Die Journey

Wenn du zum Lesen ständig links und rechts scrollen mußt, dann klick hier drauf!6 - Berg und Tal

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Vielleicht war's der Retsina, was weiß ich - nein, der kanns nicht gewesen sein, denn Alkohol in solch eher geringer Dosis fördert doch eher den Schlaf - egal. Jedenfalls habe ich tatsächlich vier Stunden geschlafen. Um fünf bin ich schon wieder wach, auch diese Nacht habe ich unbeschadet überstanden. Bin weder überfahren worden, obwohl der Verkehr neben meiner Matratze heftig war, noch hat mich der Sägemann erwischt. Ob man sich nach ein, zwei Jahren sogar daran gewöhnt? Urlaut rapst der Reißverschluß das Halbrund entlang, mit jeden Zentimeter fällt die Außenwand des Zelts ein wenig tiefer, bis das Loch so groß ist, daß ich hinauskriechen kann. Nun steh ich auf allen vieren davor und überlege wieder, wie ich hochkomme, offenbar hab ich mich kein einziges Mal umgedreht, so steif bin ich jetzt. Mit einem entschlossenen Ruck bring ich mich doch in die Lotrechte und wiederhole meinen gestrigen Ablauf: Besuch bei den klomuschelsuchenden Ranken im Duschwaschklobetonblock mit Löchern und anschließendem Starndspaziergang.

Heute kommt mir die Sonne bedeutend heller vor als gestern, die Tauben gurren sympathisch (hört, hört!), das Riff hindert mich zwar ebenso an einem Bad im Meer aber ich betrachte es direkt liebevoll. Die Steinchen in den Sandalen finde ich lustig - irgendwie bin ich nicht ganz normal. Auch bin ich zehn Kilo leichter als gestern. Weil wie sollte ich sonst den federnden Gang erklären. Das einzige, was nicht so ganz hinhaut, ist das Lesen. Arge Konzentrationsmängel machen mir ständig einen Strich durch die Rechnung. Alle drei Sätze blicke ich auf und beobachte die paar Zelte und Wohnwägen im Umkreis, die Ameisen am Boden, den Spatz, der drüben herumhüpft, das Licht, das beginnt durch die lose Schilfdecke zu sickern und dann lese ich die gleichen Sätze wieder, was mir alles gar nicht auffällt. Nach einer kleinen Ewigkeit beginnt es sich unwillig im Zelt von Robert und Michael zu bewegen, ich mach mir schon Hoffnungen aber es hat sich offenbar nur einer von ihnen umgedreht. Nach einer weiteren Ewigkeit wird es dann aber ernst. Der Reißverschluß beginnt zu ripsen, Roberts Kopf schiebt sich aus der Öffnung und er blickt wie ein blindes Küken in den prächtigen Tag. Mit gar nicht zur Mimik passender Flüssigkeit schlüpft er dann aus dem Zelt, ich bin mir aber trotzdem nicht sicher, ob er nicht erschrickt, wenn ich 'guten Morgen' sage. So mache ich nur eine begüßende Handbewegung, die es mir bestätigt: Er sieht noch nichts.

