Die Journey

Wenn du zum Lesen ständig links und rechts scrollen mußt, dann klick hier drauf!17 - Tag am Meer

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War es das Tschilpen der Vögel draußen oder eine sanfte Bewegung neben mir - ich weiß nicht mehr, was den seifenblasendünnen Rest meines Schlafes zerspringen hat lassen. Neben mir fühle ich Wärme und weiß, daß ich nicht alleine bin. Die Augen lasse ich zu, suche nur wie eine noch blinde flauschige Welpe Kontakt und ruhe erst, als eine möglichst große Fläche meiner Haut auch Haut spürt und Wärme. Noch nicht ganz mich dem Tag übergeben, in jenem leicht irrealen, schwebenden Zustand bin ich, nun ganz Riechen und ziehe ihren Duft ein. Bodenlose Zufriedenheit ist in mir und ich glaube kaum, daß mich jetzt irgend etwas aus der Ruhe bringen könnte. Auf meinen leichten Druck hier oder dort spüre ich sofort leichten Gegendruck, nicht vereinbartes und doch bekanntes Signal der Übereinkunft. Erst eine ganze Zeit später ist es, als ich nun, noch leicht benommen, auf der Bettkante sitze und ich es plötzlich spüre: Dieses ganz feine, undefinierbare Gefühl einer abgrundtiefen Trauer. Widerwillig versuche ich, es beiseite zu schieben und es läßt das letztendlich auch mit sich geschehen.

"Was möchtest Du frühstücken?" Auch Alice ist noch etwas vage mit ihren Gebärden und ihrer Mimik.
"Yoghurt" antwortet sie, "Yoghurt mit Honig..." es klingt irgendwie verloren und schon wieder ist dieses seltsame, schaurige Ziehen da, schwebt kurz wie eine dramatische Ahnung im Raum. Diesmal verscheuche ich es, indem ich herzhaft aufstehe.
"Bin gleich wieder da!" Turnschuhe, Hose, T-Shirt, Geldtasche, Zündschlüssel. Ich halte kurz in meinem Schwung inne, um, fast ohne sie zu berühren, mit den fingerspitzen über ihre Wange zu fahren, dann beuge ich mich nieder und meine Lippen tasten sanft zwei, dreimal über ihre Stirn. Der Motor springt wie üblich gleich an, braucht ein wenig Choke, um wirklich aufzuwachen, bullert wartend vor sich hin, hie und da durch eine Handdrehung aufgereizt.

Die Sachen sind oben im Geschäft schnell gefunden und ich nehme noch ein paar mit, die helfen, angenehm einen Tag zu überleben. Nicht lange nach meinem Aufbruch rangiere ich Akbar wieder rückwärts unter das Schilfdach vor den Appartements, mit dem Hinunterklappen des Seitenständers fallen auch sofort die sechs Zylinder in Schlaf. Schlüssel raus, die Tüte mit den Lebensmitteln aus dem Sattelkoffer, Treppe hinauf und hinunter und ich bin wieder da. Schon beim Umrunden des Hauses habe ich das Wasser rauschen gehört, Alice duscht, so richte ich das Frühstück auf dem kleinen Tischchen gleich vor dem Appartement her. Sonnentupfer sickern durch die Ölbaumblätter und machen das Morgenessen zu einem impressionistischen. Alice kommt barfuß heraus, hat das große Handtuch um sich geschlungen, beugt sich herunter und nimmt mein Ohrläppchen zwischen die Lippen, zwickt dann noch schnell mit den Zähnen hinein, so daß auf dem Südpol meines Ohrs diese leichte Luftempfindlichkeit für kurze Zeit verweilt, nachdem ich zusammengezuckt bin; ein guter Morgen!

Yoghurt mit Honig ist eine feine Sache, genug hatte ich mitgenommen, um auch meine Neugier zu befriedigen. Die leichte Befangenheit des ersten Morgens ist schnell weggeschmolzen und wir plaudern über jede Menge Kleinigkeiten, machen uns auf eine Ameisenstraße oder eine Smaragd-Eidechse aufmerksam, genießen das Hiersein und Details die alle wirklicher sind als sonst.
"Ich würde gern den Tag in kleinen Schritten begehen, nicht ausgreifend in die Ferne schweifen..." wünsche ich mir und wie bei lange Vertrauten nimmt sie den Stimmungsfaden auf, ergänzt
"...ein Strandspaziergang bis ans andere Ende der Bucht?" An was ich nicht gedacht, aber genau das empfunden hatte.

