- 1 -
Vielleicht war's der Retsina, was weiß
ich - nein, der kanns nicht gewesen sein, denn Alkohol in solch eher geringer
Dosis fördert doch eher den Schlaf - egal. Jedenfalls habe ich tatsächlich
vier Stunden geschlafen. Um fünf bin ich schon wieder wach, auch
diese Nacht habe ich unbeschadet überstanden. Bin weder überfahren
worden, obwohl der Verkehr neben meiner Matratze heftig war, noch hat
mich der Sägemann erwischt. Ob man sich nach ein, zwei Jahren sogar
daran gewöhnt? Urlaut rapst der Reißverschluß das Halbrund
entlang, mit jeden Zentimeter fällt die Außenwand des Zelts
ein wenig tiefer, bis das Loch so groß ist, daß ich hinauskriechen
kann. Nun steh ich auf allen vieren davor und überlege wieder, wie
ich hochkomme, offenbar hab ich mich kein einziges Mal umgedreht, so steif
bin ich jetzt. Mit einem entschlossenen Ruck bring ich mich doch in die
Lotrechte und wiederhole meinen gestrigen Ablauf: Besuch bei den klomuschelsuchenden
Ranken im Duschwaschklobetonblock mit Löchern und anschließendem
Starndspaziergang.
Heute kommt mir die Sonne bedeutend heller
vor als gestern, die Tauben gurren sympathisch (hört, hört!),
das Riff hindert mich zwar ebenso an einem Bad im Meer aber ich betrachte
es direkt liebevoll. Die Steinchen in den Sandalen finde ich lustig -
irgendwie bin ich nicht ganz normal. Auch bin ich zehn Kilo leichter als
gestern. Weil wie sollte ich sonst den federnden Gang erklären. Das
einzige, was nicht so ganz hinhaut, ist das Lesen. Arge Konzentrationsmängel
machen mir ständig einen Strich durch die Rechnung. Alle drei Sätze
blicke ich auf und beobachte die paar Zelte und Wohnwägen im Umkreis,
die Ameisen am Boden, den Spatz, der drüben herumhüpft, das
Licht, das beginnt durch die lose Schilfdecke zu sickern und dann lese
ich die gleichen Sätze wieder, was mir alles gar nicht auffällt.
Nach einer kleinen Ewigkeit beginnt es sich unwillig im Zelt von Robert
und Michael zu bewegen, ich mach mir schon Hoffnungen aber es hat sich
offenbar nur einer von ihnen umgedreht. Nach einer weiteren Ewigkeit wird
es dann aber ernst. Der Reißverschluß beginnt zu ripsen, Roberts
Kopf schiebt sich aus der Öffnung und er blickt wie ein blindes Küken
in den prächtigen Tag. Mit gar nicht zur Mimik passender Flüssigkeit
schlüpft er dann aus dem Zelt, ich bin mir aber trotzdem nicht sicher,
ob er nicht erschrickt, wenn ich 'guten Morgen' sage. So mache ich nur
eine begüßende Handbewegung, die es mir bestätigt: Er
sieht noch nichts.
Jede Zeit vergeht, so auch die des Duschens
der beiden, des Einkaufens von Wurst, Käse und Milch, des Frühstückens
und des Bike-sattelns. Wir haben vereinbart, daß wir uns am Dorfplatz
nahe der gestrigen Taverne treffen. Ich dränge sehr zur Pünktlichkeit,
was mir versteckt fragende Seitenblicke meiner zwei Freunde einhandelt.
Vermutlich habe ich immer wieder ein unmotiviertes Grinsen aufgesetzt
- man weiß ja, wie das so ist. Wir schaffen es tatsächlich,
um fünf vor wegzukommen und rollen pünktlich am Treffpunkt ein.
Eine Minute später rollt auch die ersehnte TDM herunter auf den Platz.
"Gut geschlafen?" begrüße ich Alice gut gelaunt.