Jede Zeit vergeht, so auch die des Duschens der beiden, des Einkaufens von Wurst, Käse und Milch, des Frühstückens und des Bike-sattelns. Wir haben vereinbart, daß wir uns am Dorfplatz nahe der gestrigen Taverne treffen. Ich dränge sehr zur Pünktlichkeit, was mir versteckt fragende Seitenblicke meiner zwei Freunde einhandelt. Vermutlich habe ich immer wieder ein unmotiviertes Grinsen aufgesetzt - man weiß ja, wie das so ist. Wir schaffen es tatsächlich, um fünf vor wegzukommen und rollen pünktlich am Treffpunkt ein. Eine Minute später rollt auch die ersehnte TDM herunter auf den Platz.
"Gut geschlafen?" begrüße ich Alice gut gelaunt.
"Es könnte besser gewesen sein," entgegenet sie, wobei sie die Nase rümpft und mit dem Kopf wackelt. Dann blittzen jedoch gleich wieder die Teufelchen in den Augen, sie lacht und schüttelt den Kopf, daß ihre schwarze Mähne durch die Luft flieht "nein, ich habe prima geschlafen, hab mich doch auf heute gefreut. Und ihr?", dann gähnt sie trotzdem herzhaft.
"Na ja..." sage ich vage und grinse.
"Habt ihr euch schon was ausgedacht?" Sie streckt sich und reckt die Arme gegen den Himmel. Das macht sich gut, so kommt ihr T-Shirt voll zur Geltung... Heute trägt sie zudem ebenfalls Jeans und auch Turnschuhe wie wir.
Wir haben auch noch nicht über die Route gesprochen, so breiten wir die Karte über einen Sattel aus und stecken die Köpfe zusammen.
"Gestern sind wir untenrum gefahren, Monte Didimo und die Dolinen", erzählt Robert. "Was haltet ihr davon, wenn wir heute die Ostseite der Argolis in Angriff nehmen?"

Wir sind alle einverstanden und so blubbert er gleich darauf mit seiner Transalp voran, wieder den gleichen Weg wie gestern in Richtung Süden aus Drepano hinaus. Egoistischerweise mache ich das Schlußlicht, so habe ich alles im Blick, Alice wird nur leider immer wieder von Michael verdeckt. Ich kann mich nicht erinnern, so gerne die Rückseite eines Bikes beobachtet zu haben.

Die Fahrt verläuft zunächst wieder gleich wie gestern, nur daß wir dann links abbiegen, wo es wieder die Küste hinunter geht. Die Straße ist teilweise sehr gut, neu asphaltiert. Als wir über den Sattel kommen, bietet sich wieder ein traumhafter Ausblick! Kaum bin ich stehengeblieben, um ihn auf Celloloid (naja, ist heute sicher anderes Material) zu bannen, bleibt ein weißer Golf mit einem jungen Urlaubspaar stehen, die auch die Aussicht bewundern. Da sehe ich wieder einmal, wie wunderbar es ist, mit dem Motorrad statt mit einem Auto unterwegs zu sein! Dort nützen keine sperrangelweit offenen Fenster, nicht einmal ein Cabrio kann das nur annähernd wettmachen. Der Asphalt fließt hier wie ein breiter Streifen den Berg hinunter, zwischendurch schmälert auch eine Baustelle das Vergnügen nicht. Unten an der Küste entlang lassen wir den Monte Ortholithi rechts liegen und erreichen nach einiger Zeit eines der in Griechenland öfters vertretenen Metamorfosi, was aber nicht eine psychologische, philosophische oder religiöse Schulungsstätte ist, sondern schlichtweg ein Ortsnamen. Wird aber nicht von ungefähr sein, denn um sich zu einem zufriedenen und ausgeglichenen Menschen zu verwandeln, das macht Griechenland wirklich leicht. Selbst dann, wenn keine rote TDMs vor einem fahren...

 

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Nach Methana gelangen wir über eine Straße die auf einem kleinen Damm verläuft. Wir umrunden die Insel südlich, wieder eine staubige Baustelle. Nach einer Linkskurve kommt Methana in Sicht, wieder eine dieser griechisch-idyllischen Ortsansichten. Der Ort klettert von der Küste den Berg hinan, im geschützter Hafen liegen unzählige Boote. Das Rund des Hafens wird zusätzlich von einem kleinen Inselchen geschützt, das quer vor der Bucht liegt. Wir rollen ein paar Kurven hinunter und gelangen auf die Strandpromenade, wo sich eine Taverne an die andere reiht. Langsam machen sich Durst- und Hungergefühl bemerkbar und ich hoffe, daß es den anderen auch so geht. Wir machen eine kleine Runde durch den Ort, die Gässchen sind sehr eng und gelangen so wiederum von hinten auf die Prommenade. Schließlich fährt Robert rechts ran, jede Taverne scheint gleich gut wie die andere zu sein.
"Was haltet ihr davon, wenn wir hier etwas trinken?" fragt Robert und handelt sich damit eine Menge dankbarer Blicke ein. Es ist mittlerweile sehr warm geworden, die schattenspendenden Markisen extrem verlockend, mir klebt die Zunge am Gaumen und außerdem brenne ich darauf, mehr über Alice zu erfahren. Kurz darauf ruhen sich unsere Motorräder auf ihren Ständern im Schatten der Palmen und wir auf einem Rattan-Sessel unter der Markise aus.
"Tesseris ellenikus cafedes, parakalo - and water" - für mehr reicht das Griechisch leider nicht, aber der Kellner versteht auch das Gemix. Wir entscheiden uns, doch nichts zu essen, sondern das dafür in gemütlicherer Atmosphäre am Abend ausgiebiger nachzuholen.

