- 1 -
Daß ich diese Nacht nicht besonders
gut schlafen werde, war vorauszusehen. Zuerst hinderte mich eine wilde
Party im Parterre, drei Stockwerk unter mir, am einschlafen, in der Nacht
erinnerten mich ständig Blitz und Donner daran, dankbar zu sein,
daß ich ein festes Dach über dem Kopf habe und nun ist es das
unablässige 'Guguhhgu' von ein paar Tauben oben auf dem Dach, die
meinen Morgenschlaf zunichte machen. Abgesehen von der spannenden Erwartung
auf das Zusammentreffen mit Alice. Wieso Tauben mit so hehrer Symbolik
wie etwa Frieden in Zusammenhang gebracht werden können, ist mir
nicht ganz klar. Tauben vernichten mit ihren Verdauungsergebnissen unzählige
Denkmäler und stören beim Ausschlafen. Das sind meine unpoetischen
und einzigen Assoziationen. Das Frühstück ist alles andere als
üppig. Brot, etwas Marmelade und eigenwillig aussehende Wurst, die
mich überhaupt nicht zu Experimenten animiert.
Das
Wetter macht noch keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Gegen die Berge
hin hängen noch dunkle Wolkenfetzen am Himmel. Weil ich keine Lust
habe, hier nochmals für teures Geld schlecht zu schlafen und bescheiden
zu frühstücken, bezahle ich, und kehre dem Hotel Belle Helene
den Rücken. Das einzig Schöne war gestern am Abend die Rezeptionisten
gewesen, wird aber wohl kaum beim Namen des Hotels Pate gestanden haben.
Ob das Wetter wirklich bedrohlich bleibt, denke ich dann zu sehen, wenn
ich von dem Sattel bei Areopolis aus nach Westen sehen kann, denn von
dort kommt es schließlich her. Deshalb schwingt nun Akbar die Kurven
hinüber und dann bergan. Als ich oben ankomme, sinkt meine Hoffnung
auf einen strahlenden Tag auf die Nullmarke hinab. Gegenüber hängen
unheilverkündende Gewitterwolken über dem Monte Tsigou, hinauf
Richtung
Kalamata legt dichter Regen seine Schleier über die Landschaft. Wie
in Griechenland üblich, wechselt das Szenarium schnell. Die Wolken
treiben nordwärts, was mich dazu ermuntert, nach Limeni hinunter
zu fahren. Das Meer ist noch unruhig und wirft kraftvoll sein Wasser an
die Felsen, die Gischt wird jedesmal hoch hinaufgeworfen, um im selben
Augenblick vom Wind verweht zu werden. Wie unzählige Finger reckt
sich bei jedem Anprall das Wasser in den Himmel, als wolle es sich festhalten
um nicht wieder zurückzufallen. Ohne speziellen Grund schaue ich
wieder hinüber zum Monte Tsigou. Oho! So schnell die Wolken abgewandert
waren, so unverzüglich haben sie entschlossen zurückzukehren.
Auf der anderen Seite des Ufers sehe ich bereits die nassen Schleier den
Boden berühren, wohl höchste Zeit, Land zu gewinnen. Da doch
immerhin die ganze Bucht zwischen dort und hier legt, glaube ich, noch
etwas Zeit zu haben. Mein nächster Blick, vielleicht eine halbe Minute
später belehrt mich aber eines Besseren. Der Schleier ist schon über
die halbe Bucht gewandert. Da auch mein Tigerchen nicht gerne naß
wird, gibt er ebenfalls sein Bestes als Ergebnis auf mein Werken an Gasgriff,
Kupplungs- und Bremshebel bzw. -pedal. Wir jagen wie der Wind die Straße
hoch, hier ist kein Schutz zu erwarten, alles kahl, nicht einmal Bäume.
Einige Tropfen wehen mir schon ins Gesicht. Die Gerade bis zur Kreuzung,
schnell rechts und dann links in den Ort hinein. Wieder ein kalter Hauch
mit Tropfen vermengt. Links die Tankstelle, schnell hinein in die leere
Service-Box. Kaum bin ich drin, zieht der Himmel seinen Wasserschleier
über den Ort und verwandelt alles Ebene in Flächen, auf denen
die Tropfen im Zerschellen eine bizarre, hüpfende Miniaturlandschaft
bilden. Ein paar Schritte hinüber und ich stehe in dem kleinen Raum,
in dem der Tankwart und noch ein paar Griechen sich unterhalten. Es macht
ihnen nichts aus, daß ich bis zum Ende des Regens drüben stehen
bleibe. Die
üblichen Fragen über das Motorrad, 'nice bike' und wie immer
merke ich eine leichte Distanz, die Akbar schafft, so, wie das eben Tiger
an sich haben. Ich nehme ihm das nicht übel, aber schade finde ich
es doch.
