Wahrnehmungen wechselt. Wohliges Hiersein, spitzbübische Belustigung
über manche Ansichten, dem Kommenden Entgegenfiebern. Es gibt ungeheuer
viel zu sehen: Stille Genießer, die an der Reling stehend in die
Ferne blicken, eine Meute Jugendlicher, die schon jetzt einiges an Alkohol
intus haben und mit breiten Schritten ihre Runden drehen, in Taschenbücher
Vertiefte, die den Rücken an eine Wand gelehnt auf einer Schaumgummimatte
sitzen, kleine Grüppchen sich Unterhaltender, aber alle arbeiten
gemeinsam an dem Bild von Urlaubs-Optimismus und Fern-Freude. Vielleicht
doch nicht ganz alle. Neben der Backbordreling am zweitobersten Deck sitzt
eine alte Frau, dick vermummt, daß nur ihr zerfurchtes Gesicht zu
sehen ist, vor sich ein kleines Mädchen, das mit kleinen Nüssen
spielt. Eine Enklave griechischen oder türkischen Landlebens, ausgestochen
wie ein Grasziegel und hier zum Transport abgesetzt. Am obersten Deck,
dem kleinen, nicht weit hinter dem mächtigen Schornstein eine Parade
von Hundezwingern, dazwischen ein Schild, das mit dem viersprachigen drolligen
Hinweis 'Der Eingang der Passagiere ist verboten' den Zugang zum schönsten
Aussichtspunkt ganz oben, dem Helikopterdeck, verwehrt. Wie man erkennen
kann, scheinen nicht alle Hunde ihr Hüttchen mit Wohlwollen geduldig
bewohnt zu haben.
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- 3 -
Am Rückweg halte ich noch an der Bar
Einkehr, um mein Rucksäckchen wiederum mit kalten Bierdosen zu befüllen.
Von den Bikerkollegen ist nur Hartwig da, das verliebte Pärchen habe
ich einmal auf dem Spaziergang getroffen, wie sie, sich gegenseitig festhaltend,
schweigend übers Meer gesehen haben. Kurz fauchen uns die Bierdosen
an, als wir ihnen ein Loch in den Deckel reißen, dann geben sie
gluckernd ihren kühlen und leicht benebelnden Inhalt her. Hannah
und Freddy kommen dahergeschlendert und nun macht sich Hartwig auf die
Suche nach der Toilette, um dem Bier die Chance zu geben, sich, vom Alkohol
befreit, dem ewigen Kreislauf einzugliedern.
Hannah ist in Australien geboren und im Prinzip
unglücklich darüber, hier zu sein. Doch sie hatte mit vierzehn
Jahren seinerzeit keinen Einfluß darauf. Ich kann mir gut vorstellen,
daß die Enge des Denkens und Handelns in unseren Breiten jemandem
zu schaffen macht, der die Weite Australiens gewöhnt ist. Schon bei
unserem ersten Treffen am Pier hatte mich ihre Offenheit positiv berührend
überrascht. Nun ist mir auch der Grund dafür klar. Die Atmosphäre
von Hitze, Bier und Griechenland als Ziel ist ein guter Nährboden
für ganz persönliches Gespräch. So kann ich aus der Vergangenheit
aller erfahren.
Alle drei sind in einem Bikerclub, wobei
Freddy und Hannah die meisten Dinge organisieren. Es haben sich zwei Gruppen
gebildet, eine konservativer die andere scheint eher Bikern zu ähneln.
Es sei nahezu unmöglich, beide unter einen Hut zu bringen, erzählen
sie. Freddy erinnert sich an eine Tour ins benachbarte Bundesland, die
zu einem Fiasko wurde, da manchen von den Kollegen die vielen Kurven zuviel
wurden. Sie beschwerten sich darüber, warum denn nicht auf der Autobahn
gefahren würde. Das kann ich nicht so ganz nachvollziehen, denn ich
finde, daß die Autobahn etwas für Lastautos, Busse und auch
PKWs ist, aber für Motorräder nur ein notwendiges Übel,
um manchmal schnell von A nach B zu gelangen, wo eben genau die Kurven
es sind, die lockend darauf warten, ausgezirkelt zu werden. Wir diskutieren
lange über Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit gegenüber
anderen und vieles mehr. Eine Batterie an Bierdosen nach der anderen kommt,
wird leichter, geht.
Irgendwann
einmal meint Freddy: "Wer leben will, muß vergessen können".