"Warst Du schon öfters in Griechenland?" frage ich an Alice.
"Nein, es ist das erstemal."
"Wie bist Du auf die Idee gekommen, hierher zu fahren?"
"Vor ungefähr fünfzwanzig Jahren war ich mit meinen Eltern hier herunten. Seitdem hab ich es mir immer wieder vorgenommen, herunterzufahren, aber es kam immer etwas dazwischen. Meistens ging es wegen der Arbeit nicht aus. Aber in letzter Zeit hat sich einiges geändert und Alex hat noch ein wenig mitgeholfen. Er war schon ein paarmal hier. Und ihr? Kennt ihr das Land gut?"
"Robert war schon öfters herunten, so hab ich jetzt Drepano kennengelernt. Freiwillig hätte ich hier in diese versteckte Ecke wohl nie gefunden." Ich muß grinsen bei dem Gedanken, wie ich vorgestern völlig planlos durch die Gassen und Gässchen hinterhergefahren bin. "Ich selbst war noch nie herunten. Aber ich bin begeistert! Du warst doch gestern auch bei den Dolinen?"
"Oh jaah!" - eine fast lustvoll-schwärmerische Äußerung, die mich zu einem Schmunzeln bringt.
"Das war eine Atmosphäre! Als ihr gekommen seid, war ich schon minestens eine Stunde unten. Völlige Stille. Manchmal das Summen von einem Insekt oder Vogelzwitschern. Sonst nichts. Diese ungewöhnliche Ruhe, auch wenn es nicht wirklich still war" - ihre Blicke weilen in der Ferne, als sie das erzählt.
"Weißt Du, was ich mir gedacht habe, als ich unten war?" frage ich sie nach ein paar Augenblicken. Auf ihren fragenden Blick fahre ich fort: "Es müßte schön sein, eine Nacht dort zu verbringen. Es hat sich ganz seltsam dort unten angespürt. So, als ob es ein heiliger Ort wäre, wo nachts Naturwesen sich unter dem Baum in der Mitte versammeln. Vielleicht tanzen sie oder erzählen Geschichten oder sind einfach nur froh, daß sie sind" - Sie blickt mich ganz eigenartig an, ich möchte fast sagen liebevoll, und meint ganz leise "so...? Hast du das auch so gespürt...?" - ich nicke und schaue hinaus auf das Blau des Meeres, wo Millionen kleiner Lichtchter auf den winzigen Wellen tanzen, die ein Windhauch eben geboren hat.