Von rechts scheint die Sonne auf uns, wir haben beide eine Tüte mit Wasser und einer Kleinigkeit zu essen sowie ein Badetuch geschultert, sind nur mit Bikini bzw. Badehose bekleidet, ich habe noch eine Kappe gegen die Sonne aufgesetzt. Das Meer ist ganz still, seine glatte Oberfläche atmet kaum merklich in ruhigen, tiefen Zügen. Unaufmerksam schickt es seine Ausläufer als verspielte Wellen auf den Sand, ich glaube, daß es schläft und nicht gestört werden möchte. Die Schritte erfordern Kraft, denn ganz ungleichmäßig tief sinkt man im Sand ein, mal kaum, dann wieder knöcheltief. Diese Arrhythmie der Bewegung fordert uns viel mehr, als wenn wir bei jedem Schritt gleich tief einsinken würden. Jeder sucht für sich den optimalen erscheinenden Weg. Weiter oben im Sand, vom Wasser entfernter, sinke ich immer tief ein und auch ist der Sand mittlerweile ziemlich warm. Ständig eben im Wasser gehend muß ich zusätzlich beim Vorwärtssetzen der Schritte gegen den ungleichmäßigen Widerstand der Wellen arbeiten. So bietet sich eine zeitlang als Ideallinie ein Streifen wenig außerhalb der Wellenzone an, dort, wo es noch von der Nacht, als die Wellen höher gingen, etwas feucht ist. Links zieht die neue Taverne an uns vorbei, einige Privathäuschen, in denen den Sommer zu verbringen ich mir wohl vorstellen könnte. Nach einer guten Zeit wird der Strand ein wenig flacher, so daß die Wellenzone breiter wird und damit das Band, das nur die etwas größeren Wellen erreichen. Dieser Streifen ist ideal zum Gehen, denn er ist recht hart und man sinkt überhaupt nur selten und dann wenig ein. So werden die Schritte entspannter, die Haltung lockerer. Ein großer Baumstamm kommt uns entgegen, liegend halb im Sand begraben lädt er ein, etwas bei ihm zu bleiben. Alice nimmt die Einladung als erste an und ich setze mich neben sie. Den Zentimeter zwischen uns zerdrückt sie gleich, indem sie etwas näher rückt und sich an mich lehnt. Ich spüre die von der Sonne erhitzte Haut an meiner kühlen, der Sonne vorhin abgewandten Seite. Meine Finger reisen über ihren Rücken um in ihren Haaren, ihrem Nacken einen leisen, versonnen Tanz zu beginnen. Unsere Köpfe bieten sich gegenseitig halt, für jeden steht so die Welt in der anderen Richtung etwas schief. Neben den Füßen erzählen ein paar Zigarettenkippen davon, daß auch schon andere hier gesessen sind, den Blick über die See gerichtet, wo ganz fern die Umrisse der Insel Kythira mehr zu ahnen als zu sehen sind. Eine Schwebfliege läßt sich auf meinem Bein nieder, ein possierliches Tierchen, in stolzer Mimikry eine unangenehme Wespe vortäuschend. Doch Schwebfliegen sind ganz liebe Zeitgenossen, sitzen federzart nach helikoptergenauem Landeflug zwischen den Haarbäumen der Haut, rhythmisch nach Feuchtigkeit mit ihrem Rüssel stempelnd, im gleichen Takt pulsiert ganz eifrig ihr frei schwebend wirkender Hinterleib. Die Zeit scheint still zu stehen nur das kleine Tierchen zeigt, daß sie es doch nicht tut.

Nach einer Zeit stehen wir wieder auf und setzen unseren Weg fort. Mehr als die Hälfte der Bucht haben wir schon bewandert und es dauert nicht lange, bis der Bach auftaucht, der sich durch den Sand eine paar Meter breite Rinne genommen hat. In immer kleineren Schritten nähere ich mich dem Abbruch der Kante, bis ich hinuntersacke und im Wasser stehe. Kaum ist sein Ufer demoliert, beginnt der Bach ohne Kommentar, alles wieder seinem Fluß einzuordnen. Sand wirbelt, fließt und wandert und schon beginnt der Priel, meine Beine einzubauen, so als ob sie immer schon mit dazu gehört hätten. Kein Wenn und Aber oder Aufmucken. Alice hat schnell einen kleinen Vorsprung herausgeschlagen. So entziehe ich dem unbeeindruckten Wasser wieder meine unteren Extremitäten, um sie dafür zu nutzen, den Abstand zu ihr wieder zu verkleinern. Das Ende der Bucht wird immer deutliche erkennbar. Kein Mensch weit und breit, wie schön!