Nach einer dreiviertel Stunde läßt
der Regen nach. In der Zwischenzeit habe ich nachgedacht, wobei mir eingefallen
ist, daß Robert sagte, in der Nähe des Campingplatzes etwas
von Appartments gelesen zu haben. Das ist mein nächstes Ziel. Die
Straße ist noch naß, was in allen südlichen Ländern
sehr unangenehm ist. Sobald der Asphalt sein Aussehen ändert, sollte
man unbedingt eine Bremsprobe machen. Manche Stücke sind trotz Näße
nahezu gleich griffig als wenn sie trocken sind. Andere hingegen sind
rutschig wie Schmerseife. Auch von gleichem Aussehen bei einem Stück
etwas später darf man sich nicht täuschen lassen. Schließlich
biege ich wieder in die Straße ein, die zum Campingplatz führt
und suche nach Möglichkeiten an Zufahrten zu imaginären Appartments.
Teilweise lasse ich Akbar stehen, um zu Fuß meine Erkundungen fortzusetzen.
Ich möchte es vermeiden, in einer Sackgasse zu stecken und Hilfe
suchen zu müssen, weil ich Akbar nicht alleine umdrehen kann. Aber
dieser kleine Tribut an seine mit Gepäck knapp 400 Kilo tut meiner
Zuneigung ihm gegenüber keinen Abbruch.
Nach
langer Suche entdecke ich ein Häuschen fast direkt am Meer. Ich umrunde
es, ein Weg führt senkrecht ins Land durch einen Garten nach hinten.
Hier treffe ich auf eine junge Frau, die glücklicherweise englisch
spricht.
"Vermieten sie hier Zimmer?" frage ich sie.
"Ja, aber hier vorne ist nichts frei." Ich bin enttäuscht.
Offenbar bemerkts sie es.
"Hinten in dem Haus, etwa zweihundert Meter ins Land hinein, dort
haben wir noch ein Zimmer." Sie ruft zu dem Häuschen am anderen
Ende des Gartens etwas auf griechsch, bekommt Antwort, ein kurzer Dialog
folgt.
"Hier im Haus wird morgen doch ein Zimmer frei. Eine Frau hat sich
den Fuß gebrochen und fliegt deshalb morgen nach Hause." Danach
könnte ich übersiedeln, wenn es mir hier vorne besser gefiele,
fügt sie noch hinzu. Und ob ich will.
Der Preis ist zwar nicht eben bescheiden, aber es sind eben Appartments,
die doch meist von mindestens zwei Personen bewohnt werden, der Preis
gilt pro Appartment. Die Leute sind sich offenbar bewußt, daß
sie hier eine wunderbare Lage bieten. Wenn ich morgen übersiedeln
kann, dann habe ich ein Zimmerchen nur knapp hundert Meter vom Strand
entfernt. Toll!
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- 2 -
Daß mir während des gesamten Vormittags
- denn es ist mittlerweile Mittag geworden - Alice nie aus dem Kopf gegangen
ist, braucht nicht eigens erwähnt zu werden. Vorhin bin ich in das
kleine Geschäft nahe der Hauptstraße oben gegangen, habe den
Lagerstand meiner Lieblingskekse aufgestockt und etwas zu trinken gekauft.
So habe ich, zusammen mit dem Käse und Brot von gestern alles für
ein einfaches Mittagessen beisammen. Damit, meiner Schaumstoffmatte vom
zelten, Handtuch und Buch bewaffnet mache ich mich auf den Weg zum Strand.
Das Wetter hat sich doch beruhigt, nur noch einige Wolkenzeppeline und
eine wunderbar klare Luft zeugen von den Unwettern der vergangenen Nacht.
Erst jetzt fällt mir auf, wie dunstig es in den Vortagen war. Von
der Vermieterin habe ich erfahren, daß es heute zum erstenmal seit
Wochen am ganzen Peloponnes geregnet hat.