Es ist wohl ganz gut, daß der Ober unser Wasser und die Kasffees bringt. Mit einem Ruck sind wir wieder in der Gegenwart, doch von der fast ein wenig mystischen Übereinkunft bleibt noch etwas in der Luft hängen. Aber schließlich sind wir zu viert und nicht zu zweit unterwegs, so wende ich mich an Robert.
"Hey, Robert, sprich, was hast Du denn jetzt für uns geplant?"
"Erst mal einen Kaffee trinken" kommt die lakonische Antwort wie aus der Pistole geschossen. Rober liebt den griechischen Kaffee er kommt durchaus einen Tag lang nur mit Ellenikos aus, nahezu ohne Wasser.
"Na - und dann?"
"Irgendwo hinter Poros steht etwas von einem Zitronenhain im Reiseführer"
"Zitronenhain?"
"Durch den kann man eine Strecke wandern und am Ende soll eine Taverne sein"
Ich hole aus meinem Seitenkoffer den Reiseführer, kann aber nichts derartiges Entdecken. Was Karten und Informationen betrifft, hat Robert offenbar den besseren Griff. Auch der Tip für die Straßenkarte ist von ihm gekommen.
"Gute Idee," meldet sich Michael zu Wort, "dann können wir ja untenrum zurückfahren und nochmal die breite Straße...?"
"Ja, prima Idee!" ich freue mich auch darauf und erzähle Alice von unserer gestrigen Rennstrecken-Entdeckung. Auch sie ist sofort Feuer und Flamme. Verwundert sehe ich sie an.
"Du scheinst auch keine typische deutsche Bikerin zu sein."
"Wie meinst Du das?"
"Bis dato hab ich die Erfahrung gemacht, daß die meisten aus Eurer Gegend auch bei glühender Hitze im Leder fahren, aus Angst vor einem Unfall."
"Angst? Das kann ich gut nachvollziehen."
"Und wieso freust Du Dich dann auf unsere Rennstrecke und bist jetzt locker mit Jeans, T-Shirt und Turnschuhen unterwegs?"
"Ich habe nur gesagt, daß ich es nachvollziehen kann. Heute habe ich diese Ängste zum Glück nicht mehr." Auf meinen fragend Blick hin fährt sie fort: "Ich hatte einen sehr schweren Unfall, genau genommen müßte ich statt mit dem Motorrad mit dem Rollstuhl fahren." Nach einer kurzen Pause fährt sie fort "Aber das erzähl ich vielleicht ein anderes Mal. Das mit dem Zitronenhain interessiert mich." und so ist diese Geschichte vorerst einmal auf Eis gelegt.

 

- 3 -

Nachdem wir bezahlt haben, schlendern wir, nach wie vor siesta-faul, zu unseren Gefährten. Gerade als ich um die Palme biege, höre ich noch kurz das Geknatter einer ausgewachsenen Enduro, bevor der Motor abgestellt wird. Wieder einmal ist die griechische Bike-Täuschung voll gelungen! Ich glaube, daß ich bis in alle Ewigkeiten darauf hereinfallen und ebenso nie verstehen werde, wie die das machen: Was sich wie eine ausgewachsene Sechsfünfziger angehört hat, entpuppt sich als winziges Mopperl, dem in unseren breiten höchstens ein singende Reiben als Motorgeräusch entstammen würde. Der Besitzer des kleinen roten Vehikels hat offenbar einen Sinn für Kontraste und so hat er - trotz massig vorhandener anderer Abstellmöglichkeiten - direkt neben Akbar geparkt. Kurz blitzt der Gedanke auf, das Ding als Souvenir in einen Sattelkoffer zu stecken.

