Die Journey

Wenn du zum Lesen ständig links und rechts scrollen mußt, dann klick hier drauf!4 - Genuß und Verirrung

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Sanft sickert Sonnenlicht durch die weißen Stoffvorhänge, ich sehe es nicht, denn noch habe ich die Augen zu, sondern fühle es vielmehr. Ganz vorsichtig öffne ich das rechte Lid ein wenig und - wirklich: Im Zimmer herrscht ein mildes Licht, daß aber doch frisch und belebend wirkt. Unendlich wohlig strecke ich mich, drüben liegen Jeans, Helm und Stiefel. Ich mach den schmalen Augenschlitz wieder zu und genieße in vollen Zügen. Hey! Ich bin in Griechenland! Die Sonne scheint, Akbar vor der Türe, ich spüre förmlich seine Ungeduld. Oder ist es meine...?!

Nach zehn Minuten Hochgenuß öffne ich die Augen und lasse sie durch das Zimmerchen schweifen. Drüben das zweite Bett, die Tür ins Bad, am Fußende des Betts Rucksack, Zelt, Schlafsack und ein Wirrwarr von Gurten und Gummischnüren, die alles auf Akbar zusammenhalten. Leise vor mich hinsummend krame ich die Zahnbürste heraus und wandere putzend durch den Raum. Aus dem Wasserhahn kommt tatsächlich warmes Wasser, trotzdem im Duschbecken eine beträchtliche tote Spinne und ein paar ebenso tote Fliegen liegen. Auch die Dusche funktioniert überraschenderweise tadellos, unglaublich, wie wunderbar sich der Tag anläßt. Habe richtige Appetit auf ein gutes Frühstück, rubble mich nach der erfrischenden Bad trocken und suche passende Klamotten zusammen: Turnschuhe, Jeans, T-Shirt. Stück für Stück wandern die einzelnen Teile wieder auf Akbars Rücken: Zelt, Schaumstoffrolle, Schlafsack, Luftmatratze und das kleine Sonnensegel werden als eine kompakte Rolle mit den zwei Zurrgurten beidseitig zu den Sattelkofferhalterungen festgezogen, sie halten bombenfest. Minirucksack, Stiefel und Regenzeug werden zusätzlich mit Gummiexpandern darauf befestigt. Als letztes kommt der Rucksack hinten auf die kleine Gepäckfläche hinter der Sissybar und wird an dieser mit drei Expandern und den Resten der zwei Zurrgurten festgemacht. Diese Befestigung ist das einzige nicht ganz Ideale, das aber trotzdem klaglos die ganze Fahrt hindurch funktionieren soll. Schließlich bin ich fertig, ein Kontrollblick ins Zimmer und ich wandere hinüber in den Gastgarten des kleinen Restaurants.

Die alte Frau vom Vorabend habe ich schon gesehen, sie hält sich in Rufweite auf. Naja, es ist ja schließlich auch noch nicht bezahlt. Hoffnungsvoll setze ich mich an einen Tisch, stehe aber nach einigen Minuten wieder auf, da sich nichts ereignet. In der Küche geschehen keine Vorbereitungen zu einem Frühstück. Weder ist Brot zu sehen noch Tee oder Kaffee. Die Auswahl scheint also eher beschränkt zu sein. Macht nichts, ein Kaffee wäre allerdings schon schön. Nach einigen Versuchen versteht sie mein Ansinnen und macht sich auf den Weg in die Küche. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie zu dem großen Kühlschrank geht, ihm eine Flasche kalten Wassers entnimmt. Daß diese tatsächlich für meinen Kaffee gedacht ist, glaube ich erst wirklich, als ich ihn serviert bekomme: Ein Frappée, ein Eiskaffe! Überraschend, ungewohnt aber - zugegeben - schmeckt nicht übel. Und kostet extra. Aber man darf eben nicht in andere Länder fahren, wenn man nicht bereit ist, auch andere Sitten zu akzeptieren.