"Es könnte besser gewesen sein," entgegenet sie, wobei
sie die Nase rümpft und mit dem Kopf wackelt. Dann blittzen jedoch
gleich wieder die Teufelchen in den Augen, sie lacht und schüttelt
den Kopf, daß ihre schwarze Mähne durch die Luft flieht "nein,
ich habe prima geschlafen, hab mich doch auf heute gefreut. Und ihr?",
dann gähnt sie trotzdem herzhaft.
"Na ja..." sage ich vage und grinse.
"Habt ihr euch schon was ausgedacht?" Sie streckt sich und reckt
die Arme gegen den Himmel. Das macht sich gut, so kommt ihr T-Shirt voll
zur Geltung... Heute trägt sie zudem ebenfalls Jeans und auch Turnschuhe
wie wir.
Wir haben auch noch nicht über die Route gesprochen, so breiten wir
die Karte über einen Sattel aus und stecken die Köpfe zusammen.
"Gestern sind wir untenrum gefahren, Monte Didimo und die Dolinen",
erzählt Robert. "Was haltet ihr davon, wenn wir heute die Ostseite
der Argolis in Angriff nehmen?"
Wir
sind alle einverstanden und so blubbert er gleich darauf mit seiner Transalp
voran, wieder den gleichen Weg wie gestern in Richtung Süden aus
Drepano hinaus. Egoistischerweise mache ich das Schlußlicht, so
habe ich alles im Blick, Alice wird nur leider immer wieder von Michael
verdeckt. Ich kann mich nicht erinnern, so gerne die Rückseite eines
Bikes beobachtet zu haben.
Die Fahrt verläuft zunächst wieder
gleich wie gestern, nur daß wir dann links abbiegen, wo es wieder
die Küste hinunter geht. Die Straße ist teilweise sehr gut,
neu asphaltiert. Als wir über den Sattel kommen, bietet sich wieder
ein traumhafter Ausblick! Kaum bin ich stehengeblieben, um ihn auf Celloloid
(naja, ist heute sicher anderes Material) zu bannen, bleibt ein weißer
Golf mit einem jungen Urlaubspaar stehen, die auch die Aussicht bewundern.
Da sehe ich wieder einmal, wie wunderbar es ist, mit dem Motorrad statt
mit einem Auto unterwegs zu sein! Dort nützen keine sperrangelweit
offenen Fenster, nicht einmal ein Cabrio kann das nur annähernd wettmachen.
Der Asphalt fließt hier wie ein breiter Streifen den Berg hinunter,
zwischendurch schmälert auch eine Baustelle das Vergnügen nicht.
Unten an der Küste entlang lassen wir den Monte Ortholithi rechts
liegen und erreichen nach einiger Zeit eines der in Griechenland öfters
vertretenen Metamorfosi, was aber nicht eine psychologische, philosophische
oder religiöse Schulungsstätte ist, sondern schlichtweg ein
Ortsnamen. Wird aber nicht von ungefähr sein, denn um sich zu einem
zufriedenen und ausgeglichenen Menschen zu verwandeln, das macht Griechenland
wirklich leicht. Selbst dann, wenn keine rote TDMs vor einem fahren...
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- 2 -
Nach Methana gelangen wir über eine
Straße die auf einem kleinen Damm verläuft. Wir umrunden die
Insel südlich, wieder eine staubige Baustelle. Nach einer Linkskurve
kommt Methana in Sicht, wieder
eine dieser griechisch-idyllischen Ortsansichten. Der Ort klettert von
der Küste den Berg hinan, im geschützter Hafen liegen unzählige
Boote. Das Rund des Hafens wird zusätzlich von einem kleinen Inselchen
geschützt, das quer vor der Bucht liegt. Wir rollen ein paar Kurven
hinunter und gelangen auf die Strandpromenade, wo sich eine Taverne an
die andere reiht. Langsam machen sich Durst- und Hungergefühl bemerkbar
und ich hoffe, daß es den anderen auch so geht. Wir machen eine
kleine Runde durch den Ort, die Gässchen sind sehr eng und gelangen
so wiederum von hinten auf die Prommenade. Schließlich fährt
Robert rechts ran, jede Taverne scheint gleich gut wie die andere zu sein.