Bevor wir In gleicher Reihenfolge, wie wir gekommen sind, Methana verlassen, versorgen wir uns noch mit frischem Wasser. Robert kommt unverständlicherweise ohne aus, aber wir anderen haben das starke Bedürfnis, bei den Zwischenstops zu trinken. Die Hitze einerseits und der Fahrtwind, der eventuellen Schweiß sofort auftrocknet, diese Kombination raubt dem Körper viel Flüßigkeit. Nach wie vor liegt mittägliche Ruhe über dem Ort, auch die wenigen Kellner und Kioskverkäufer dösen vor sich hin.
"Gentlemen, start your engines" sage ich, "naja, stimmt nicht so ganz" mit einem Zwinkern zu Alice hinüber. Sie fühlt sich aber offenbar trotzdem betroffen, die Motoren springen alle auf Anhieb an und so rollt unser kleiner Konvoi wieder aus dem Ort, die paar Kurven hinan und über Aghios Georgios Richtung Süden. Wir passieren Poros und nach einiger Zeit erreichen wir das Südufer, Aghios Anthanisou. Da Robert etwas davon gesprochen hatte, daß sich der Zitronenhain weiter nördlich befinden müsse, halten wir um zu überlegen. Robert will aus Rücksicht nicht zurückfahren, aber ich überrede ihn dazu, doch noch einen Versuch zu unternehmen und zurückzufahren. Auf dem Weg wieder nach Norden sehe ich aus dem Augenwinkel gerade noch eine Abzweigung, die weiter hinten Zitronenbäumchen durchblitzen läßt. Das heißt - genau genommen ist es nur eine Vermutung aufgrund der kleinen gelben Punkte, von denen ich hoffe, daß es Zitronen sind. Das letzte Stück war ich vorangefahren, so bremse ich jetzt, drehe um und nehme die eben erspähte unscheinbare kleine Straße. Sie windet sich ein paar Kurven und dann tauchen tatsächlich links und rechts Zitronenbäumchen auf, die kleine Früchte tragen. Der Weg ist sehr schmal, aus grobem gegossenen Beton, den man hierzulande manchmal bei extrem strapazierten, steilen Straßenstücken in Ortschaften antrifft. An einer kleinen Abzweigung bleiben wir stehen. Ab hier geht ein Hohlweg weiter, den ich mit Akbar lieber nicht nehme, wer weiß, ob ich umdrehen kann. Einer der seltenen Momente, in denen ich mir eine leichte Enduro wünsche. Wir steigen alle ab und gehen ein Stück in den Hohlweg hinein. Alice geht vorne weg, gedankenverloren ziehe ich die Luft ein, die nach Zitronen duftet. Die Stimmung hier hat eine entfernte Ähnlichkeit mit der in den Dolinen. Der durchbrochene Schatten auf dem Boden unter den Bäumchen erinnert an einen Scherenschnitt, manchmal wippt ein Schmetterling vorbei. Ohne Zweifel, es ist der Weg zu der Taverne und der Reiz, diese zu erreichen groß. Leider ist mittlerweile der Tag schon so fortgeschritten, daß wir umkehren müssen. Die Strecke, die wir noch vor uns haben, ist doch noch ganz ordentlich.

So kehren wir schweren Herzens um und wandern die paar Minuten zurück. An einer Stelle ist eine Zitrone so nah, daß ich sie greifen kann. Ich pflücke sie ab und drücke sie Alice, die neben mir geht, in die Hand. "Als Pfand, daß Du vielleicht wiederkommst und die Taverne erreichst. - Und als Erinnerung". Strahlend lächelt sie mich wortlos an, wie eine Woge strömt Wärme von meinem Herz aus durch den ganzen Körper. Ich fühle mich wie eine Glühbirne, in der eben der Glühfaden angegangen ist.

Die folgende Fahrt führt durch die wie auf einer Perlenkette aufgefädelten Dörfchen Aghios Hatalambos, Metochi, Solinari, Pikadia, Aghios Ekaterini, Plepi und Akti Ydras, bis in Thermisia wieder die 90-Grad-Linkskurve an die Abzweigung zu unserer Rennstrecke erinnert. Fröhlich jagen wir den Berg hinauf, um unten danach am gleichen Ort wie gestern wieder zu halten, wo wir, auch wie gestern, begeistert die Strecke rekapitulieren. Nach der kurzen Pause gehts weiter nach Didima, rechts ab über Neochori, um dann nach Trachia links in Richtung Nafplio abzubiegen. Die Kurven in die untergehende Sonne sind wieder ein Erlebnis, umso schöner, sie gemeinsam mit Alice erleben zu können. Ohne daß viel gesprochen werden konnte, ist sie mir mittlerweile seltsam nahe und irgendwie fühle ich, daß es nicht einseitig ist.