Nachdem ich den Frappée in vollen Zügen genossen habe, schlendere ich zu Akbar hinüber, Wohlwollen und Gemütlichkeit in Person. Ich erlebe jeden Schritt, jeden Atemzug, jede Zelle in meinem Körper! Die Sonne, die Luft, der noch etwas kühle Tank von Akbar. Zündschlüssel, Choke, Starter. Kurzes, kraftvolles Starterwummern und die Maschine bullert leise. Ein paar Drehungen am Gasgriff und ich kann den Choke zurücknehmen. Mit wenigen Schritten schiebe ich Akbar rückwärts den kurzen Betoweg auf den Hauptweg hinaus. Kupplung, erster Gang und ich rolle an der schwarz gekleideten alten Griechin vorbei. Ein letztes kurzes Winken, fünfzig Meter auf die Nebenstraße hinaus. Nach zwei Kilometern biege ich dann wieder rechts auf die Hauptstraße nach Süden hinunter ein. Die Straße gehört mir. Ganz Griechenland gehört mir!

 

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Es ist etwas Wunderbares, diese frische Morgenstimmung hier herunten! Die Luft zwar recht dunstig, aber doch belebend, nicht schwül, sondern angenehm warm. Auf dem Motorrad verträgt man Wärme gut, finde ich, da ja immer etwas Fahrtwind Stauhitze gar nicht aufkommen läßt. Am Westufer werfen die Bäume noch lange Schatten, die Trennung zwischen Meer und Himmel ist oft schwer auszumachen. Das Asphaltband zieht unter mir dahin und jede Kurve ist wie ein eigenes, kleines Erlebnis. Es ist wenig Verkehr auf dieser Strecke, eine Nebenstraße, weit ab von Durchzugsrouten. Harmonisches Pendeln von einer Kurve in die nächste, leicht auf- und abwärts und immer rechts den Blick auf das Meer. Die Zeit steht still, ich gleite in sie hinein, teile sie mit dem Windschild, sie umfließt mich, um sich hinter mir wieder zur Zeit für den nächsten zu einen. Als leichter Schatten wandere ich durch den Raum, kaum mehr Ein-Druck hinterlassend als eine flaumige Vogelfeder. Und doch: Im Laufe der Wochen, Monate, Jahre werden Rillen im Asphalt sein, zu denen ich auch beigetragen habe.

Teilweise - oder besser meistens - geht es direkt an der Küste entlang nach Süden. Dann ein Schwenk nach Osten und die Distanz zum Meer vergrößert sich etwas, der Sichtkontakt bleibt jedoch bestehen. Südlich streckt sich der lange Schatten einer großen Insel ins Meer hinaus. Ich lasse Akbar ausrollen, bleibe stehen, einfach um mich rundherumzudrehen und mit den Armen die Luft einzufangen, diese grenzenlose Freude und Zufriedenheit des Augenblicks fest in mir zu verankern.

Langsam nähert sich die Straße wieder dem Wasser, ich komme beinahe nicht nach mit Schauen, so viel gibt es zu entdecken! Alles ist schön, auch wenn es völlig alltäglich ist: Der stachelige Busch, die kleine Gruppe gelber Blüten, der Schotter neben der Straße... lediglich der allgegenwärtige Müll - stört etwas den Eindruck der Vollkommenheit.

Aus unerfindlichen Gründen habe ich einige Zeit nicht in Richtung Meer geblickt. Was für eine Überraschung, als ich plötzlich rechts, sanft eingefaßt von einem Rahmen aus Macchie den nahezu perfekten Kegel einer Insel erblicke. Links und rechts, wie eine liebevolle Umarmung die Küste des Festlandes sie umfassend. Es ist nicht Kalamos für mich, sondern die U-Bucht. Das paßt besser zu der Athmosphäre als das nüchterne Fakt.

Eine ganze Strecke geht es nun wieder genau nach Süden, dann steigt die Straße etwas an, um schließlich abermals einen Haken zu schlagen, zurück aufwärts. Vom Südzipfel der Landzunge aus hat man einen schönen Blick über die Bucht. Seltsame Gebilde schwimmen einige hundert Meter vom Land entfernt: Mehrere Kreise, die jedoch miteinander verbunden zu sein scheinen. Ich schraube das Tele auf seine ganzen 300mm aus und kann erkennen, daß sich ein Arbeiter an einem dieser Gebilde zu schaffen macht, sein Boot liegt neben ihm. Es wird wohl eine große Fischzuchtanstalt sein. Später werde ich noch mehrere dieser Anlagen sehen, die einen eigenartigen grafischen, abgezirkelten Eindruck in den runden Formen der Landschaft machen.