Wasser ist viel eigensinniger, als man vielleicht denkt! Eine noch so glatte Fläche wird es niemals gerade hinunterrinnen es hat ein Gedächtnis und doch ist es so anpassungsfähig wie nur sonst etwas. Die Unregelmäßigkeit zeigt sich mir hier wieder in den Schlingen und Kurven, die es in den gleichförmigen Strand modelliert. Lauter kleine Buchten lockern die Gerade des Strandes auf, geben ihm Leben und Spannung. Glatter, völlig glatter Sand, einzigartig-samtig in seiner Gleichmäßigkeit wird ein- und abgeschlossen von kleinen Hügelchen, Sammlungen von abertausend winzigen Steinchen aller Farben. Milchig weiß, schwarz, rot, grün und blau, schimmernd und schillernd, eben angespült und von der Sonne bestrahlt wie eine Ausstellung ausgestreuter Edelsteine.

Wir sind am Ende angekommen, am Ende der Bucht, es wird durch niedrige aber nichts desto trotz bizarre Steine beschlossen, die, kleiner werdend, vorne aus dem Blickfeld verschwinden. An die Naßzone der Wellen schließt sich ein Streifen schon lange trockenen Sandes, hier liegen Hölzchen und die eine oder andere Pflanze hat es gewagt, eine einsame Existenz zu gründen. Hinter der nun folgenden niedrigen Böschung ist nur Grünland, Macchie und ein paar Ölbäume. Alice legt mit einem Schwung ihr Gepäck auf einen Stein, gleich liegt der Bikini daneben und schon steht sie bis zum Nabel im Wasser. Ein paar Augenblicke später stehe ich neben ihr und die Freude kriecht von den blitzenden sich schneidenden Linien, die die Wellen auf den Sandgrund spielend malen, die Beine herauf und nimmt von mir Besitz bis zu den Haarwurzeln. Keine sprühende Freude sondern diese stille, die einen dankbar macht und ein wenig traurig, daß man nicht alles zugleich umarmen kann. Langsam, Schritt für Schritt und Hand in Hand gehen wir weiter und fast unmerklich nur entfernt sich der Meeresgrund von der Oberfläche. Weit draußen schon sind wir, bevor es sich nicht mehr ausgeht, gleichzeitig den Kopf über dem Wasser und die Füße am Boden zu haben. Wir lassen uns los, die Körper driften nach oben und so treiben wir eine zeitlang und doch zeitlos auf dieser vollkommen reinen und klaren Fläche, während kleine Wellen verspielt an unseren Seiten tastend spielen. Eine ganze Weile genießen wir dieses Morgenbad - nun, so früh ist es auch nicht mehr - schwimmend, uns treiben lassend, zwischendurch anspritzend, bis wir uns wieder auf den Weg zum Land machen. Ein kurzes Wettschwimmen, schließlich in Wettlaufen übergehend erreichen wir fast gleichzeitig den Strand uns lassen uns in den Sand fallen. So, wie ich hingefallen bin, bleibe ich liegen, höre mein Blut pochen und pulsieren, die Wellen leise rauschen, ein paar Vögel, ein Möwenruf, ein Flugzeug, das man nur hören würde, wüßte man nicht, daß es der Urheber des weißen Strichs hoch oben am Himmel ist.

 

- 2 -

Nach einer Weile setzen wir uns auf und sind beschäftigt, uns gegenseitig den Sand abzuwischen. Viele Körnchen kleben hartnäckig und wollen einzelne Aufmerksamkeit, bevor sie hinunterhüpfen. Wir lassen uns auch Zeit und es ist schön, den Körper des anderen auf diese zugleich zweckmäßige Art berühren zu können. Es ist nicht nur schön, sondern ziemlich erregend, plötzlich den Menschen so völlig pur vor sich zu haben, den ich vor vierundzwanzig Stunden höchstens zart berührt hatte. Doch ich konzentriere mich nur jeweils auf den vom Sand zu befreienden Quadratzentimeter. Dann sitzen wir einfach wortlos da und nichts, rein gar nichts stört den Frieden.