 

- 4 -

Schließlich erreichen wir Drepano wieder, die Sonne steht schon so tief, daß keine Sonnenpartien mehr zu sehen sind.
"Hast du Lust", wendet sich Robert an Alice, "heute mit Alex und uns gemeinsam zu Abend zu essen?"
"Ich glaube sicher, daß Alex möchte. Mich jedenfalls würde es freuen."
"Schön! Treffen wir uns um - sagen wir - acht in der gleichen Taverne wie gestern?"
"Ja, bis dann" und schon verschwindet die TDM hinter der nächsten Häuserecke.

Es dauert nicht mehr lange bis dahin. Duschen und frische Klamotten anziehen geht sich aber gemütlich aus. Da es meinem Zeh mittlerweile besser geht, entschließe ich mich ebenfalls zu dem Spaziergang. In der Taverne sind genügend Tische frei und so suchen wir uns einen am Rand gelegenen aus. Der erste Schluck Bier tut ungeheuer gut: es bleibt kurz die Luft weg und dann breitet sich wunderbares Wohlbefinden aus. Wir schauen zwar die Speisekarte durch, warten aber mit dem Bestellen noch.
"Ach, das war wieder ein wunderbarer Tag!" Ich freue mich und fühle mich rundherum unwahrscheinlich wohl.
"Alice hat da wohl einiges beigetragen" meint Robert wie nebenbei und schaut mich von der Seite mit einem leichten Schmunzeln an.
"Wie kommst Du denn da drauf...?"
"Ich meine nur so. Reine Vermutung, versteht sich."
"Es ist schon seltsam, weißt Du. Wenn ich so die Stufen anschaue, wie sich diese Begegnung ergeben hat... zuerst Korinth, dann in den Dolinen und nun heute. Wir haben ja wirklich nicht viel miteinander gesprochen. So ein Fahrtag gibt dazu wenig die Möglichkeit, da konzentriert sich doch eher alles auf das Fahren und die Erlebnisse, die damit zusammenhängen. Oder man ist abgeschlafft und möchte einfach mal alle Viere von sich strecken. Und doch - einige wenige Momente und es kam mir wie eine Art Wiedersehen vor. Also Zufall kann das keiner sein".
"Natürlich war das Zufall, was denn sonst." Robert provoziert ganz gerne manchmal, speziell jetzt, zumal er genau weiß, daß ich der Überzeugung bin, daß es keine Zufälle gibt.
"Robert, du kennst doch meine Ansicht dazu. Es kann schlichtweg keine geben. Da würde doch alles zusammenbrechen oder besser noch: Es hätte erst gar nichts entstehen können!"
Michael lehnt sich seufzend zurück. Er kennt die Diskussionen.
"Ach was! Es ist alles Evolution und ergibt sich einfach. Wie soll zum Beispiel diese Begegnung kein Zufall sein? Niemand wußte, daß du und sie zu diesem Zeitpunkt hierhergefahren seid. Ihr wart eben zufällig zur selben Zeit am selben Ort. Und außerdem, wer sollte das denn lenken?"