Kurz danach geht es ins Landesinnere, ist aber nicht minder reizvoll. Es wird flacher und geht schließlich in eine Ebene über. Seitlich einer kerzengeraden Straße sind viele flache Wasserflächen. Weiter weg glaube ich langbeinige Wesen durch das Wasser staksen zu sehen, es ist aber nichts Genaues erkennbar. Einige Kilometer weiter jedoch bin ich näher, genauer und bin sehr erstaunt. Sind wir hier in Afrika? Gänzlich unbekümmert ist eine ganze Schar Flamingos dabei, sich ihr im wahrsten Sinn des Wortes Gabelfrühstück zu besorgen! Neben mir ist ein Athener stehen geblieben. "Flamingos?" meint er, ebenso staunend, worauf ich läßig "Ne, ne" antworte. Wie schön, wenn man wenigstens ein Wort einer fremden Sprache fließend beherrscht.

Im nächsten Ort komme ich zu dem Schluß, daß es wieder an der Zeit ist, auf der Karte eine Standortbestimmung vorzunehmen. Für heute war ausgemacht, daß ich mich mit Freunden in Korinth treffe. Da ich zu Hause oft fünf- bis sechshundert Kilometer an einem Samstag oder Sonntag fahre, kommen mir die rund vierhundert geplanten für heute gemütlich vor. Obwohl ich daher glaube, jede Zeit der Welt zu haben, ist es doch gut zu wissen, wie ich vorankomme. Die Karte ist nicht sonderlich genau und ich führe es auf die kyrillische Schrift zurück, daß die Orte in natura mit denen auf der Karte nicht so wirklich zusammenpassen. Obwohl: Neochori - Etoliko - Mesolongi? Nein, ich bin sicher schon in Mesolongi.

Die Strecke verläuft nun etwas weniger interessant, mündet in eine von Norden kommende Hauptstraße ein. Nach einigen Kilometern sehe ich ein Straßenschild 'Mesolongi'. Seltsam. War ich da nicht schon vor geraumer Zeit gewesen? Das war doch schon vor einer Stunde? Bremsen, Motor aus, Karte. Der Ortsnamen stimmt überein. Na toll! Ich bin noch lange nicht so weit, wie ich sein sollte. Jetzt muß ich wohl etwas Zahn zulegen, um mich nicht doch noch letztlich zu verspäten. Die Straße ist breit, dafür ist auch mehr Verkehr. Aber mit zwei Rädern gibt es kaum Hindernisse. Ein Auto nach dem anderen fliegt vorbei. Es geht abwärts in Richtung Antirion und erinnert ein wenig an Schifahren. Schwünge um die jeweiligen Hügelchen, sprich Autos, zwischendurch eine kleine Strecke in Schußfahrt. Der Asphalt ist griffig die Fahrweise zügig aber nicht überzogen, die innere und äußere Athmosphäre absolut stimmig. Die angehobene Geschwindigkeit zeigt bald Resultate: Antirion taucht auf, das Ferry Boat ist nicht schwer zu finden. Das Ende einer Kolonne stehender Autos zeigt mir schließlich, daß ich anscheinend richtig bin. Mit Aufmerksamkeit langsam daran vorbei taucht schnell drüben die Rampe des Fährschiffs auf. An den vordersten Autos vorbeiziehend sehe ich, daß das Schiff praktisch voll ist. Ein Arbeiter winkt heftig, daß ich schneller fahren soll. Schwupp, oben, Rampe hinauf, die E-Motoren beginnen zu sirren und zum zweiten Mal zieht hinter mir der Schiffsbauch seine Trennung zum Hafen auf. Nur werde ich diesmal die Fahrt voll genießen können, Akbar ruht sich auf seinem Ständer aus. Schon beginnt der Rumpf zu vibrieren. Ich schnappe die Fototasche, erklimme die paar Stufen zur Gangway der Ostseite, die in zwei Metern Höhe erlaubt, vom Heck zum Bug zu spazieren. Jedes Übersetzen ist eine kleine neue Geburt. Abschied vom Festland, dem Peloponnes zugewendet.