Es wird noch eine ganze Zeit dauern, bis die Sonne den Zenit erreicht hat. Lange haben wir nichts mehr gesprochen, lange nur das Schweigen sprechen lassen, eine ganz intime Sprache, die lautlos hin- und herwogt.
"Wasser..." flüstert Alice und obwohl das nicht damit gemeint war, kommt mir doch in den Sinn, daß ich Durst habe. Nach ein paar ausgiebigen Schlucken von uns beiden stelle ich die Beutel, die noch achtlos in der Sonne lagen, hinter einen Stein.
"Wasser," wiederholt sie, jetzt nicht mehr tonlos, "es ist einfach unbeschreiblich!" Sie steht auf und geht wenige Schritte nach vorne, so daß sie dort steht, wo immer wieder die Wellen herauflecken.
"Schau, mit jeder Welle beginnt nun ein Bauen an anderen Voraussetzungen. Mit jeder Welle sinke ich bei den Fersen ein wenig tiefer ein, ein paarmal, und oben wird etwas Sand herausgespült. Es wird wie dort" und damit zeigt sie auf den einzigen kleinen Stein, der hier am Ende im Sand steckt und ebenfalls immer um- und manchmal überspült wird.
"Es gibt kein Überlegen, es geschieht automatisch, das Meer macht es einfach. Es gehört so und es tut. Wie anders... wie anders machen doch wir es. Wir würden sicher nachdenken, ob es so auch in Ordnung ist, ob man es nicht anders besser, zweckmäßiger machen kann."
"Außer wir wären Fließbandarbeiter in einer Fabrik. Da würden wir auch nicht fragen."
"Nein, da nicht. Aber irgend jemand hätte auch einmal überlegt und gegrübelt, wie es wohl am besten sein soll... weißt Du, wir können einfach nicht mehr spontan sein. Nein, nicht spontan sein, sondern spontan SEIN. Einfach aus dem Augenblick heraus handeln."
"Sollen wir denn nicht bewußt handeln? Konkret wissend, warum wir etwas tun?"
"Doch, in der Übergangszeit bleibt wohl nichts übrig."
"Übergangszeit? Welche Übergangszeit?"
"In der Zeit des Pendelns..." - ich frage nicht, sondern warte, bin mir sicher, daß sie mir sagen wird, was sie damit meint. Nach einer Zeit kehrt sie wieder aus ihrer Gedankenwelt zu mir zurück und fährt fort:
"Bei vielen Dingen handeln wir intuitiv, handeln einfach so, weil wir das als richtig empfinden, wissen aber eigentlich nicht warum. Wir fragen uns auch gar nicht, wir handeln einfach. Irgendwann ergibt es sich, daß wir eines von diesem Handeln hinterfragen. Danach handeln wir dann bewußt so. Es sieht gleich aus, ist aber doch völlig anders. Wenn Dich zuerst wer fragt, warum du es so machst, dann hast du keine Antwort darauf. Danach kannst du erklären, weshalb du es so machst. Du hast es in Dein Weltbild eingebaut und bist ein Stück bewußter geworden."
Ich denke kurz nach und es kommt mir ein Beispiel in den Sinn.
"Mir ging es so mit dem Setzen von Kommas. Zuerst habe ich die in der Schule einfach nach Gefühl gesetzt und es hat fast immer gestimmt. Dann mußten wir die Regeln lernen und es klappte ab da viel seltener." Ich muß grinsen bei dem Gedanken. "Heute klappt es so auch wieder einigermaßen."
"Ja, genau so. Die Zeit zwischen der Auseinandersetzung und dem natürlich-bewußten Handeln kommt mir so vor wie eine Zeit des Pendelns. Einpendeln in eine neue Richtung."
"Nachtmeerfahrt, Nebelfahrt, Randzeit oder Zeit im Schatten?"
"Ja, auch diese sind solche Zeiten, wo man den einen Hafen verlassen hat und den anderen noch nicht erreicht... Nachtmeerfahrt, ein schönes Wort dafür. Nur wenige haben den Mut zu Nachtmeerfahrten..."