"Was haltet ihr davon, wenn wir hier etwas trinken?" fragt Robert
und handelt sich damit eine Menge dankbarer Blicke ein. Es ist mittlerweile
sehr warm geworden, die schattenspendenden Markisen extrem verlockend,
mir klebt die Zunge am Gaumen und außerdem brenne ich darauf, mehr
über Alice zu erfahren. Kurz darauf ruhen sich unsere Motorräder
auf ihren Ständern im Schatten der Palmen und wir auf einem Rattan-Sessel
unter der Markise aus.
"Tesseris ellenikus cafedes, parakalo - and water" - für
mehr reicht das Griechisch leider nicht, aber der Kellner versteht auch
das Gemix. Wir entscheiden uns, doch nichts zu essen, sondern das dafür
in gemütlicherer Atmosphäre am Abend ausgiebiger nachzuholen.
"Warst
Du schon öfters in Griechenland?" frage ich an Alice.
"Nein, es ist das erstemal."
"Wie bist Du auf die Idee gekommen, hierher zu fahren?"
"Vor ungefähr fünfzwanzig Jahren war ich mit meinen Eltern
hier herunten. Seitdem hab ich es mir immer wieder vorgenommen, herunterzufahren,
aber es kam immer etwas dazwischen. Meistens ging es wegen der Arbeit
nicht aus. Aber in letzter Zeit hat sich einiges geändert und Alex
hat noch ein wenig mitgeholfen. Er war schon ein paarmal hier. Und ihr?
Kennt ihr das Land gut?"
"Robert war schon öfters herunten, so hab ich jetzt Drepano
kennengelernt. Freiwillig hätte ich hier in diese versteckte Ecke
wohl nie gefunden." Ich muß grinsen bei dem Gedanken, wie ich
vorgestern völlig planlos durch die Gassen und Gässchen hinterhergefahren
bin. "Ich selbst war noch nie herunten. Aber ich bin begeistert!
Du warst doch gestern auch bei den Dolinen?"
"Oh jaah!" - eine fast lustvoll-schwärmerische Äußerung,
die mich zu einem Schmunzeln bringt.
"Das war eine Atmosphäre! Als ihr gekommen seid, war ich schon
minestens eine Stunde unten. Völlige Stille. Manchmal das Summen
von einem Insekt oder Vogelzwitschern. Sonst nichts. Diese ungewöhnliche
Ruhe, auch wenn es nicht wirklich still war" - ihre Blicke weilen
in der Ferne, als sie das erzählt.
"Weißt Du, was ich mir gedacht habe, als ich unten war?"
frage ich sie nach ein paar Augenblicken. Auf ihren fragenden Blick fahre
ich fort: "Es müßte schön sein, eine Nacht dort zu
verbringen. Es hat sich ganz seltsam dort unten angespürt. So, als
ob es ein heiliger Ort wäre, wo nachts Naturwesen sich unter dem
Baum in der Mitte versammeln. Vielleicht tanzen sie oder erzählen
Geschichten oder sind einfach nur froh, daß sie sind" - Sie
blickt mich ganz eigenartig an, ich möchte fast sagen liebevoll,
und meint ganz leise "so...? Hast du das auch so gespürt...?"
- ich nicke und schaue hinaus auf das Blau des Meeres, wo Millionen kleiner
Lichtchter auf den winzigen Wellen tanzen, die ein Windhauch eben geboren
hat.
Es ist wohl ganz gut, daß der Ober
unser Wasser und die Kasffees bringt. Mit einem Ruck sind wir wieder in
der Gegenwart, doch von der fast ein wenig mystischen Übereinkunft
bleibt noch etwas in der Luft hängen. Aber schließlich sind
wir zu viert und nicht zu zweit unterwegs, so wende ich mich an Robert.
"Hey, Robert, sprich, was hast Du denn jetzt für uns geplant?"
"Erst mal einen Kaffee trinken" kommt die lakonische Antwort
wie aus der Pistole geschossen. Rober liebt den griechischen Kaffee er
kommt durchaus einen Tag lang nur mit Ellenikos aus, nahezu ohne Wasser.
"Na - und dann?"