Auf der Strecke beobachte ich riesige Pilote, die im Meer stehen, drei an der Zahl, in regelmäßigem Abstand zwischen Küste und Küste verteilt. Es wird eine Brücke gigantischen Ausmaßes werden, die hier das Meer überspannen soll, eine Art griechische Golden Gate. Bis 2004 zu den Olympischen Spielen soll sie fertig sein. Sagt man. Ob das nicht schon recht bald dafür wäre, daß doch erst ein recht wenig...? Ti na kánume - was soll's! Das wird schon werden...
Mittels Politik kleiner Schritte nähert sich der Dampfer dem Gegenüber, legt schließlich an, ich rolle von Bord. Peloponnes, das grobe Ziel ist erreicht, was erwartet mich wohl? Ich bewege mich ein paar hundert Meter den Hafen entlang, finde ein Plätzchen direkt am Pier unter einer Föhre. Akbar lehnt wieder einmal lässig auf seinem Ständer, ich hole die zwei restlichen Brötchen aus dem Sattelkoffer und lehne mich an den Sitz. Hier ist es etwas abseits, ein riesiges altes Fährschiff liegt da, angerostet, wartet auf Generalüberholung, oder Verschrottung, daneben ein paar kleinere Schiffchen. Das Wasser ist so klar, daß Leute direkt hier neben der Hafenmauer baden. Hie und da klappert ein kleiner Lastwagen vorbei oder ein anderes altes Auto. Obwohl die Umgebung nichts Gemütliches an sich hat, genieße ich die Stimmung sehr. Die Luft ist warm, rundherum alles fremd und neu. Der Geruch nach Salz, ein wenig Fisch und Öl. Die paar Badenden mischen etwas Urlaubsatmosphäre dazu. Noch einige lange Schluck Wasser, alles wieder verstaut, Packgut kontrolliert, Nierengurt umgelegt, Helm auf und gleich darauf die Sonnebrille. Ohne zu zögern nimmt der Motor seinen Job auf, schnurrt ruhig und gelassen - oder merke ich da doch einen Hauch von Ungeduld, neue Straßen zu erobern?

 

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Kurzinfo zur Strecke Patras - KorinthDas Erlebnis vom Vormittag die Küstenstraße entlang herunter bewegt mich dazu, auch hier nicht die Autobahn zu wählen, sondern ebenfalls die Strecke direkt am Ufer entlang. Ich freue mich schon auf einsame Kurven mit Blick aufs Meer, menschenleere Straßen, direkt mit der Kargheit der Jahreszeit verbunden zu sein. Doch meine Hoffnungen werden nicht erfüllt, ein Blick auf die Karte hätte mich eines Besseren belehren müssen. Zwar gibt es kurze Stücke zwischen den Dörfchen, aber diese sind so dicht beieinander, daß der Eindruck eines riesigen lockeren Dorfes zwischen Rio und Korinth entsteht. Für diese Strecke würde ich jedem empfehlen, die Autobahn (die in Wirklichkeit gar keine ist) zu nehmen, denn hier gibt es nichts Sehenswertes. Da ich es nicht glauben will, knurre ich den ganzen Weg tatsächlich über die Orte durch (manche lernen's nie), das Bild ändert sich in Richtung Osten nicht, im Gegenteil, alles rückt noch näher zusammen. Auch die Aussicht gibt nicht Spektakuläres her. Da ich andererseits nicht genügend Zeit habe, nach netten Details zu suchen, kann es diese ja durchaus geben. Das Ufer des Festlandes ist bald im Dunst verschwunden, hie und da ist sicher ein idyllischer Strand, man sieht ihn jedoch der Bäume wegen nicht, sondern müßte sich Zeit zur Suche nehmen. Später sehe ich auf der genaueren Karte, daß es in der Tat einige Strände gibt.

Einmal, etwa in der Hälfte mache ich Pause an einem Parkplatz, er ist nicht asphaltiert. Ich gehe ein paar Schritte in den Schatten eines Baumes, denn auch wenn die heiße Luft das meiste an Flüssigkeit mit sich nimmt - die Nieren geben ihren Job nicht ganz auf. Währenddessen schaue ich mir die nähere Umgebung an. Am Boden liegen unzählige braune Dinger und sehen nicht sonderlich appetitlich aus. Als ich den Blick etwas hebe, zieht ein Erinnerungshauch durch mein Gemüt - Bibel - Adam & Eva. Feigenblatt. Feigen. Feigen? Ich gucke höher und tatsächlich, da hängen welche von den tropfenförmigen Dingern! Was für den Griechen zu den normalsten Sachen der Welt gehört, für wen aus unseren Breiten ein orientalisches Erlebnis! Nach langwierigen Versuchen gelingt es mir, eine zu ergattern. Schmeckt prima! Ab diesem Zeitpunkt suche ich immer wieder den Straßensaum nach den Bäumen mit den charakteristischen Blättern ab, heute bin ich allerdings nicht mehr erfolgreich. Aber die nächsten Wochen werden noch manche Feigen-Erlebnisse für mich im Ärmel haben.