Obwohl das Buch spannend ist, schleppt sich
der Nachmittag träge dahin, denn mit der Konzentration ist es nicht
weit her. Gegen vier Uhr gehe ich zurück, befreie Akbar grob von
den Auswirkungen des Regens, dusche dann gemütlich, um anschließend
nach Githio zu fahren. Es ist merklich kühler als in den letzten
Tagen. So ungewiss gestern während der gleichen Strecke die Zukunft
ausgesehen hat, so gleichgültig ist sie mir jetzt. Jetzt zählt,
die nächsten Stunden. Was kann denn schief gehen? Eben. Mit knapp
fünfzig schiebt der Sechzylinder mich schnurrend an den Tischchen
der ersten Promenade vorbei. Neunzig Grad nach linnks, vor mir liegt der
Kreisverkehr, den ich einmal fast ganz umrunde. Akbar wird vis a vis abgestellt.
"Frappée, parakalo." Der Kellner ist gekommen.
"Glyco." Es war eine Feststellung, keine Frage.
"Ne." Grinsen.
Es macht Spaß, den Leuten zuzusehen. Hier ist alles anders als zuhause.
Nahezu jeder hier hat irgendwann im Leben ein Moped oder Motorrad. Nicht
zum Spaß, sondern als Fortbewegungsmittel. Die 'Enduro-Mopeds',
wie ich sie für mich nenne, die mit dem 500er-Sound, sind nicht nur
Transportmittel für Jugendliche, sondern vor allem für Erwachsene,
Berufstreibende. Eben fährt ein Vater vorbei, dessen Sohn vor ihm
sitzt und stolz und begeistert rundherum schaut. Ein klappriger Pickup
bleibt mitten auf der Straße stehen, der Fahrer unterhält sich
mit einem Bekannten. Niemand käme auf die Idee zu hupen. Drüben
beim Kiosk steht, wie auch in den letzten Tagen oft, der sicher gut hundertdreißig
Kilo wiegende Wiener neben seinem kleinen Auto. Das Rätsel, was er
hier tut, hat sich bis heute nicht gelöst. Es ist mittlerweile halb
sechs, die Minuten wälzen sich zäh wie Honig, über den
Grad der Süße bin ich mir nicht ganz schlüssig.
Dann rollt doch endlich die rote TDM um die
Kurve! Alice hat mich sofort gesehen, sitze ich doch in der vordersten
Reihe. Sie winkt mir zu und stellt die Rote neben Akbar. Es freut mich
ihr beim Kommen zuzusehen. Sie ist nicht dünn, vielleicht ein klein
wenig mollig, was aber bei ihrer Größe von schätzungsweise
einem Meter fünfundsiebzig kaum auffällt. Zumindest nicht negativ,
zumal ein größerer Teil der Molligkeit in der oberen Körperhälfte
angesiedelt ist. Am Auffallendsten ist ihre schwarze Mähne, die unter
den Motorradhelm zu bändigen kein einfaches Unterfangen ist, das
sie aber meisterhaft beherrscht. Mit ihren langen Beinen könnte sie
auch durchaus eine höhere Enduro fahren und auch damit stehen bleiben,
ohne darauf bedacht sein zu müssen, einen Randsetin vorzufinden.
"Aha, traditioneller Frappée" begrüßt sie
mich.
"Du auch?"
"Gern." Ich deute dem Kellner drüben und zeige auf das
Glas, wobei ich einen Finger hochhalte. Er kommt trotzdem, denn die Süßigkeitsfrage
ist ja nicht geklärt. Zur Auswahl stehen schließlich drei Varianten:
Sketo ist ohne Zucker, metri bedeutet leicht gesüßt
und eben glyko, sehr süß. Alice trinkt ihn metri.
"Wie
war.." beginnen wir fast gleichzeitig, um ebenso gleichzeitig innezuhalten.
Dann sehen wir uns schweigend an, in Erwartung, daß der andere beginnt.
Als wir wieder zugleich beginnen, sage ich nur kurz "Du bist dran."
"Ok, danke. Du kennst Mystras?"
"Kennen ist sicher zuviel gesagt. Wir sind damals leider etwas spät
gekommen, sodaß wir nur eine Stunde Zeit hatten. Die machen ja pünktlicher
als bei uns die sprichwürtlichen Maurer den Laden dicht."
"Ah so? wir waren schon um zehn Uhr dort und sind gegen drei gegangen.