"Irgendwo hinter Poros steht etwas von einem Zitronenhain im Reiseführer"
"Zitronenhain?"
"Durch den kann man eine Strecke wandern und am Ende soll eine Taverne
sein"
Ich hole aus meinem Seitenkoffer den Reiseführer, kann aber nichts
derartiges Entdecken. Was Karten und Informationen betrifft, hat Robert
offenbar den besseren Griff. Auch der Tip für die Straßenkarte
ist von ihm gekommen.
"Gute Idee," meldet sich Michael zu Wort, "dann können
wir ja untenrum zurückfahren und nochmal die breite Straße...?"
"Ja, prima Idee!" ich freue mich auch darauf und erzähle
Alice von unserer gestrigen Rennstrecken-Entdeckung. Auch sie ist sofort
Feuer und Flamme. Verwundert sehe ich sie an.
"Du scheinst auch keine typische deutsche Bikerin zu sein."
"Wie meinst Du das?"
"Bis dato hab ich die Erfahrung gemacht, daß die meisten aus
Eurer Gegend auch bei glühender Hitze im Leder fahren, aus Angst
vor einem Unfall."
"Angst? Das kann ich gut nachvollziehen."
"Und wieso freust Du Dich dann auf unsere Rennstrecke und bist jetzt
locker mit Jeans, T-Shirt und Turnschuhen unterwegs?"
"Ich habe nur gesagt, daß ich es nachvollziehen kann. Heute
habe ich diese Ängste zum Glück nicht mehr." Auf meinen
fragend Blick hin fährt sie fort: "Ich hatte einen sehr schweren
Unfall, genau genommen müßte ich statt mit dem Motorrad mit
dem Rollstuhl fahren." Nach einer kurzen Pause fährt sie fort
"Aber das erzähl ich vielleicht ein anderes Mal. Das mit dem
Zitronenhain interessiert mich." und so ist diese Geschichte vorerst
einmal auf Eis gelegt.
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- 3 -
Nachdem
wir bezahlt haben, schlendern wir, nach wie vor siesta-faul, zu unseren
Gefährten. Gerade als ich um die Palme biege, höre ich noch
kurz das Geknatter einer ausgewachsenen Enduro, bevor der Motor abgestellt
wird. Wieder einmal ist die griechische Bike-Täuschung voll gelungen!
Ich glaube, daß ich bis in alle Ewigkeiten darauf hereinfallen und
ebenso nie verstehen werde, wie die das machen: Was sich wie eine ausgewachsene
Sechsfünfziger angehört hat, entpuppt sich als winziges Mopperl,
dem in unseren breiten höchstens ein singende Reiben als Motorgeräusch
entstammen würde. Der Besitzer des kleinen roten Vehikels hat offenbar
einen Sinn für Kontraste und so hat er - trotz massig vorhandener
anderer Abstellmöglichkeiten - direkt neben Akbar geparkt. Kurz blitzt
der Gedanke auf, das Ding als Souvenir in einen Sattelkoffer zu stecken.
Bevor
wir In gleicher Reihenfolge, wie wir gekommen sind, Methana verlassen,
versorgen wir uns noch mit frischem Wasser. Robert kommt unverständlicherweise
ohne aus, aber wir anderen haben das starke Bedürfnis, bei den Zwischenstops
zu trinken. Die Hitze einerseits und der Fahrtwind, der eventuellen Schweiß
sofort auftrocknet, diese Kombination raubt dem Körper viel Flüßigkeit.
Nach wie vor liegt mittägliche Ruhe über dem Ort, auch die wenigen
Kellner und Kioskverkäufer dösen vor sich hin.
"Gentlemen, start your engines" sage ich, "naja, stimmt
nicht so ganz" mit einem Zwinkern zu Alice hinüber. Sie fühlt
sich aber offenbar trotzdem betroffen, die Motoren springen alle auf Anhieb
an und so rollt unser kleiner Konvoi wieder aus dem Ort, die paar Kurven
hinan und über Aghios Georgios Richtung Süden. Wir passieren
Poros und nach einiger Zeit erreichen wir das Südufer, Aghios Anthanisou.