 

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Vereinbart haben wir ein Treffen bei den Ausgrabungen von Korinth um 17 Uhr. Robert, sein Sohn Michael und ein Freund Roberts. Die Strecke durch die kleinen Dörfchen, die in nachmittäglicher Stille brüten, zieht sich schier endlos dahin. Selbst befinde ich mich auch in einem Zustand von Dauer-Siesta und döse mehr durch ein Dörfchen nach dem anderen, als daß ich fahre. Kaum Betrieb, wenig Verkehr, Stille und Hitze. Doch durch den Fahrtwind sind die weit über dreißig Grad nicht unangenehm. Ein paarmal bleibe ich stehen, um mit ausführlich die Straßenkarte zu studieren und ein paar Schluck von dem mittlerweile schalen Wasser zu nehmen.

Noch vor Kornith weist ein Wegweiser ins Landesinnere: 'Ancient Corinth', antikes Korinth. Klingt gut. Ich bin nicht nur in der Zeit, sondern fast eine Stunde zu früh. Also folge ich schläfrig dem Wegweiser. Bei einer Kreuzung nach rechts, folge dem Wegweiser 'Akrokorinthos'. Wegen der verschiedenen Bezeichnungen mache ich mir wenig Gedanken. Als schließlich die Straße ansteigt und beginnt, sich den Berg hochzuwinden, werden meine Gedanken doch langsam konkreter. 'Akro...'? So wie Akro-polis? Aha, Akro scheint also 'Berg' oder so etwas zu bedeuten. Aber Korinth am Berg? Ich bin wieder gänzlich wach, Zeit ist genügend vorhanden, also fahre ich weiter bergauf. Es ist teilweise recht steil und es macht Spaß, wieder einmal den Auftrag an die PS zu geben, etwas aktiver zu werden. Im Nu gewinne ich so an Höhe, daß ich eine schöne Sicht auf Korinth und das Festland habe. Hinter einer Bergnase wird die Straße kurz schlecht, dann rechts eine kleine Taverne für Sightseeing-Touristen und ein naturbelassener Parkplatz, sprich: Grober Schotter. Vor mir türmt sich der Berg der Burg von Korinth auf, die Überreste der ehemaligen Festung klettern die steile Wand bergauf, ein paar wenige Touristen klettern mit. Leider keine Zeit, das Labyrinth zu erforschen, aber der Ausblick von oben müßte es lohnen.

Motor aus, Ständer runter, Helm auf den Rückspiegel. Nachdem ich die im Zickzack verlaufenden Mauern und Wege betrachtet habe, richte ich meinen Blick auf die Eben unter mir. Die Sonne ist schon deutlich im Westen und die Ferne verliert sich im blassen Dunst des südlichen Sommernachmittags. Noch weiter gegen Westen rückt die Silhouette einer sitzenden Person in mein Blickfeld, bei näherem Beachten sehe ich eine dunkle Mähne, von einem leichten Rotschimmer durchdrungen. Ich kann kein Gesicht erkennen, denn sie dreht mir den Rücken zu, den Blick abgewandt über die Ebene gerichtet. Ein unerklärliches Gefühl durchzieht mich, als ich die Frauengestalt so im Gegenlicht sitzen sehe. Eine Mischung aus unerklärlicher Verbundenheit, Mystik, Fernweh, Abschied und Wiedersehen. Welche Gedanken durchstreifen wohl jetzt diese unbekannte Stirn, die ich nicht sehen kann? Vage Erinnerungen an eine graue Vorzeit, in der hinter diesen Mauern, den intakten, reges Stadtleben herrschte, als sie hier hoch oben auf den Zinnen stand und ebenso in die Weite blickte wie jetzt? Oder betrachtet sie lediglich die Landschaft? Bei genauerem Hinsehen - die einzige winzige Wolke am ganzen Himmel wischt gerade über uns und lindert so das Silhouettenhafte - erkenne ich eine Lederhose und ein Tuch um den Hals. Am anderen Ende des kleinen Parkplatzes, nahe dem Aufgang zu den Ruinen, erinnere ich mich jetzt daran, ein Motorrad gesehen zu haben, eine TDM glaub ich, rot mit Seitenkoffern. Eine Bikerin, die sich hier ausruht? Wo sind die anderen, respektive wo ist der andere? Schon möchte ich ein paar Schritte in ihre Richtung machen, eine Griechin ist es sicher nicht, denn hiesige Bikes sehen anders aus, das konnte ich schon beobachten. Doch dann hindert mich der Gedanke, unerwünscht zu sein, Gedanken zu zersplittern, eine Stimmung zu zerstören. Außerdem habe ich hier keine weiteren Bikes gesehen, also sind Robert und die beiden anderen offenbar nicht hier und es ist doch nur noch eine halbe Stunde bis zum Treffen...