Eine Stunde ist aber sicher viel zu wenig! Ein ganzer Tag wäre gerade
ideal. Die ganzen Winkelchen, bis man erst mal oben ist, die Fotomotive,
zwischendurch mal hinsetzen und nur in die Gegend schauen und die Geschichte
dieses Ortes an sich vorbeiziehen zu lassen. Es war ein schönes Erlebnis.
Aber erzähl mal du, wie gings dir bei der Quartiersuche?"
In kurzen Zügen schildere ich ihr meinen Tag, von der Regenflucht
bis zu dem Zimmer am Strand.
"Da machst du mich ja fast ein bisschen neidisch. Darf ich dich da
mal besuchen? Darf man eigentlich hier am Strand grillen?"
"So lange kein Wald in der Nähe ist, macht das sicher kein Problem.
Die Griechen haben allerdings - verständlicherweise - eine ziemliche
Panik vor Bränden. Du hättest einmal am Taigetos die Gegend
sehen müssen! So weit das Auge reicht nur Skelette von Bäumen,
obwohl der Brand schon lange zurück liegt. Abr so ein Feuerchen am
Strand ist sicher kein Problem. Magst du Lagerfeuer?"
"Weißt du, ich bin eine recht romantische Seele. Das hat mir
in der Vergangenheit schon manches Problem gebracht, weil das manches
Mal mißverstanden wird."
"Inwiefern?"
"Naja, wenn du etwas lockerer bist, betrachtet man dich gern als
leichte Beute. Man muß sich besonders kühl geben, um den gewünschten
Abstand zu wahren. Tut man das nicht, dann vermuten Männer immer,
daß man auf ein Abenteuer aus ist." Sie hält kur inne.
"Das finde ich schade."
"Eine versteckte Botschaft?" frage ich mit unschuldigem Augenaufschlag.
"Nein, überhaupt nicht. Du bist nicht so, das habe ich gemerkt,
auch wenn wir uns nur sehr kurz kennen." Das wäre, wenn sie
es nicht wirklich so gemeint hätte, ein raffinierter Schachzug gewesen,
um oberflächliche Annäherungsversuche abzublocken. Aber so handelt
sie sicher nicht. Doch es interessiert mich, wie sie dazu kommt.
"Woran hast du das gemerkt?"
"Spürst du so etwas nicht? Jeder strahlt doch was aus, trägt
doch seine Visitenkarte offen vor sich her. Manche versuchen zwar, das
durch Umgangsformen zu kaschieren, aber wirklich gelingen kann das nicht"
bestätigt sie, was ich mir dachte.
"Kennst du viele Leute, die so denken?"
"Nein. Aber ich bemerke, daß es immer mehr werden."
"In wiefern?"
"Es ist wirklich komisch. Auf der einen Seite ist es doch so, daß
sich meistens nicht einmal Nachbarn näher kennen. In der Stadt ist
es noch extremer. Andererseits boomt die Kontaktanbahnung über das
Internet. Anstatt wegzugehen verabredet man sich über das Web. Irgendwie
schon ein wenig skurill. Aber auch logisch." Meint sie etwas zögernd,
schweigt und denkt nach.
"Logisch?"
"Nun ja, kommt mir schon so vor. Wie sollte man denn sonst die ganzen
Leute treffen, die man treffen soll? Kommt doch persönlich niemand
so weit herum."
Jetzt
ist es an mir zu schweigen und nachzudenken. "Du meinst von wegen
Wechselwirkung? Begegnungen, die sich in einem früheren Leben angebahnt
haben?"
"Ja!" ruft sie erfreut. "Ja, so hab ich das gemeint."
Nun schweigen wir beide. Diese gleichen Gedankengänge haben uns doch
beide etwas verblüfft. So wundert es mich gar nicht, als sie zu reden
beginnt: "Unsere Übereinstimmung ist ganz seltsam. Als ob wir
Geschwister wären..." Sie läßt den Satz in der Luft
hängen und blickt nachdenklich über den Hafen. Diese Aussage
bereitet mir keine besondere Freude. Denn Geschwister zu haben dürfte
etwas recht Schönes sein, aber sonderlich geschwisterlich ist mir
bei dem Gedanken an sie nicht zumute. Aber so hat sie es hoffentlich nicht
gemeint.
Unsere Frappés sind mittlerweile leergeschlürft.
Ein ganz langgezogener Wolkenstreifen steht reglos über der Bucht.
"Hast du heute zu Mittag gegessen?" Der Käse und die paar
Kekse vor sieben Stunden sind ein Zimmer weitergewandert, wodurch in der
Lobby wieder genügend Platz geworden ist.