Da Robert etwas davon gesprochen hatte, daß sich der Zitronenhain
weiter nördlich befinden müsse, halten wir um zu überlegen.
Robert will aus Rücksicht nicht zurückfahren, aber ich überrede
ihn dazu, doch noch einen Versuch zu unternehmen und zurückzufahren.
Auf dem Weg wieder nach Norden sehe ich aus dem Augenwinkel gerade noch
eine Abzweigung, die weiter hinten Zitronenbäumchen durchblitzen
läßt. Das heißt - genau genommen ist es nur eine Vermutung
aufgrund der kleinen gelben Punkte, von denen ich hoffe, daß es
Zitronen sind. Das letzte Stück war ich vorangefahren, so bremse
ich jetzt, drehe um und nehme die eben erspähte unscheinbare kleine
Straße. Sie windet sich ein paar Kurven und dann tauchen
tatsächlich links und rechts Zitronenbäumchen auf, die kleine
Früchte tragen. Der Weg ist sehr schmal, aus grobem gegossenen Beton,
den man hierzulande manchmal bei extrem strapazierten, steilen Straßenstücken
in Ortschaften antrifft. An einer kleinen Abzweigung bleiben wir stehen.
Ab hier geht ein Hohlweg weiter, den ich mit Akbar lieber nicht nehme,
wer weiß, ob ich umdrehen kann. Einer der seltenen Momente, in denen
ich mir eine leichte Enduro wünsche. Wir steigen alle ab und gehen
ein Stück in den Hohlweg hinein. Alice geht vorne weg, gedankenverloren
ziehe ich die Luft ein, die nach Zitronen duftet. Die Stimmung hier hat
eine entfernte Ähnlichkeit mit der in den Dolinen. Der durchbrochene
Schatten auf dem Boden unter den Bäumchen erinnert an einen Scherenschnitt,
manchmal wippt ein Schmetterling vorbei. Ohne Zweifel, es ist der Weg
zu der Taverne und der Reiz, diese zu erreichen groß. Leider ist
mittlerweile der Tag schon so fortgeschritten, daß wir umkehren
müssen. Die Strecke, die wir noch vor uns haben, ist doch noch ganz
ordentlich.
So kehren wir schweren Herzens um und wandern
die paar Minuten zurück. An einer Stelle ist eine Zitrone so nah,
daß ich sie greifen kann. Ich pflücke sie ab und drücke
sie Alice, die neben mir geht, in die Hand. "Als Pfand, daß
Du vielleicht wiederkommst und die Taverne erreichst. - Und als Erinnerung".
Strahlend lächelt sie mich wortlos an, wie eine Woge strömt
Wärme von meinem Herz aus durch den ganzen Körper. Ich fühle
mich wie eine Glühbirne, in der eben der Glühfaden angegangen
ist.
Die folgende Fahrt führt durch die wie
auf einer Perlenkette aufgefädelten Dörfchen Aghios Hatalambos,
Metochi, Solinari, Pikadia, Aghios Ekaterini, Plepi und Akti Ydras, bis
in Thermisia wieder die 90-Grad-Linkskurve an die Abzweigung zu unserer
Rennstrecke erinnert. Fröhlich jagen wir den Berg hinauf, um unten
danach am gleichen Ort wie gestern wieder zu halten, wo wir, auch wie
gestern, begeistert die Strecke rekapitulieren. Nach der kurzen Pause
gehts weiter nach Didima, rechts ab über Neochori, um dann nach Trachia
links in Richtung Nafplio abzubiegen. Die Kurven in die untergehende Sonne
sind wieder ein Erlebnis, umso schöner, sie gemeinsam mit Alice erleben
zu können. Ohne daß viel gesprochen werden konnte, ist sie
mir mittlerweile seltsam nahe und irgendwie fühle ich, daß
es nicht einseitig ist.
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- 4 -
Schließlich erreichen wir Drepano wieder, die Sonne
steht schon so tief, daß keine Sonnenpartien mehr zu sehen sind.
"Hast du Lust", wendet sich Robert an Alice, "heute mit
Alex und uns gemeinsam zu Abend zu essen?"