So wende ich mich wieder Akbar zu, ziehe den Reiseführer aus dem kleinen Rucksack. Auf dem Sattel sitzend studiere ich die Zeilen über Korinth, bekomme erklärt, daß es derer zwei antike Stätten gibt. Das Alte Korinth und die Burg Korinth. Oh... offensichtlich habe ich hier die falsche erwischt. Des weiteren lese ich, daß das alte Korinth in der Nähe des Isthmus liegen soll. Ich öffne die Karte und werfe einen schnellen Blick zur anderen Seite des Parkplatzes. In selbstbewußter Haltung geht die Silhouette von eben auf die rote TDM zu, eine Lederjacke über dem Arm. Die Haarfülle weht im leichten Wind, verschwindet aber mit ein paar geübten Handgriffen unter dem Helm. Ich höre das Starten, die Maschine rollt an und das Motorengeräusch verschwindet wie abgeschnitten hinter dem Hügelchen rechts. Erst jetzt realisiere ich, daß sie offenbar tatsächlich allein war. Gedanken zurück, zu unserem Termin. Ein Blick auf die Karte sagt mir, daß ich sie verkehrt herum in der Hand halte. Mit leichtem Kopfschütteln drehe ich sie um und konzentriere mich wieder auf meine Aufgabe, das alte Korinth zu finden.

Nach einiger Zeit finde ich mich am Isthmus von Korinth wieder, dem Berühmten, viel Bestaunten, Tiefen, den man leicht übersieht, wenn man nicht darauf achtet, an einem Tischchen des stattlichen Andenkenladens. Die letzten eineinhalb Stunden lasse ich nochmals im schnellen Vorlauf vorüberziehen: Mindestens zehnmal quer durch Korinth, nochmals Richtung Akrokorinth, Leute gefragt. Damals wußte ich noch noch nicht, daß man in Griechenland auf zehn gleiche Fragen auch zehn Antworten bekommt. Nur selten die gleichen. Hatte aufgegeben und versucht Robert per Handy zu erreichen (manchmal ist es schon ganz praktisch), Treffpunkt ausgemacht, Treffpunkt verfehlt, Mißverständnisse wegen Autobahnausfahrten, schließlich auf Treffen am Isthmus bestanden (denn den gibts sicher nur einmal) viele, viele Kilometer gefahren und, als roter Faden durch das ganze, aus dem Wundern nicht herausgekommen, daß sowas möglich ist. Also ich sitze hier, habe schon fast einen Liter Wasser in mich hineingeschüttet - das tut gut! - als ich auf der anderen Straßenseite zwei Motorräder sehe, auf einem, der Transalp, sitzt eindeutig Robert. Nicht möglich! Überschwengliche Begrüßung, fragender Blick warum nur zwei statt drei, "Erklärung später, jetzt mal Hauptsache zum Campingplatz, bevor es ganz dunkel wird".

 

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Das neue Ziel ist nun Drepano, ein kleiner Ort etwa zehn Kilometer östlich von Nafplio. Wegen der vorgerückten Stunde entschließen wir uns, nicht die Küstenstrecke zu nehmen, sondern durchs Landesinnere über Argos zu fahren. Michael und ich tanken noch, dann geht es los. Um auf die Straße nach Hillomodi zu gelangen, entschließen sich Robert und Michael für die Autobahn, um dann nach etwa drei Kilometern die in der Karte angegebene Ausfahrt zu nehmen. Von meiner Odyssee her weiß ich, daß in dieser Richtung keine Ausfahrt ist, man glaubt mir nicht, denn meine Kompetenz hat unter den letzten eineinhalb Stunden stark gelitten, so wollen meine Kollegen die Erfahrung offenbar unbedingt selbst machen. Man soll nie jemanden am Erleben hindern, also fahre ich kommentarlos hinterher. Zwar sieht man von hinten nicht, wenn Gesichter länger werden, aber die mit zunehmenden Kilometern weniger überzeugend werdende Fahrweise der Führungsriege spricht für sich, bis wir schließlich auf einem Parkplatz halt machen. Der Platz ist nicht pompös, lediglich zwei Container stehen da. Neben dem einen sehe ich etwas sich bewegen, gehe hin und da sitzen doch tatsächlich zwei ganz junge Hündchen! Bittend sehen sie mich an, kommen vertrauensvoll auf ihren noch viel zu großen Pfoten auf mich zugewackelt, werfen hoffnungsvoll ihr Hinterteil hin und her. Die Szene schneidet mir ins Herz, es nützt kein Überlegen, ich darf sie nichtmal streicheln, wir müssen die zwei armen Kleinen ihrem Schicksal überlassen. Bis heute ist mir dieses Bild nicht aus dem Sinn gegangen.