"Glaubst du?"
"Ja, sicher. Jeder Schritt zu einer Änderung bedeutet eine Pendelzeit, Nachtmeerfahrt. Du weißt, was du verläßt, aber nicht was du gewinnst. Du kannst es nicht wissen, denn du hast es in deinem Leben ja noch nicht verankert. Das Vergangene schon. Auch wenn es nicht schön war, so gibt es doch die Sicherheit des Berechenbaren."
Keine Welle ist gleich, ich sehe es an diesem einen einzigen Stein hier im Sand. Jede macht etwas anderes mit ihm. Mal mehr von links, mehr von rechts, bricht davor oder auf ihm, umspült ihn oder bedeckt ihn ganz. Alice sitzt neben mir, in Gedanken versunken, die Beine angezogen und die Knie mit den Armen umschlungen. Aus dem Bedürfnis, sie zu spüren, fahre ich zart über ihren Arm, doch sie reagiert darauf nicht. Mir ist nicht so wirklich nach Philosophieren im Moment aber ich versuche, ihr zu liebe, meine Gedanken zu sammeln.
"Und dann die Umgebung!" Es kommt mir so vor, als hätte ich leichten Zorn in ihrer Stimme gehört, auf jeden Fall Unwilligkeit. "Sobald man etwas ändert, sind plötzlich alle da, die sich vorher keinen Deut um dich gekümmert haben und versuchen, dich zurückzuholen! Du paßt plötzlich nicht mehr in ihren Rahmen."
"Das ist unbequem."
"Ja und? Warum kann einen nicht jeder tun lassen, was man für gut hält?"
"Angst? Angst, eventuell über das eigene Tun nachdenken zu müssen?" Sie wiegt den Kopf.
"Oder keine Macht mehr zu haben? Verliert man nicht die Möglichkeit der Macht über Nonkonformisten? Hat keinen Einfluß? Keine bekannten Argumente?"
"Das ist doch der pure Eigennutz! Es ist zum Kotzen, wie sich kaum wer für andere interessiert!" Ich kann ihre Gedanken gut nachvollziehen und doch bin ich ein wenig über ihre Heftigkeit erschrocken. Sie hat natürlich Recht. Es ist - wie sollte es auch anders sein - wieder einmal die Unbeweglichkeit. Und niemand ist erbaut, wenn er an seine eigene erinnert wird. Trotzdem, mir ist einfach mehr nach Äußerem als nach Innerem zumute. Nach einer Weile unternehme ich noch einen Versuch.
"Ach, Alice, nimm dir das doch jetzt nicht so zu Herzen! Laß uns doch einfach den Tag genießen, die Sonne, ein wenig schwimmen, spazieren, liegen und..." und damit lasse ich Mittel- und Zeigefinger im Spazierschritt ihren Arm hinaufwandern, wo sie sich in zartem Kraulen niederlassen. Doch sie reagiert wiederum kaum, erst nach einigen Augenblicken beginnt sie sich zu entspannen und ganz leicht mit dem Kopf meiner Hand einen Gegendruck zu bieten, indem sie ihn in den Nacken legt.
"Warum bist du so nachdenklich jetzt, sag?"
Sie antwortet nicht und ich glaube schon, daß sie meine Frage nicht gehört hat. Doch dann dreht sie sich langsam zu mir und sieht mich nachdenklich, nein traurig an. "Ich weiß es nicht, Adrian, ich weiß es nicht. Es ist so schön, alles, ohne Einschränkung, ich dachte nicht, dem zu begegnen und doch - ich weiß es nicht!" Sie schlingt die Arme um meinen Hals und vergräbt ihren Kopf, hält sich fest. Ich verstehe gar nichts mehr, aber das will nichts sagen, denn Männer sind einfach anders gestrickt als Frauen. Es kommt nicht immer drauf an, alles und jedes zu verstehen, zwischendurch muß man einfach auch akzeptieren ohne zu verstehen. Ich versuche es heftig, doch die Fragezeichen lassen sich aus meinem Gehirn nicht verjagen.