"Thalia, meine Vermieterin, hatte zwar etwas mitgenommen, aber das
ist doch schon etwas her", lächelt sie ein wenig schelmisch.
"Hast du eine spezielle Idee?"
"Es ist zwar etwas ganz Einfaches, es kann dir sorgar passieren,
daß es nur ein Gericht gibt. Aber erstens kann Maria das Geld gut
gebrauchen und andererseits mag ich solche Lokale lieber. Oder möchtest
du lieber etwas Feineres?"
Kurz darauf machen wir uns auf den Weg zu Maria. Wie immer ist das Lokal
nicht besonders voll, jetzt in der Nachsaison. Es gibt heute nur Souflaki
aber das einfache aber gemütliche Ambiente gleicht das aus.
"Es ist schon eigentümlich"
beginne ich die Unterhaltung. "Obwohl wir genau genommen nur ein
paar Sätze miteinander gesprochen haben, kommst du mir so wenig unbekannt
vor, wie ich das vorher noch nie erlebt habe. Ich würde wirklich
gerne wissen, was wir früher miteinander zu tun hatten."
"Zum Glück wissen wir es nicht", kommt die unerwartet ernste
Antwort.
"Warum? So wüßten wir von unseren vergangenen gemeinsamen
Erlebnissen."
"Mag schon sein. Aber ich bin sehr froh, daß wir von unserer
Vergangenheit nichts wissen."
"Warum sagst du das so ernst?"
"Dafür gibt es mehrere Gründe. Stell dir zum Beispiel vor,
du hättest jemandem Schlechtes getan, ihn vielleicht sogar einmal
umgebracht. Du könntest dich ihm gegenüber nie mehr ungezwungen
verhalten. Entweder wärst du der Ansicht, du müßtest etwas
gutmachen oder du hättest Angst, daß dich Rache trifft. Es
gibt da eine ganze Menge an Situationen, von denen wenige schön,
viele aber sehr bedrückend wären."
Schweigend
beginnen wir mit dem Essen, wobei ich über das Gesagte nachdenke.
Es klingt einleuchtend.
"Du meinst sozusagen 'gleiches Recht für alle', das heißt
der andere würde es dann ja auch wissen. Aber wie wäre das mit
Rückführungen?"
"Wofür brauchst du sie?" fragt sie zurück, während
sie die Fleischstückchen vom Spieß schiebt. "Was bringt
es dir wirklich, außer daß deine Neugier befriedigt ist? War
das Verhältnis zu der Person gut, dann wird es das jetzt vermutlich
auch sein. War es getrübt, dann belastet es dich jetzt höchstens,
gleichgültig wer jetzt wem früher etwas angetan hat. Wobei"
sie nimmt einen Schluck Wein "du in Rückführungen meist
nur Ausschnitte siehst, also gar nicht die Zusammenhänge kennst.
Also kriegst du eventuell auch noch ein falsches Bild". Das Essen
schmeckt ganz hervorragend, so einfach es auch ist, aber ich nehme es
nur am Rande wahr. Alices Ausführungen sind für mich sehr einfach
und eingängig.
"Du glaubst doch auch nicht an Zufälle, nicht?" fährt
sie fort.
"Nein, da haben wir ja damals schon drüber gesprochen."
"Dann kann es ja auch nicht rein zufällig sein, daß man
eben von seiner Vergangenheit nichts weiß. Du siehst," strahlt
sie mich an, "die Beweislast ist erdrückend!" Lachend stimme
ich ihr zu: "Da könnte man meinen, du wärst Staatsanwältin
und nicht Webdesignerin von Beruf. Sag mal, wie bist du eigentlich zu
diesen ganzen Überlegungen gekommen? Die meisten Leute haben so eine
ziemlich vage Vorstellung vom Leben, Vergangenheit, Zukunft, Sinn und
alle den Dingen. Du hast aber offenbar eine ganz konkrete Meinung zu all
diesen Sachen."
Der Blick, mit dem sie mich ansieht, kommt
mir regelrecht prüfend vor, um nicht zu sagen taxierend. Dann nimmt
sie einen Bissen und sieht mich nochmals an. Bedächtig kaut sie den
Bissen, spült ihn dann mit einem Schluck Retsina hinunter.
"Ich hab dir gegenüber doch schon einmal angetönt, daß
ich einen Unfall hatte. Erinnerst du dich?"