Später lasse ich den Satz durch meinen Sinn ziehen, schmecke ihn
Bild für Bild nach. Da steckt was drin! Ist es nicht immer die Vergangenheit
in irgendeiner Art, die uns davon abhält, frei zu sein? Die Vergangenheit
hat uns geformt oder - nein, in der Vergangenheit haben wir uns
geformt, aus uns das gemacht, was wir heute sind. Gut. Aber wer sagt uns,
daß wir das auch bleiben müssen? Betrachten wir es einmal
ganz neutral, nicht uns selbst sehend: Wir können ab jetzt sofort
anders sein! Nur glauben wir das nicht. Und deshalb bleiben wir, wie
wir sind. Wie uns andere sehen. Wir müßten nur jetzt und hier
sagen: "Ich will das tun, was ich mir wünsche" und es einfach
tun! Klingt doch lächerlich einfach, nicht? Warum tun wir es dann
nicht? Das frage ich mich seither immer öfters und ertappe mich dabei,
daß einfach bestimmte gewohnte Situationen immer die selbe Reaktion
in mir auslösen und mich automatisch handeln lassen. Aber das mit
dem Automatismus ist eine andere Geschichte. "Wer leben will, muß
vergessen können..." ein guter Satz! Eine direkte Aufforderung,
nur das Jetzt zu sehen und uns nicht von der Vergangenheit beeinflussen
zu lassen! Es ist eine Aufforderung zur ständigen Bewegung. Der Satz
begeistert mich!
Da kommt mir eine Geschichte in den Sinn,
die ich einmal in einem Buch von Alan Lightman las:
Ein Blick auf die dichtgedrängten
Marktstände in der Spitalgasse sagt alles. Die Käufer gehen
unschlüssig von einem Stand zum anderen, um festzustellen, was jeweils
angeboten wird.Hier gibt es Tabak, aber wo gibt es Senfkörner? Dort
gibt es Zuckerrüben, aber wo gibt es Dorsch? Hier gibt es Ziegenmilch,
aber wo gibt es Lorbeer? Es sind keine Touristen, die sich zum erstenmal
da aufhalten. Es sind die Bürger der Stadt. Keiner kann sich erinnern,
daß er vor zwei Tagen bei einem Händler namens Ferdinand in
der Nummer 17 Schokolade gekauft hat - oder Räucherfleisch bei Hofs
Delikatessen in der Nummer 36. Jeder Laden muß mit seinem speziellen
Angebot neu entdeckt werden. Manche halten eine Karte in der Hand, von
der sie sich in der Stadt, in der sie ihr ganzes Leben zugebracht haben,
in der Straße, durch die sie seit Jahren gegangen sind, von einer
Arkade zur nächsten leiten lassen. Manche
führen ein Notizbuch mit sich, um schnell aufzuschreiben, was sie
entdeckt haben, bevor sie es wieder aus dem Kopf verlieren.
Denn in dieser Welt haben die Menschen kein Gedächtnis...
Wenn
der Feierabend kommt und es Zeit ist, nach Hause zu gehen, schaut jeder
in seinem Adressenverzeichnis nach, wo er wohnt. Daheim angekommen, trifft
jeder Mann auf eine Frau und auf Kinder, die ihn an der Tür erwarten,
er stellt sich vor, hilft bei den Essensvorbereitungen, liest seinen Kindern
Geschichten vor. In gleicher Weise trifft jede Frau auf einen Mann, auf
Kinder, Sofas, Lampen und Tapeten. Spätabends dann bleiben die Frau
und der Mann nicht am Tisch sitzen, um über die Ereignisse des Tages,
die Schulprobleme der Kinder, den Kontostand zu sprechen. Vielmehr lächeln
sie sich an, verspüren körperliches Verlangen wie vor fünfzehn
Jahren, als sie sich kennenlernten. Sie finden ihr Schlafzimmer, stolpern
an Familienfotos vorbei, die sie nicht kennen, und verbringen die Nacht
in sinnlicher Lust. Denn nur Gewohnheit und Erinnerung lassen die körperliche
Leidenschaft abstumpfen. Ohne Gedächtnis ist jede Nacht die erste
Nacht, jeder Morgen der erste Morgen, jeder Kuß und jede Berührung
der erste Kuß, die erste Berührung...