Plötzlich löst sie sich, fast abrupt. "Laß uns ein wenig spazieren gehen, bis vor zum Priel und wieder zurück, ja?"
Die Sonne wird wohl bald ihren Höchststand erreicht haben und wärmt nun sehr kräftig. Zum Glück ist unsere Haut schon an sie gewöhnt, sonst stünde hoffnungslos ein Sonnebrand ins Haus. Es ist mehr schlendern als spazieren, immer wieder bücken wir uns, um dem anderen einen schönen Stein zu zeigen, den wir entdecken. Ein Stück einer Pflanze, wohl ein Feigenkaktus, liegt hier als skurrile Skulptur, ein Torso, der seine Stummel gegen den Himmel streckt. Ein ganz leichter Wind kommt auf, man sieht wo er das Wasser berührt wird es leicht geriffelt. Die Luftbewegung ist angenehm, auch die Kühle des Bachs, der sich hier nun mit der Mutter Meer vereint. Wie eine breite Zunge hat er den mitgenommenen Sand hinausgetrieben, so weit, wie seine Kraft es zuläßt. Auf dem Weg zurück gehen wir das letzte Stück im Wasser und schwimmen das allerletzte zurück. Diesmal setzen wir uns gesittet auf die Badetücher, so entfällt leider die Aussicht auf die anregende Arbeit des Sand-Entfernens.
"Wenn du weitersprechen möchtest," unterbreche ich das abermalige lange Schweigen, "dann würde mich das freuen! Wir waren beim Handeln aus dem Augenblick, bei der Spontaneität nicht fertig. Was ging dir da durch den Kopf? Ich versteh noch nicht ganz, was du damit sagen wolltest."
"Die Zeit des Pendelns..." - "ja?" Als ich schon glaube, daß sie doch nichts mehr dazu sagen möchte, beginnt Alice.
"Weißt du, es ist eine Zeit von großer Unsicherheit. Du hast den einen Hafen verlassen, bist auf unbekannter See unterwegs. Ja, Nachtmeerfahrt... ja, das klingt gut... du hast keine Sicherheit, absolut keine. Es ist... es ist etwa so, als ob du aus deiner Heimat vertrieben worden wärest, auch wenn du freiwillig gegangen bist. Auch wenn du dort in einer winzigen Wohnung in einem schlechten Stadtviertel gewohnt hast, so war es doch dein Zuhause. Auch wenn es nicht schön war, du wußtest, was dich erwartet. Auf dem Meer - du siehst nur Wasser bis zum Horizont. Und auch das nicht wirklich, denn eigentlich denkst du, daß dort der Horizont ist, wo keine Sterne mehr schimmern. Wird es weißer Sandstrand sein, der dich erwartet? Oder tosende See an scharfen Klippen? Ein gemütlicher Hafen oder einer, wo dein kleines Schiffchen sich verliert neben riesigen Fracht- und Kreuzfahrtschiffen? Was für eine Sprache wird man sprechen? Wird man dich verstehen, wirst du die anderen verstehen? Ja, so sieht sie aus, diese Fahrt ins Ungewisse, wo du pendelst zwischen Mut und Zweifel, zwischen Ost und West. Und insgeheim weißt du, daß es nur den Weg nach vorne gibt und das ist es, das dir den Atem stocken läßt, so als ob dir der Sturm die Luft vor dem Mund wegstiehlt."
Was war der Anstoß gewesen, daß Alice plötzlich so nachdenklich geworden ist, noch mehr, daß es plötzlich fast den Eindruck macht, als würde sie wo anders hinzugehen im Begriff sein.
"Wieso, beschäftigt dich das so tief?" Ich versuche, meine Stimme so sanft wie möglich zu machen "sag... Alice...?"
Unwillig blickt sie auf das Meer hinaus, starr, ich spüre, daß meine Frage nicht die richtige war. Nach geraumer Zeit wendet sie sich mir zu.
"Adrian, macht es dir etwas aus, wenn wir und langsam auf den Weg machen?" und als sie meinen Blick sieht "zu viel... ich glaube, es wird zu viel Sonne am Stück... weißt du..."