"Ich glaube sicher, daß Alex möchte. Mich jedenfalls würde
es freuen."
"Schön! Treffen wir uns um - sagen wir - acht in der gleichen
Taverne wie gestern?"
"Ja, bis dann" und schon verschwindet die TDM hinter der nächsten
Häuserecke.
Es dauert nicht mehr lange bis dahin. Duschen und frische
Klamotten anziehen geht sich aber gemütlich aus. Da es meinem Zeh
mittlerweile besser geht, entschließe ich mich ebenfalls zu dem
Spaziergang. In der Taverne sind genügend Tische frei und so suchen
wir uns einen am Rand gelegenen aus. Der erste Schluck Bier tut ungeheuer
gut: es bleibt kurz die Luft weg und dann breitet sich wunderbares Wohlbefinden
aus. Wir schauen zwar die Speisekarte durch, warten aber mit dem Bestellen
noch.
"Ach, das war wieder ein wunderbarer Tag!" Ich freue mich und
fühle mich rundherum unwahrscheinlich wohl.
"Alice hat da wohl einiges beigetragen" meint Robert wie nebenbei
und schaut mich von der Seite mit einem leichten Schmunzeln an.
"Wie kommst Du denn da drauf...?"
"Ich meine nur so. Reine Vermutung, versteht sich."
"Es ist schon seltsam, weißt Du. Wenn ich so die Stufen anschaue,
wie sich diese Begegnung ergeben hat... zuerst Korinth, dann in den Dolinen
und nun heute. Wir haben ja wirklich nicht viel miteinander gesprochen.
So ein Fahrtag gibt dazu wenig die Möglichkeit, da konzentriert sich
doch eher alles auf das Fahren und die Erlebnisse, die damit zusammenhängen.
Oder man ist abgeschlafft und möchte einfach mal alle Viere von sich
strecken. Und doch - einige wenige Momente und es kam mir wie eine Art
Wiedersehen vor. Also Zufall kann das keiner sein".
"Natürlich war das Zufall, was denn sonst." Robert provoziert
ganz gerne manchmal, speziell jetzt, zumal er genau weiß, daß
ich der Überzeugung bin, daß es keine Zufälle gibt.
"Robert, du kennst doch meine Ansicht dazu. Es kann schlichtweg keine
geben. Da würde doch alles zusammenbrechen oder besser noch: Es hätte
erst gar nichts entstehen können!"
Michael lehnt sich seufzend zurück. Er kennt die Diskussionen.
"Ach was! Es ist alles Evolution und ergibt sich einfach. Wie soll
zum Beispiel diese Begegnung kein Zufall sein? Niemand wußte,
daß du und sie zu diesem Zeitpunkt hierhergefahren seid. Ihr wart
eben zufällig zur selben Zeit am selben Ort. Und außerdem,
wer sollte das denn lenken?"
"Schaut mal!" wirft Michael dazwischen, "da
kommt ja Alice. Aber sie ist offenbar alleine."
"Hey, Alice, wo hast du Alex gelassen?" Alice sieht gar nicht
so munter drein wie zuvor. Sie setzt sich zu uns an den Tisch und man
hat den Eindruck, als ob sie gleich wieder aufstehen wollte.
"Manches kommt oft anders als man denkt." Sie klingt bedrückt.
Und nach einer Pause setzt sie leise hinzu: "Und als man es gerne
möchte".
Wir schweigen betroffen und warten, bis sie fortfährt.
"Alex hat ein SMS bekommen, daß bei seiner Schwester Krebs
festgestellt wurde. Nun möchte er möglichst schnell nach Hause."
'Schwester?' denke ich bei mir. "Dann ist das auch Deine Schwester"?
"Nein," wendet sich Alice mir zu, "Alex ist mein Halbbruder.
Also das ist so: Mein Vater hat seine Frau bei einem Unfall verloren,
meine Mutter kennengelernt und dann haben sie geheiratet. Alex und Matti
- Mathilde meine ich - sind die Kinder, die mein Vater mit in die Ehe
gebracht hat. Sie waren damals drei Jahre alt und sind Zwillinge. Alex
hat eine sehr enge Beziehung zu seiner Schwester. Schon seit einigen Wochen
hat sie Blutungen und heute ist die Diagnose gekommen. Matti ist völlig
fertig, was ich ja auch verstehe. Aber irgendwie mußte es so kommen."