Eine Welt ohne Gedächtnis ist eine
Welt der Gegenwart. Die Vergangenheit existiert nur in Büchern und
Dokumenten. Um zu wissen, wer er ist, führt jeder sein Buch des Lebens
mit sich, in dem seine Geschichte verzeichnet ist. Indem er täglich
darin liest, kann er nochmals erfahren, wer seine Eltern waren, ob er
von hoher oder niederer Herkunft ist, ob er in der Schule gut oder schlecht
abgeschnitten und es im Leben zu etwas gebracht hat.Ohne sein Buch des
Lebens ist der Mensch ein Schnappschuß, ein zweidimensionales Bild,
ein Gespenst. In den belaubten Cafes hört man den gequälten
Schrei eines Mannes, der gerade liest, daß er einst einen anderen
getötet hat, die Seufzer einer Frau, die entdeckt, daß sie
von einem Prinzen umworben wurde, die plötzliche Prahlerei einer
anderen, die ihrem Buch entnommen hat, daß sie vor zehn Jahren die
höchste Auszeichnung ihrer Universität erhielt. Während
die Dunkelheit hereinbricht, sitzen manche an ihrem Tisch und lesen in
ihrem Buch des Lebens, andere tragen auf seinen leeren Seiten hektisch
die Ereignisse des Tages ein.
Mit der Zeit wird das Buch des Lebens
so dick,daß man es nicht mehr von Anfang bis Ende lesen kann..Mann
muß dann wählen. Ältere Männer und Frauen entscheiden
sich vielleicht, die ersten Seiten zu lesen, um zu wissen, wer sie in
ihrer Jugendzeit waren, oder sie entscheiden sich, den Schluß zu
lesen, weil sie wissen möchten,wer sie später waren. Manche
haben das Lesen ganz eingestellt. Sie haben die Vergangenheit aufgegeben.
Sie sind zu dem Schluß gekommen, daß es unwichtig ist, ob
sie reich oder arm, gebildet oder unwissend, stolz oder bescheiden, verliebt
oder leeren Herzens waren - so unwichtig wie der sanfte Wind, der durch
ihr Haar streicht. Diese Menschen schauen einem direkt in die Augen und
haben einen festen Händedruck. Diese Menschen gehen mit den lockeren
Bewegungen ihrer Jugend. Diese Menschen haben gelernt, in einer Welt ohne
Gedächtnis zu leben....
Es
beginnt dunkel zu werden, das Deck leert sich gemächlich, Zeit zum
Abendessen. Zum x-ten Mal schlendere ich über die grünen Eisenplatten.
Wieder treffe ich Hannah und Freddy. Sie hat offenbar zu intensiv durch
ihre Sonnebrille geschaut, denn ein Glas ist herausgefallen und ruht wohl
mittlerweile nach ein paar Kilometern in Tiefe Schaukelns auf dem Grund
der Adria. Ärgerlich, denn es ist eine optische Sonnenbrille.
Es ist wunderbar, einfach nichts tun zu müssen!
Ein wenig auf dem obersten Deck stehend aufs Wasser zu sehen, ein wenig
an der Reling lehnend die untergehenden Sonne zu betrachten oder senkrecht
unter mir den sich ständig und doch immer anders wiederholenden Schaum
zu verfolgen, der hinterm Bug zum Vorschein kommt, im Detail betrachtet
lauter kleine, sich ausweitende Schaumseen, im Großen ein zunehmender
Streifen, der kurz immer breiter wird, hinter dem Schiff sich in der Ferne
verliert, um irgendwann sich beruhigend zusammenzufallen, als sei nichts
gewesen. Abendlicher Frieden und Stille rundum, teilweise vom gefüllten
Bauch ausgehend, mehr von der einschläfernden Atmosphäre des
ersten zu Ende gehenden Reisetages, der alles mit seinem beruhigenden
Rot einhüllt. Hier ein Paar, das eng umschlungen unter einer der
Rettungsinseln wortlos in die Ferne blickt, drüben ein anderes, offenbar
sich schon länger kennendes, das ebenfalls, in ein Gespräch
vertieft, dem Abschied der Sonne für heute entgegensieht. Vorne,
im Schutz der Wand zum oberen Deck eine Gruppe von Nachkommen der früheren
Hippies, auf ihren Decken zusammengekauert, angeregt über rirgendein
Thema diskutierend, während einer von ihnen mit mehreren Bällen
jongliert. Der Fahrtwind, der um die Ecke flatter, trägt Fetzen von
Gitarrenmusik herüber. Ein kleines Eckchen aus dem Paradies, von
dem es heißt, daß es dort nur Frieden, Harmonie und Zuneigung
geben soll.