"Ja natürlich. Wir saßen damals in der Hitze des Mittags
in Methana. Es war im Zusammenhang mit Schutzbekleidung beim Motorradfahren."
"Ja, genau damals. "
"Du sagtest, daß du mir vielleicht einmal mehr davon erzählen
wirst."
"Ja. Weißt du, die Erlebnisse, die mit dem Unfall zusammenhängen,
waren so aufwühlend, daß ich so gut wie nie mit jemandem darüber
spreche. Außerdem ist es auch noch nicht so sehr lange her."
Ich schweige und blicke sie nur an. Ihr Blick geht an mir vorbei, hinaus
aus über die Terasse, irgendwohin, wo sich etwa das Meer befindet.
"Die Erlebnisse waren außergewöhnlich und gehen weit über
das hinaus, was man wohl erlebt, wenn man verunglückt. Es waren -
ach irgendwie ist hier nicht die Stimmung dazu. Ich möchte es dir
gern erzählen, aber nicht hier. Ich wünsche mir - und dir -
dafür einen wunderbaren Blick aufs Meer, rundherum weichen Sand oder
Steine auf denen wir sitzen können."
"Auch mir?"
"Ja, auch dir. Denn die Geschichte ist so unglaublich - du wirst
sehen... Ich verrate jetzt nicht mehr." Ihr Lächeln wirkt eigentümlich
mild, fast liebevoll, aber nicht die Art von Zuneigung, die man jemandem
anderen gegenüber hat, sondern so, wie man sie einem, ich möchte
sagen 'unschuldigen', Lebewesen gegenüber hat. Es fällt mir
dazu ein Erlebnis aus dem letzten Winter ein. Aus einem undefinierbaren
Empfinden heraus möchte ich sie Alice erzählen.
"Alice,
frag nicht warum, denn ich kann dir nicht sagen weshalb, aber es kommt
mir eben ein Erlebnis in den Sinn. Möchtest du es hören?"
Etwas verwundert sieht sie mich an. "Ja, klar. Erzähl".
Ohne Firlefanz. Direkt.
"Im vergangenen Winter saß in meinem Arbeitszimmer, als ich
am anderen Ende des Stockwerks, dort wo die Türe auf die große
Terasse führt, einen dumpfen Schlag hörte. Ich konnte mir die
Ursache nicht erklären und ging hinüber. Die unüberdachte
Hälfte der Terasse war mit Schnee bedeckt, auf der dem Haus zugewandeten
Seite lag eine Amsel. Ich öffnete die Türe und ging zu ihr.
Sie rührte sich nicht, lag nur in unnatürlich verkrümmter
Haltung auf dem Rücken. Ganz zart stieß ich sie mit dem Finger
an, doch sie bewegte sich nicht. Das eine Beinchen und der Flügel
standen so bizarr zur Seite, daß ich mir sicher war, daß sie
gebrochen wären. Offenbar war der Vogel gegen die Scheibe der Terassentüre
geflogen und hatte sich das Genick gebrochen. Selbst wenn er noch lebte,
wäre es für ihn das sichere Ende, wie sollte er denn so überleben,
und das auch noch mitten im Winter."
"Was hast du dann getan?" fragt Alice leise.
"Ich entschloß mich, das Vögelchen sicher tot zu machen,
denn ich sah keine andere Möglichkeit." Alice preßt die
Lippen zusammen bei dem Gedanken.
"Ich suchte, womit ich es tun könnte und entschloß mich
für eine kleine Holzbank. Damit könnte ich es schnell und möglichst
schmerzlos hinter mich bringen. Es schnürte mir das Herz zusammen,
als ich die Bank zur Hand nahm. Als ich mich, sie in der Hand haltend,
umdrehte, machte die kleine Amsel plötzlich einen winzigen Sprung
aus dem Stand. Kennst du Schnellkäfer?"
Erstaunen. "Nein."
"Das sind so längliche kleine Käfer, die, wenn sie auf
dem Rücken liegen, Flügeldecken und Brustpanzer gegeneinander
stemmen, bis sie aneinander abrutschen. Dadurch schnippen sie bis zu ein
paar Zentimetern in die Höhe und landen meist auf den Beinen."
"Das müssen aber lustige Kerlchen sein," lächelt sie.
Aber sofort wird ihre Mine wieder ernst. "Wie geht es jetzt mit der
Amsel weiter?"