 

- 3 -

Und so gehen wir den selben Weg zurück, den wir gekommen sind. Nein, ich fühle mich gar nicht gut und genau genommen weiß ich nicht einmal wieso. Was hab ich falsch gemacht? Zuerst diese Übereinstimmung und nun dieser Ausgang? Ganz tief innen macht sich so ein würgendes Gefühl breit, das ich schon gar nicht verstehe, es nimmt mit jedem Schritt zu. Das gleiche Gefühl, von dem heute Morgen Vorboten kurz vorbeigeschaut haben. Mit aller Macht versuche ich, es zur Seite zu schieben, versuche, die Wärme der Sonne als angenehm zu empfinden, aber ich nehme sie nur als heiß wahr. Die einen Steine als hart, Das Wasser unangenehm, den Sand weiter oben auch als heiß. Die Schritte sind unendlich anstrengend und ich bin richtiggehend froh, als wir wieder den einsamen Baumstamm erreichen. Wieder sitzen wir hier nebeneinander, aber die Welt ist nicht schief, wieder erinnern die Kippen daran, daß wohl auch andere hier die Umrisse von Kythira in der Ferne gesehen haben. Und trotzdem ist alles ganz anders.

"Alice...?" Ich komme mir dumm vor, daß ich so zaghaft frage, als ob ich etwas Schlimmes getan hätte.
"Ja?"
"Kannst Du mir sagen, was los ist?"
"Ich weiß es nicht, Adrian, ich weiß es wirklich nicht."
"Merkst du es nicht, daß es so anders ist?"
"Doch, ich merke es, du kannst nichts dafür, es tut mir leid..."
"Was ist denn? Sag? Oder magst du nicht sprechen?"
"Doch... schon... aber ich kann auch nicht sagen, was los ist... ich wüßte es selbst gerne, glaub mir!"
"Möchtest Du lieber alleine sein? Bedrängt dich meine Gegenwart irgendwie?"
"Nein, du bedrängst mich nicht... nein..." - Schweigen.
"Aber vielleicht ist alleine sein doch ganz gut..." ich weiß nicht, ob sie mich meint oder sich selbst fragt.
"Wenn es für dich besser ist, natürlich. Man braucht das manchmal. Ist Ok für mich, wenn du es möchtest."
Sie steht auf und so gehen wir schweigen wieder weiter zurück, die wenigen Privathäuschen ziehen wiederum vorbei, die Taverne. Wir biegen vom Strand ab, ein paar Schritte und wir sind bei meinem Appartement angelangt.
"Treffen wir uns morgen dann in Githio zum Frühstück?"
"Ja..." sie blickt in die Ferne und irgend etwas krampft sich in mir zusammen. Dann wird ihr Blick wiederum konkret, kommt in die Gegenwart. "Ja, in Githio. Im Kreisverkehr. Ist gut."
Wir verabschieden uns, ein flüchtiger Kuß und ich gehe noch hinter ihr her, Treppchen hinauf und Treppchen hinunter. Auch sie scheint kraftlos zu sein oder ist nur sie es und das entzieht auch mir alle Energie? Sie hat schnell ihr paar Sachen festgemacht, startet. Dann merkt sie, daß sie den Helm nicht aufgesetzt hat, schaltet die Zündung noch mal aus und greift zu der dunklen Kugel aus Kunststoff. Bevor sie ihn aufsetzt, bin ich bei ihr, nehme ich ihre Wange in meine Hand und schaue sie ernst an.
"Du paßt gut auf dich auf?"
"Ja..."
"Du weißt... ich brauch dich..."
"Ja..." dieses 'ja' ist fast nicht hörbar und sie nimmt schnell den Helm und stülpt ihn über. Die TDM bullert auch gleich wieder, Ständer, Gang, Gas, Kupplung... sie winkt noch ganz kurz mit der Linken und schon rollt sie die kurze Einfahrt hinaus, um vorne links abzubiegen und aus meinem Blick zu verschwinden.

Ich stehe noch nach einigen Minuten bewegungsunfähig da. Was, um Himmels Willen ist denn passiert? Was habe ich falsch gemacht? Da war doch nichts! Schön, wenn man mit jemandem nicht kann und schon alles sich von Haus aus so eckig und krakelig anfühlt, dann kann es vielleicht so ein Mißverständnis geben. Aber zwischen uns? Wo doch so eine stille Übereinkunft war, wie es sie normalerweise vielleicht im Film gibt aber nicht wirklich. Wenn ich es irgendwo gelesen hätte, dann hätte ich es vielleicht sogar erfunden und kitschig gefunden. Aber es hat doch so völlig gestimmt...!

Ich hole tief Luft, schüttle den Kopf, streife die Erstarrung ab und gehe ganz automatisch wieder zu den Stufen zurück, habe keine Ahnung, was ich nun tun soll. Es ist früher Nachmittag, die Sonne brennt, aber ich habe keinerlei Lust zu baden oder schon gar nicht, in der Sonne zu liegen. Irgend etwas tun, ablenken. Aber was? Wegfahren? Wenn sie eventuell zurückkommt? Dann glaubt sie vielleicht, daß ich verstimmt wäre. Nein, besser nicht. Ich gehe ins Zimmer, aber da fällt mir die Decke auf den Kopf. Warum nur macht mich das alles so nervös? Ist doch nur bis morgen, nein? Bis morgen? Ja, sicher, sie hat es ja selbst gesagt! Also beruhige dich doch! Ok, dann... na gut...