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- 4 -
Nun hat die Dunkelheit für einige Stunden die Regentschaft
bekommen. Schon vor einiger Zeit waren die Neonröhren angegangen,
viel zu früh, aber das Schiff erzeugt seinen eigenen Strom, da spielt
das keine Rolle. Das Bild hat sich gewandelt, weniger Leute sind da, denn
die Kabinenbewohner ziehen sich allmählich zurück. Wir, die
Deckpassagenbucher, haben uns schon unsere Liegegelegenheiten besorgen
müssen, denn jetzt wäre es zu spät. Jede Liege ist vergeben,
nur ein paar Plastiksessel sind noch frei. Unsere Gruppe ist zerfallen:
Nach einem kleinen Rundgang, bei dem wir festgestellt haben, daß
das Nachtleben kaum etwas bietet, hat sich Hartwig auf der einen Bank
hingelegt, denn aus den Erzählungen konnte ich entnehmen, daß
ihm die Nächte davor wenig Schlaf gelassen hatten. Hannah und Freddy
haben sich irgendwohin ein zweisames Plätzlchen gesucht, so sitze
ich nun lesend auf der zweiten Bank, die wohl oder übel meine recht
harte Liegestätte werden wird. In unregelmäßigen, aber
sehr kurzen Abständen kommt das Rudel Jungs und Mädels vorbei,
die mittlerweile stockbesoffen sind. Laut gröhlend schwanken sie
vorbei, Whiskeyflaschen schwenkend, aus den halbvollen Bierdosen schwappt
es hie und da auf den Boden.
23
Uhr. Hier, weiter hinten, hört man das dumpfe Vibrieren der Diesel
und der Schrauben, die uns mit immerhin 25 Knoten unserem Etappenziel
näher bringen. Ein seltsames Geräusch liegt hell über allem,
es klingt so wie das Zirpen einer Grille, sodaß ich ständig
suche, wo in dem Plastiverdeck über mir sie sich denn versteckt hält.
Drüben hat ein italienisches Paar seinerzeit zwei Bänke beschlagnahmt
und es sich dazwischen, so gut es geht, gemnütlich gemacht. Er schläft,
man sieht ihn nicht, sie sitzt und liest. Immer mehr Leute vermummen sich
auf ihren Matratzen und Decken, denn es wird nun doch etwas kühl,
da seitlich der Wind hereinbläst. Aus gegebenem Anlaß mache
ich mir in Gedanken eine Liste an Dingen, die mit heraufzunehmen ich nächstes
Mal sicher nicht vergessen werde! Heute habe ich lediglich meine Lederjacke
und den Schlafsack. Letzteren breite ich unter mir aus, die Jacke verwende
ich als Kopfkissen und einen Arm von ihr lege ich über mein Gesicht,
um so die grellen Neonlampen fernzuhalten. Nach zwei Stunden wache ich
wieder auf.
2 Uhr. Fast alles schläft jetzt. Ich bin wegen Sodbrennen
aufgewacht und habe Kopfweh. Die Bar hat die ganze Nacht geschlossen.
Ein paar Schritte, den Niedergang hinauf, kurz strecken. Das Symbol der
Anek-Linie ist der Umriß von Kreta. Zum Glück habe ich noch
etwas Mineralwasser. Marke Samaria, in kyrillischer Schrift, hat keine
Kohlensäure und schmeckt hervorragend, wie frisches Quellwasser aus
den Alpen. Nur mittlerweile etwas wärmer. Überall auf Deck Schlafsäcke,
bis oben hin zugezippt, gespenstisch wie nach einem Attentat. Bierleichen
auf einer Bank, daneben auf dem grünen Lackboden verbreitet das Nudelgericht
vom Abend einen leicht säuerlichen Geruch. Auch Hannah und Freddy
habe ich entdeckt. Sie liegen im Schlafsack auf ihrer Schaumgummimatte
unter einem Rettungsboot, der Wind versucht immer wieder ruckweise eine
Ecke der Schaumgummimatte aufzuheben.
Wieder ziehe ich mein Buch hervor und versuche, mich in
eine andere Welt entführen zu lassen. Aber es will nicht so recht
gelingen. Also hole ich mein Griechisch-Wörterbuch hervor, um einige
Phrasen, die wichtig werden könnten, aufzuschreiben und zu lernen.
Pósso kosstísi í dhianiktereffsi (to átomo)?
- Was kostet die Übernachtung (pro Person). Lustig: Personen sind
Atome? Efharisto, parakalo - bitte, danke, die verschiedenen Arten der
Begrüßung und Verabschiedung, kaliméra, kalispéra,
chérete, andio, rechts, links, eins bis zehn und, schließlich
bin ich mit dem Bike unterwegs, dessen Tankinhalt höchstens 260 Kilometer
vorhält: Pu íne to djo kondinó wensinádhiko?
- Wo ist die nächste Tankstelle? Schließlich schlafe ich doch
noch eine Runde und wache erst wieder auf, als es schon hell ist.