"Schaut mal!" wirft Michael dazwischen, "da kommt ja Alice. Aber sie ist offenbar alleine."
"Hey, Alice, wo hast du Alex gelassen?" Alice sieht gar nicht so munter drein wie zuvor. Sie setzt sich zu uns an den Tisch und man hat den Eindruck, als ob sie gleich wieder aufstehen wollte.
"Manches kommt oft anders als man denkt." Sie klingt bedrückt. Und nach einer Pause setzt sie leise hinzu: "Und als man es gerne möchte".
Wir schweigen betroffen und warten, bis sie fortfährt.
"Alex hat ein SMS bekommen, daß bei seiner Schwester Krebs festgestellt wurde. Nun möchte er möglichst schnell nach Hause." 'Schwester?' denke ich bei mir. "Dann ist das auch Deine Schwester"?
"Nein," wendet sich Alice mir zu, "Alex ist mein Halbbruder. Also das ist so: Mein Vater hat seine Frau bei einem Unfall verloren, meine Mutter kennengelernt und dann haben sie geheiratet. Alex und Matti - Mathilde meine ich - sind die Kinder, die mein Vater mit in die Ehe gebracht hat. Sie waren damals drei Jahre alt und sind Zwillinge. Alex hat eine sehr enge Beziehung zu seiner Schwester. Schon seit einigen Wochen hat sie Blutungen und heute ist die Diagnose gekommen. Matti ist völlig fertig, was ich ja auch verstehe. Aber irgendwie mußte es so kommen." Sie hielt kurz inne, als die kecke Kellnerin kam, um sie nach ihrem Getränk zu fragen. "Nun möchte Alex gleich morgen früh zurückfahren".
"Und du?" frage ich Alice. Meine Enttäuschung ist riesig.
"Ich werde wohl mitfahren, denn Alex geht es auch nicht besonders gut dadurch. Die zwei hängen wirklich so zusammen, wie man es nur kann." Das gibt es doch nicht! Zuerst Diese Zufallskette und nun das? Das kann doch nicht sein! Aber es hilft wohl nichts, ich muß es wohl respekrieren, so sehr es mich auch enttäuscht.
"Und jetzt?"
"Ich werde noch kurz etwas mit euch trinken und dann gehe ich zu Alex zurück." Alles rundherum wirkt irgendwie blechern, die Musik aus dem Lautsprecher, die Gespräche, ja sogar das Vogelzwitschern und Grillenzirpen. Es ist, wie man so bildlich sagt 'die Luft heraußen', nichts scheint mir mehr sonderlich interessant. Selbst die lustige Kellnerin kann mich nicht aufheitern, als sie mich fragt "Do you want to eat today something more then a plate?" Mein Grinsen muß wohl ein wenig gezwungen wirken, denn sie hört auf zu blödeln und fragt, ob wir schon etwas wollen. Also bestellen Robert, Michael und ich, während Alice lediglich ein Glas Retsina ordert.