Ich setze mich unter die Schilfrohre, vorne am Wasser ein paar Kinder, die Gräben in den Sand ziehen, eines läuft mit einem Kübelchen hin und her als Wasserträger. Eine weiße Plastikhaube über dem Kopf einer älteren Dame zieht schnurgerade durch die leicht geriffelte Wasserfläche, ein alter Mann mit einem Stock wandert über den Sand, vorbei, verschwindet in der Ferne, weiter draußen ein Gummiboot mit einem aufreizenden Außenborder und drüben der Mann, der den ganzen Tag auf seiner Luftmatratze auf dem Wasser treibt, rotbraune Haut auf himmelblauem Plastik. Alles nehme ich wahr, aber so am Rand, nicht wirklich, denn die Gedanken sind wo anders. Nicht konkret, wälzen keine Überlegungen, sondern schlurfen diesem seltsam-dumpfen Gefühl hinterher, wie ein vom Alter gebeugter Diener seinem kranken Herrn.

Schließlich raffe ich mich doch auf, schreibe sicherheitshalber einen Zettel 'FÜR ALICE', schiebe ihn in die Ritze zwischen Tür des Appartements und Türstock, ein sinnloses 'bin ein wenig weggefahren, komme gegen Abend wieder, Adrian' steht innen drauf. Lederjacke hinten mit der Gummispinne auf die Sissybar gespannt, Nierengurt, Helm. Langsam rolle ich hinaus, den selben Weg, den Alice vorhin genommen hat, den Schotterweg zwischen den Feigenbäumen, die kleine Brücke über den Bach, dann die Straße hinauf zur Hauptstraße, vorbei an Marias Lokal und dann dem kleinen Laden, der alles hat. Ziellos biege ich rechts ab, an der Tankstelle vorbei, dem Haus, wo immer zwei Mercedes parken, der alten Ölfabrik, später dem Nachtclub, der am Tag so völlig schäbig aussieht, den Zeltplatz-Zufahrten. Den kleinen Hügel hinauf und dann die langgezogenen wenigen Kurven hinunter nach Githio hinein, rechts die Dattelpalmen mit ihrer orangefarben leuchtenden und sprühenden Frucht-Fontänen, drüben der Leuchtturm in der Nachmittagssonne. Keine Ahnung habe ich, was ich eigentlich suche, was ich will, Hauptsache Bewegung und nicht stumpf herumsitzen. Vielleicht auch insgeheim der Wunsch, die rote TDM zu erspähen, was natürlich nicht der Fall ist. Irgendwo weiter hinten umdrehen, wieder vorbei an den Zigeunern, die um einen abgetakelten Lastwagen stehen. Zurück ganz gleich, Zeltplätze, Nachtclub, Ölfabrik... warum setze ich mich nicht einfach hin und lese gemütlich etwas, sicher hat sich Alices' Stimmung bis morgen beruhigt und ich mache mir jetzt sinnlose Gedanken.

Wieder bei den Appartements treffe ich die junge Vermieterin, die dabei ist, mit Schlauch und Wasser eine Unmenge an Plastikspielzeug von Sand zu befreien. Bis vorher war es drüben am Strand, notdürftig von einem Netz zusammengehalten als riesiger wirrer Haufen gelegen, ein paarmal schon hatte ich Stücke, die der Wind verwehen wollte, irgendwie dazwischen gesteckt gehabt. Nun wird das ganze eingewintert, es werden wohl kaum mehr Touristenkinder erwartet und ihre eigenen haben das Spielzeug schon mehr als genossen. Ich leihe mir den Schlauch aus, um Akbar wieder grob vom Staub zu befreien. Auf dem Rückweg zum Appartement komme ich mit dem jungen Paar ins Plaudern, die neben mir wohnen. Sie sind freundlich und laden mich ein, von dem frisch gefangenen Fisch mitzuessen, den sie während des Tages vom Gummiboot aus gefangen haben. Das Gespräch schleppt sich ein wenig dahin, es ist mir unangenehm, daß ich trotz ihrer Freundlichkeit mit den Gedanken nicht so ganz bei der Sache bin. Später brechen sie auf - wir hatten an meinem Tischchen gegessen, am selben, das Alice und ich zum Frühstück verwendet hatten - und ich ziehe mich ins Dunkel des Zimmers zurück. Die Türe geschlossen, weht nur der Vorhang vor dem einzigen kleinen Fenster leicht im Durchzug zu der Luke im Bad auf der anderen Seite. Ich liege lang am Rücken, Grillenzirpen, Hundebellen in der Ferne und wenn ich seitlich liege, höre ich meinen Pulsschlag.

Irgendwann nimmt mich der Schlaf schließlich doch gnädig in seine Vergessen gewährenden Arme.

 
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