Schließlich entschließen wir uns, im schlimmsten Fall eine Strecke Maut zu bezahlen. Kurz vor der Maustelle entdecke ich jedoch eine inoffizielle Abfahrt, entschließe mich spontan, doch kurzfristig die Führung zu übernehmen, und so gelangen wir doch tatsächlich auf die ersehnte Straße in Richtung Süden. Ab da geht es zügig durch den lauen griechischen Spätnachmittag. Schwingen durch die Kurven, dazwischen ein paar Gerade, wir erreichen Dervenakia, später Argos. Robert und Michael kennen angenehmerweise die Strecke, so kann ich hinterherfahren und mich voll der Gegend widmen. Wieder eine ziemlich schmucklose gerade Strecke und wir sind in Nafplio angelangt. Das folgende Winkelwerk ist verwirrend, ich fahre einfach blind hinterher, Kurven, Kreuzungen, links, rechts, Häuser, plötzlich fahren sie langsamer und halten an. Ich verstehe gar nichts, schaue fragend umher, Robert grinst und meint: "Na, willste nicht absteigen? Hier ist dein Platz" und deutet neben sich. Meine Reaktion - oder besser eben meine ausbleibende Reaktion - erweitert sein Grinsen zu einem herzlichen Lachen - "Hey! Aufwachen! Wir sind hier", meint er, "Wir sollten das Zelt noch schnell aufstellen, bevor es dunkel wird!" Da realisiere ich erst, daß die letzten Kurven bereits zum Gelände des Campingplatzes gehört haben. Griechenland ist eben anders.

Dank der netten Hilfe der zwei steht das Zelt sehr schnell (ich hatte es vorher noch nie probiert), wir gehen kurz duschen, mit Meer ist heute nichts mehr. Lediglich ein kurzer Blick auf den Strand am unteren Ende des Platzes und dann machen wir uns auf den Weg in den Ort. Der Spaziergang tut gut, es ist angenehm, nicht zu warm, nicht zu kalt. Das Zentrum von Drepano bietet ein paar Tavernen, von denen wir uns eine aussuchen. Doch, es war schon ein ganz nette Strecke heute, fast 400 Kilometer, wozu man sagen muß, daß 400 km in Griechenland etwas ganz anderes sind als bei uns.

Das Lokal der heutigen Wahl wird von einem Padrone dirigiert, wie man ihn sich im Süden vorstellt. Derlei kenne ich ihn in unseren Breiten nur aus dem Lokal 'Kent' in Wien: Er sitzt im Hintergrund, meist irgendein Bekannter an seinem Tisch, es wird leicht gelangweilt über irgend etwas gesprochen, während seine Augen alles und jedes erfassen, automatisch, immer, stets mit ernster Miene, die unmißverständliche Gestalt des großen Fädenziehers, der aus dem Hintergrund alles unzweifelhaft fest im Griff hat. Selbst als Gast hat man eine gewisse scheu, zu sein. Vielleicht täuscht das Äußere, denn die Kellnerin ist sehr humorvoll und kess, ich vermute, seine Tochter. Als sie die Getränke bringt, mache ich eine scherzende Bemerkung. Umgehend revanchiert sie sich, als sie das Essen für Robert und Michael bringt und für mich nur einen Teller (meines ist noch nicht fertig): Mit einem Augenzwinkern meint sie "...and the plates are for you" und entschwindet. Die Zeiten haben sich geändert.

Warum kommt mir just jetzt wieder die Silhouette aus Korinth in den Sinn, wie sie sich, mit ihren weichen Formen und ihrer dunklen, rot schimmernden Mähne gegen die griechische Weite abhebt?

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