Sie hielt kurz inne, als die kecke Kellnerin kam, um sie nach ihrem Getränk
zu fragen. "Nun möchte Alex gleich morgen früh zurückfahren".
"Und du?" frage ich Alice. Meine Enttäuschung ist riesig.
"Ich werde wohl mitfahren, denn Alex geht es auch nicht besonders
gut dadurch. Die zwei hängen wirklich so zusammen, wie man es nur
kann." Das gibt es doch nicht! Zuerst Diese Zufallskette und nun
das? Das kann doch nicht sein! Aber es hilft wohl nichts, ich muß
es wohl respekrieren, so sehr es mich auch enttäuscht.
"Und jetzt?"
"Ich werde noch kurz etwas mit euch trinken und dann gehe ich zu
Alex zurück." Alles rundherum wirkt irgendwie blechern, die
Musik aus dem Lautsprecher, die Gespräche, ja sogar das Vogelzwitschern
und Grillenzirpen. Es ist, wie man so bildlich sagt 'die Luft heraußen',
nichts scheint mir mehr sonderlich interessant. Selbst die lustige Kellnerin
kann mich nicht aufheitern, als sie mich fragt "Do you want to eat
today something more then a plate?" Mein Grinsen muß wohl ein
wenig gezwungen wirken, denn sie hört auf zu blödeln und fragt,
ob wir schon etwas wollen. Also bestellen Robert, Michael und ich, während
Alice lediglich ein Glas Retsina ordert.
"Mit Matti hab ich das schon länger kommen sehen,"
beginnt sie. "Sie möchte es jedem und allen recht machen und
verleugnet sich dadurch total. Ihr Mann ist sagenhaft eifersüchtig,
sie darf praktisch nichts machen. Das geht so weit, daß er möchte,
daß sie neben ihm sitzt, wenn er fernsieht. Wie oft hab ich zu ihr
gesagt, daß sie sich endlich befreien muß, aber sie sagt,
daß ihr Harmonie wichtiger wäre. Jetzt haben wir die Bescherung,
nun hat sie nur die Wahl: Entweder sie ändert sich schlagartig oder
sie muß die ganze dramatische Krebs-Geschichte durchgehen."
Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. "Es ist dazu
noch im Bereich der Gebärmutter und Eierstöcke. Was das bei
einer OP bedeutet...".
"Hat sie sich denn nicht früher untersuchen lassen?" fragt
Robert.
"Nein. Sie ist bei einer Homöopathin in Behandlung und..."
"...aber das ist doch völlig verantwortungslos!" unterbricht
sie Michael. Homöopathie kann man doch nicht bei so etwas anwenden.
Wenn sie sich früher hätte untersuchen lassen, wäre das
rausgeschnitten worden und alles wäre ok!"
Alice antwortet nicht sofort. Sie sieht Michael an und fragt ihn dann
ganz ruhig: "Bist du Arzt, daß du dich so gut auskennst?"
verdattert runzelt er die Stirn.
"Nein, wieso? Das weiß doch jeder."
"Ah so meinst du das. Du hast wohl noch nie die Notwendigkeit gehabt,
dich mit Ursachen für Krankheiten auseinanderzusetzen?"
"Nein, zum Glück nicht."
"Also das erklärt deine Äußerung. Ist dir klar, daß
jede, aber auch wirklich jede Krankheit direkt oder indirekt seelischen
Ursprungs ist?"
"Na ja, das kann schon sein, aber was soll man bei Krebs denn sonst
tun?"
"Michael, besonders Krebs ist eine Krankheit, die seelische Ursachen
hat. Eine Freundin von mir ist Psychologin und arbeitet mit Krebspatienten,
kennt also viele Leute mit dieser Krankheit. Wenn Menschen, die sie haben,
nicht etwas bei sich ändern, dann kommt sie nach einer Operation
und Chemo und so weiter fast immer wieder. Was glaubst du wohl warum?"