"Mit Matti hab ich das schon länger kommen sehen," beginnt sie. "Sie möchte es jedem und allen recht machen und verleugnet sich dadurch total. Ihr Mann ist sagenhaft eifersüchtig, sie darf praktisch nichts machen. Das geht so weit, daß er möchte, daß sie neben ihm sitzt, wenn er fernsieht. Wie oft hab ich zu ihr gesagt, daß sie sich endlich befreien muß, aber sie sagt, daß ihr Harmonie wichtiger wäre. Jetzt haben wir die Bescherung, nun hat sie nur die Wahl: Entweder sie ändert sich schlagartig oder sie muß die ganze dramatische Krebs-Geschichte durchgehen." Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. "Es ist dazu noch im Bereich der Gebärmutter und Eierstöcke. Was das bei einer OP bedeutet...".
"Hat sie sich denn nicht früher untersuchen lassen?" fragt Robert.
"Nein. Sie ist bei einer Homöopathin in Behandlung und..."
"...aber das ist doch völlig verantwortungslos!" unterbricht sie Michael. Homöopathie kann man doch nicht bei so etwas anwenden. Wenn sie sich früher hätte untersuchen lassen, wäre das rausgeschnitten worden und alles wäre ok!"
Alice antwortet nicht sofort. Sie sieht Michael an und fragt ihn dann ganz ruhig: "Bist du Arzt, daß du dich so gut auskennst?" verdattert runzelt er die Stirn.
"Nein, wieso? Das weiß doch jeder."
"Ah so meinst du das. Du hast wohl noch nie die Notwendigkeit gehabt, dich mit Ursachen für Krankheiten auseinanderzusetzen?"
"Nein, zum Glück nicht."
"Also das erklärt deine Äußerung. Ist dir klar, daß jede, aber auch wirklich jede Krankheit direkt oder indirekt seelischen Ursprungs ist?"
"Na ja, das kann schon sein, aber was soll man bei Krebs denn sonst tun?"
"Michael, besonders Krebs ist eine Krankheit, die seelische Ursachen hat. Eine Freundin von mir ist Psychologin und arbeitet mit Krebspatienten, kennt also viele Leute mit dieser Krankheit. Wenn Menschen, die sie haben, nicht etwas bei sich ändern, dann kommt sie nach einer Operation und Chemo und so weiter fast immer wieder. Was glaubst du wohl warum?"
Nachdenklich runzelt Michael die Stirn. "Aber wenn das schon soweit fortgeschritten ist, daß bereits Blutungen da sind? Da muß ja bereits etwas aufgebrochen sein. Daß muß man ja wohl rausschneiden!"
"Weißt du, es führt jetzt etwas zu weit, dir die Vorgangsweise in ein paar Minuten zu erklären, wie Krankheiten entstehen und wie man ihnen begegnen kann. Laß dir aber gesagt sein: Krankheit hat seelischen Ursprung. Die Seele beeinflußt den Körper, man kann sagen, sie beeindruckt ihn, sie übt Druck auf ihn aus. Immer. Wenn dieser Druck mit den Naturgesetzen im Einklang ist, dann fördert er den Körper, steigert die Aktivität und Gesundheit. Ein Beispiel: Wenn du verliebt bist oder wenn du nur ein gutes Gespräch hast, dann bist du doch viel weniger müde. Du gibst dem Körper Energie. Wenn du aber gegen ihn handelst, dann nimmst du sie ihm oder noch schlimmer: Du leitest deine eigene Energie fehl und dann kommt er in Panik. Krebs ist ein Körper in Panik, der nicht weiß, was er tun soll und so planlos beginnt zu wuchern. Aber ich möchte dir keinen medizinischen Vortrag halten. Denk einfach mal drüber nach." Alice nimmt einen Schluck Wein, während man sieht, daß Michael über das Gesagte nachdenkt.
"Das klingt irgendwo einleuchtend. Hast du dir da schon viele Gedanken darüber gemacht?"
"Wie ich schon heute Nachmittag gesagt habe, hatte ich einen Unfall. Vorher habe ich ein ganz gewöhnliches Leben geführt, Überstunden gemacht und bin meinem Hobby am Abend nachgekommen. Mit dem halben Jahr Krankenhaus hab ich allerdings dann jede Menge Zeit gehabt nachzudenken. Interessiert hab ich mich immer schon für Esoterik und in diesen Monaten sind dann viele Gedanken von früher wieder hervorgekommen. Aber den Ausschlag hat sicher die teilweise verzweifelte und hoffnungslos scheinende Lage gemacht. Und nun sehe ich viele Dinge ganz anders. Aber die Geschichte ist so lang, das holen wir ein anderes Mal nach. Möchte mich jetzt doch etwas um Alex kümmern." Sie nimmt noch den letzten Schluck und sucht nach dem Geld.
"Nein, laß", sagt Robert, "das zahlen wir mit".
"Danke. Es tut mir so leid, daß das alles jetzt so gekommen ist! Ich habe mich richtig darauf gefreut, mit Euch in der Gegend herumzufahren und am Abend zu diskutieren. Wenn ihr möchtet", kommt sie mir zuvor und wendet sie sich an mich, "geb ich euch meine Adresse, dann können wir ja später in Kontakt bleiben."
Ich ziehe eine kleine Karte heraus und sie schreibt ihren Namen, Telefonnummer und E-Mailadresse darauf.
"Ich find es auch wirklich ganz schade", sage ich und das von tiefstem Herzen und versuche mich zu trösten: "Aber München ist ja nicht soo weit weg".
"Von dir aus ja nicht", beschwert sich Robert, "du hast da ja leicht lachen. Aber wenn ich an die Autobahnkilometer denke..."
"Also dann, Jungs, macht es gut, es war zwar kurz, aber sehr schön und es hat mich sehr gefreut". Wir schütteln uns noch die Hände, ich bin zuletzt dran. Sie hält meine Hand etwas länger in ihrer, als sie sich schon zum Gehen umdreht. Traurig blicke ich ihr hinterher, als sie ihr rechtes Bein über den Sattel schwingt, den Ständer hochklappt und startet. Sie hebt noch einmal die Hand und winkt uns zu, gleich darauf verschwindet sie hinter der anderen Taverne und das Motorengeräusch verstummt.


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