"Also
sie macht einen so drolligen Hüpfer wie so ein Schnellkäfer
und landet dadurch schräg auf der Seite. Du kannst dir nicht vorstellen,
wie ich mich freute, daß sie noch lebte! Also stellte ich die Bank
beiseite und bückte mich zu ihr hinunter. Ganz sanft berührte
ich sie, aber sie regte sich nicht. Lediglich die Augen waren offen und
blickten mich etwas ängstlich an. Ganz, ganz sanft hob ich das kleine
Ding auf, bedacht, ihm nicht bei seinem Flügel und Bein Schmerz zuzufügen.
Es reagierte nicht. Das eine Beinchen ließ ich zwischen den Fingern
hinunterhängen, so lag es in meiner Hand. Ich sag dir, das war ein
ganz wunderbares Gefühl. Es war so unglaublich leicht! Ich getraute
mich nicht es zu streicheln, damit es nicht noch mehr Angst oder Schmerzen
bekam. Ich ging hinunter ins Wohnzimmer, hängte mir mit der freien
Hand eine Decke über - es war doch sehr kalt - machte die Gartentüre
auf und setzte mich auf einen Hocker in den Türspalt. So hatte ich
zumindest den Rücken in der Wärme, aber die Amsel hatte den
freien Garten vor sich."
Ich nehme einen Schluck Wasser und spieße eine Bratkartoffel und
ein Stück Fleisch auf.
"Nach einigen Minuten machte die Amsel wieder eine ruckartige Bewegung
und dann zog sie plötzlich das Beinchen an sich. Es war offenbar
nicht gebrochen! Gleich darauf schüttelte sie sich ein wenig und
brachte ihre Flügel in Ordnung. So saß sie in meiner gewölbten
Handfläche, schaute in den Garten hinaus und ich fühlte ganz
schwach das winzige Herz in meiner Hand schlagen. Was für ein unglaubliches
Erlebnis! Ich hätte stundenlang so sitzen können, dieses kleine
Federgewicht in meiner Hand haltend.
Aber sicher war ihm nicht wohl und wollte wieder zurück in sein gewohntes
Leben. Also setzte ich es probehalber ganz vorsichtig ins kurze winterfahle
Gras. Etwas unsicher und bewegungslos hockte es dort und schaute einfach
geradeaus. Schon begann ich, zu bereuen, es aus der Hand gegeben zu haben
und wollte, egoistisch, wie man ist - es wieder in die Hand nehmen. Als
ich ihm aber nahe kam, machte es zwei, drei Hüpfer. Die Freude überwog
doch, daß es ihm offenbar wieder gut ging. Aber hier am Boden sollte
es nicht bleiben, denn die Katze hätte sicher ihren Spa´gehabt
an ihm. Also blieb ich noch fast eine halbe Stunde sitzen und bewachte
es. Bald hüpfte es noch ein wenig weiter, um sich in den Berberitzenstrauch
zu setzen. Dort bleib es dann eine gute Weile. Plötzlich machte es
einen großen Sprung und flatterte auf die Fichte hinüber. Es
kam mir vor, als ob es mir zum Abschied zublinzelte, als es dann von dort
aus über das Haus verschwand".
"Eine
schöne Geschichte," sagt Alice und sieht mich warmherzig an.
"Ich freue mich darauf, dir meine Erlebnisse zu erzählen. Jetzt
weiß ich ganz sicher, daß du sie verstehen wirst. Aber, wie
gesagt, ich wünsche mir dafür eine andere Umgebung, keine Leute
sonst in der Nähe, verstehts du?"
Ja, ich verstehe. Also lenke ich das Thema in eine andere Richtung, die
mich auch interessiert.
"Wie bist du eigentlich zum Webdesign gekommen? Hast du Grafikerin
gelernt? Oder das Hobby zum Beruf gemacht?"
"Das mit dem Hobby kommt am ehesten hin. Design hat mich immer schon
interessiert. Ganz früher wollte ich Modedesignerin werden. Meine
Eltern überredeten mich aber zu studieren. Habe Kunstgeschichte und
Psychologie gemacht, ich weiß, eine komische Mischung. Als ich fertig
war, bin ich in einer Bibliothek gelandet - oder sollte ich besser sagen
'gestrandet'? Naja, da hab ich einige Jahre ausgehalten. Durch Alex, meinen
Bruder, hab ich dann Kontakt zur EDV bekommen. So kam ich ganz günstig
zu Grafikprogrammen." Bei 'ganz günstig' blinzelt sie mir verschwörerisch
zu. "Dann hat mir Alex so Stück für Stück HTML-Grundlagen
beigebracht. Er hat für mich bei seinen Kunden ein Bisschen Werbung
gemacht und auf diese Art bin ich da hineingerutscht. Es war dann zuletzt
wirklich schon streßig. Einerseits der Beruf, andererseits die Web-Sache
nebenbei aber schon fast im Umfang eines Hauptberufes.