Nachdenklich runzelt Michael die Stirn. "Aber wenn das schon soweit
fortgeschritten ist, daß bereits Blutungen da sind? Da muß
ja bereits etwas aufgebrochen sein. Daß muß man ja wohl rausschneiden!"
"Weißt du, es führt jetzt etwas zu weit, dir die Vorgangsweise
in ein paar Minuten zu erklären, wie Krankheiten entstehen und wie
man ihnen begegnen kann. Laß dir aber gesagt sein: Krankheit hat
seelischen Ursprung. Die Seele beeinflußt den Körper, man kann
sagen, sie beeindruckt ihn, sie übt Druck auf ihn aus. Immer.
Wenn dieser Druck mit den Naturgesetzen im Einklang ist, dann fördert
er den Körper, steigert die Aktivität und Gesundheit. Ein Beispiel:
Wenn du verliebt bist oder wenn du nur ein gutes Gespräch hast, dann
bist du doch viel weniger müde. Du gibst dem Körper Energie.
Wenn du aber gegen ihn handelst, dann nimmst du sie ihm oder noch schlimmer:
Du leitest deine eigene Energie fehl und dann kommt er in Panik. Krebs
ist ein Körper in Panik, der nicht weiß, was er tun soll und
so planlos beginnt zu wuchern. Aber ich möchte dir keinen medizinischen
Vortrag halten. Denk einfach mal drüber nach." Alice nimmt einen
Schluck Wein, während man sieht, daß Michael über das
Gesagte nachdenkt.
"Das klingt irgendwo einleuchtend. Hast du dir da schon viele Gedanken
darüber gemacht?"
"Wie ich schon heute Nachmittag gesagt habe, hatte ich einen Unfall.
Vorher habe ich ein ganz gewöhnliches Leben geführt, Überstunden
gemacht und bin meinem Hobby am Abend nachgekommen. Mit dem halben Jahr
Krankenhaus hab ich allerdings dann jede Menge Zeit gehabt nachzudenken.
Interessiert hab ich mich immer schon für Esoterik und in diesen
Monaten sind dann viele Gedanken von früher wieder hervorgekommen.
Aber den Ausschlag hat sicher die teilweise verzweifelte und hoffnungslos
scheinende Lage gemacht. Und nun sehe ich viele Dinge ganz anders. Aber
die Geschichte ist so lang, das holen wir ein anderes Mal nach. Möchte
mich jetzt doch etwas um Alex kümmern." Sie nimmt noch den letzten
Schluck und sucht nach dem Geld.
"Nein, laß", sagt Robert, "das zahlen wir mit".
"Danke. Es tut mir so leid, daß das alles jetzt so gekommen
ist! Ich habe mich richtig darauf gefreut, mit Euch in der Gegend herumzufahren
und am Abend zu diskutieren. Wenn ihr möchtet", kommt sie mir
zuvor und wendet sie sich an mich, "geb ich euch meine Adresse, dann
können wir ja später in Kontakt bleiben."
Ich ziehe eine kleine Karte heraus und sie schreibt ihren Namen, Telefonnummer
und E-Mailadresse darauf.
"Ich find es auch wirklich ganz schade", sage ich und das von
tiefstem Herzen und versuche mich zu trösten: "Aber München
ist ja nicht soo weit weg".
"Von dir aus ja nicht", beschwert sich Robert, "du hast
da ja leicht lachen. Aber wenn ich an die Autobahnkilometer denke..."
"Also dann, Jungs, macht es gut, es war zwar kurz, aber sehr schön
und es hat mich sehr gefreut". Wir schütteln uns noch die Hände,
ich bin zuletzt dran. Sie hält meine Hand etwas länger in ihrer,
als sie sich schon zum Gehen umdreht. Traurig blicke ich ihr hinterher,
als sie ihr rechtes Bein über den Sattel schwingt, den Ständer
hochklappt und startet. Sie hebt noch einmal die Hand und winkt uns zu,
gleich darauf verschwindet sie hinter der anderen Taverne und das Motorengeräusch
verstummt.
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