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- 5 -
Zwar
ist schon alles in fahles Morgenlicht getaucht, aber kaum jemand ist wach.
Jedenfalls begrüße ich gut aufgelegt den zweiten Tag der Reise.
Heute stehen Ankunft in Igoumenitsa und ein Stück Weiterfahrt auf
dem Programm. Die Geräusche sind nicht anders geworden, aber durch
das Tageslicht gleiten sie mehr in den Hintergrund. Immer noch wummern
Diesel und Schrauben im Schiffsbauch und auch die Grille im Plastiverdeck,
die keine ist, zirpt unverdrossen vor sich hin. Das zunehmende Licht lenkt
ab, läßt vorwärts blicken, statt in sich zu gehen. Tag
und Nacht sind verschieden wie Tag und Nacht. Alle vierundzwanzig Stunden
ein neuer Anfang, ein neuer Frühling, ein neues Leben. Nicht von
ungefähr nennen die Franzosen den Schlaf auch 'La petit mort' - der
kleine Tod,,,
Aufstehen,
strecken, einen Schluck Mineralwasser. Und natürlich der erste Rundgang.
Am Bild der unzähligen Schlaf-Kokons hat sich noch kaum etwas geändert,
außer daß es heller ist. Mit dem Jungrudel haben wir etwas
Pech gehabt, denn das Schiff ist überall vollgekotzt. Zügig
wird es weiter heller, backbord beginnt die Sonne aus dem Meer zu steigen.
Sie kommt mir viel heller vor als die, die am Abend untergegangen war.
Naja, schließlich konnte sie sich auch einige Stunden ausruhen...
Wenige Stunden später kann man bereits schemenhaft
Land wahrnehmen. Zu Hause hatte ich mir eine Karte ausgedruckt, auf der
ich die Strecke in Stunden geteilt hatte. Es ist nun sieben Uhr, also
muß es Albanien sein, das an uns vorbeigleitet. Mehr Leute sammeln
sich backbord, um den Tag zu begrüßen. Auf verschiedenste Art
verbringen die Leute die paar Stunden bis zur Ankunft. Die Saufrunde dürfte
den Morgen wohl am wenigsten genießen, sie sitzen recht apathisch
in der Gegend verstreut herum.
Stundenlang
gleitet die eintönige Felsenküste Albaniens an uns vorbei. Es
fällt mir schwer, ruhig irgendwo zu sitzen, Gashand und Schaltfuß
zu beruhigen, daß es nun nicht mehr lange dauert. Langsam taucht
auch im Westen Land auf. Nein, Italien ist doch etwas zu weit weg, es
muß Korfu sein. Beim Zwischenhalt in Kerkyra muß ich staunen,
mit welcher Geschicklichkeit das Schiff in den Hafen gesteuert wird. Im
Rückwärtsgang wird es zwischen zwei anderen Schiffen hindurch
an den Kai manövriert, sodaß es um neunzig Grad abstehend durch
die Heckrampe ent- und beladen werden kann. Der Aufenthalt dauert aber
nicht lange und wir sind unterwegs nach Osten, nach Igoumenitsa.
Auf dem Weg dorthin entdecke ich Hannah an der Bar, sie
bestellt eben einen Ghyros, den griechischen Kebab. Es duftet verführerisch
und ich schließe mich der Bestellung an. Doch leider, das Stück
muß noch ein Weilchen drehen, um wieder knuspriges Material für
meine Portion abgeben zu können. Inzwischen kommt die Zange der Bucht
von Igoumenitsa näher. Erst als sie sich schon ein gutes Stück
um uns geschlossen hat, wird das Fleisch fertig. Es bleibt nur noch Zeit
für ein eiliges Essen. Schon erschüttert das Vibireren der rückwärts
drehenden Schrauben den Schiffsrumpf und die Heckrampe wird rasselnd niedergelassen.
Das alles läuft durch unzählige Trainigs perfekt ab. Kaum sind
die Taue festgemacht, rollen auch schon die ersten Trucks vorsichtig aus
dem Schiffsbauch. Manchmal ist der Abstand zwischen Stoßstange und
Rampe nur fingerbreit. Wir haben es nicht allzu eilig, hinunter zu kommen,
denn zuerst müssen ja die Lastzüge hinaus, die unsere Parkbuchten
verstellen. Aber schließlich ist es doch so weit: Behelfmäßig
schnell die paar losen Teile befestigt und dann springen die sechs Zylinder
auch schon auf Anhieb an, laufen noch etwas unruhig, aber sichtlich ebenso
erfreut wie ich.
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