Ja, und dann kam die Sache mit dem Unfall. Damit habe ich viele meiner
Ansichten über den Haufen geworfen. Weißt du, ein richtiger
Priotitätensturz. Den Job, der mir eigentlich eh auf die Nerven ging,
gab ich auf und jetzt mach ich nur noch das. Und es geht wunderbar."
Nun ist auch die Familie in der anderen Ecke gegangen und wir sind allein
im Lokal. Maria und ihr Mann sitzen drinnen mit ein paar anderen Leuten,
sehen fern und unterhalten sich. Also brauchen wir kein schlechtes Gewissen
zu haben.
"Und was machst du?"
"Offiziell bin ich kaufmännischer Leiter bei einem Papiergroßhandel.
Inoffiziell Mädchen für alles. Organisation, Controlling, Rechnungswesen,
EDV, etwas Personalwesen - ist alles schnell erklärt und auch nicht
besonders interessant für dich, nehme ich an. Dieses Gebiet wird
meistens von Außenstehenden als trocken betrachtet, obwohl es auch
recht spannend sein kann."
"Papier klingt aber gut. In Papierhandlungen kann ich Stunden verbringen!
Papier und Stifte, die unzähligen lustigen Dinge, die immer neu auf
den Markt kommen. Aber noch lieber mag ich Buchläden!"
"Oh ja! Irgendwo in einer Ecke sitzen und in Büchern schmökern.
Es ist dann aber oft schwer, nicht den ganzen Laden mitzunehmen. Und Motorrad?
Wie kamst du da drauf?"
"Das war Alex. Er hat, als ich den Führerschein machte, bei
den Eltern ein Wort dafür eingelegt, daß ich den Schein gleich
mitmache. Sie haben sich ziemlich quergelegt 'wofür braucht ein Mädchen
das' oder 'ist ja viel zu gefährlich', halt die üblichen Argumente.
Ich war aber dann sehr froh drum, denn ich hatte jahrelang kein Auto,
sondern nur kleinere Motorräder. Ist in der Stadt viel praktischer
und auch billiger."
Wir plaudern noch über Verschiedenes,
bis sich schließlich die Bekannten von Maria verabschieden. Es ist
mir gar nicht aufgefallen, daß es schon nach Mitternacht ist. So
wird es für uns wohl auch Zeit zu gehen. Zur Rechnung bekommen wir
einen Ouzo.
"Möchtest du eigentlich lieber alleine sein oder hast du Lust,
daß wir die Tage etwas gemeinsam unternehmen?" frage ich sie,
wobei die Frage eher rethorisch gemeint ist. Wer allerdings Wolken mit
so intelligenten Fragen heraufbeschwört, darf sich nicht wundern,
wenn es auch zu regnen beginnt.
"Doch,
wir können gerne mal etwas gemeinsam unternehmen," Oh weh! Prompt
kommt eine nicht erwünschte Antwort. Nun muß ich versuchen,
die Scharte auszuwetzen, also probier ich es mit einem unwiederstehlichen
Lockangebot.
"Für morgen habe ich den Süden der Mani geplant, am Vormittag
die Höhlen von Pirgos Dirou. Die sollen ein großes Erlebnis
sein."
"Die wollte ich auch unbedingt besuchen. Ja, machen wir das doch."
"Soll ich dich nach Hause begleiten?"
"Nein, kein Problem, mach dir keine Mühe."
"Ist aber keine Mühe, ich fahr gerne noch ein wenig herum."
"Nein, laß nur, es ist ja nicht weit. Wo treffen wir uns denn
morgen?" Pech gehabt, da läßt sich nichts ändern.
"Ganz einfach hier? Um halb neun?"
"Ja, prima, also dann. Schlaf gut. Ich freu mich schon!" Na,
das versöhnt mein aufgewühltes Innenleben wenigstens ein ganz
klein wenig.
"Ich auch. also dann: Ciao!"
"Ciao, Adrian, schlaf gut!"
Es tut wohl, meinen Namen aus ihrem Mund zu hören...
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