- 1 -
Nächte
wie diese sind meist kurz. Der Schlaf meidet einen in unangebrachter Bescheidenheit
so, als ob er glauben würde zu stören. Fast ungeduldig hatte
er nur kurz vorbeigeschaut, das Wichtigste sozusagen erledigt und war
zappelig verfrüht wieder aufgebrochen. So bin ich aufgestanden bald
nachdem es die Sonne getan hat und bin lange am Strand gesessen. Was geht
einem in solchen Situationen so alles durch den Kopf! Zweifel an sich
selbst und am anderen, sinnlose Gedanken und ungerechte, überflüssige
und abwegige, unrealistische und spekulative - aber vor allem: Man lebt
nicht im Jetzt. Es sind verschiedenste Gemälde, die man fahrig auf
die Leinwand der Vorstellung wirft, oft in einer Eile, daß man gar
nicht mit dem Neubespannen der Gedankenstaffelei nachkommt. Die Gegenwart
hingegen durchwandert man in Traum und Unachtsamkeit. Auch so schließlich
den Weg zu Akbar, aufsitzen, Helm aufsetzen, starten, losfahren. So finde
ich mich nun erst wieder, als ich die Strecke nach Areopolis hinaufziehe,
die Luft ist immer noch ziemlich frisch, aber das tut gerade gut. Ziellos
fahre ich kurz vor dem Ort rechts ab, abwärts den Hang entlang, doch
auch der weite Blick auf den gegenüberliegenden Berg und die Meereszunge
zwischen uns fällt den Gedanken zum Opfer und bleibt fast unbemerkt.
Es ist noch zu früh, denn wir haben uns immer erst etwa um neun Uhr
getroffen, drüben in Githio im Kreisverkehr. Zu nichts habe ich Lust,
kann mich für nichts wirklich entscheiden und so fahre ich weiterhin
planlos durch den strahlenden Morgen, nehme ihn gar nicht wahr, so undankbar
wie ein Kind, das immer nur aus der Fülle zu nehmen braucht.
Irgendwann ist dann aber doch die Zeit vergangen, schleichend,
nein schlurfend, wie eine alte, gebückte Frau, die ihre aufrechte
Haltung einem Leben in ständiger Arbeit geopfert hat. Die durch unzählige
Wiederholungen gewohnte Strecke abfahren, schließlich die erste
Promenade an den vielen Tavernen vorbei, die Spannung steigt. Aber sie
kann noch gar nicht da sein, es ist ja noch eine halbe Stunde vor neun.
Neunzig Grad links, Kreisverkehr, leer natürlich, umrunden, stehen
bleiben, absitzen. Lediglich einige Leute sind einkaufend unterwegs, es
bewegt sich die Realität über die Straße, mit unbarmherziger
Ignoranz meiner Stimmung, die Urlaubsträume frühstücken
noch oder duschen, sind überhaupt schon jahreszeitbedingt abgeflaut,
werden aber doch das Ortsbild wieder ein wenig ändern. Erstaunt entdeckt
mich Mitsos, der Kellner erst nach einer Weile, hebt fragend einen Finger,
ja, einen Frappé und kommt bald darauf herüber. Aber zu dem
Frappé gibt er mir auch noch ein kleines Couvert - oder besser:
Einen Zettel, der gegen ungewolltes Öffnen am Rand zusammengeklebt
ist. Hitze schießt mir in den Kopf und meine Hände zittern
leicht, als ich daran herumnestele, um ihn nicht zu zerreißen beim
Öffnen.
"Mein lieber Adrian!" Beginnt er und es flackern
ob dem 'mein' kurz Hoffnung und Freude auf.
"Wenn Du das liest, werde ich schon irgendwo sein, ich weiß
noch nicht wo.
Ich bin unendlich traurig und doch kann ich nicht anders. Obwohl Du mich
immer wieder erstaunt hast damit, daß Du Dinge verstanden hast,
die andere nicht nachvollziehen konnten, wird es Dir jetzt wohl nicht
gelingen, mich zu verstehen. Genau genommen verstehe ich mich selbst nicht.
Bei Dir habe ich ein Verstehen und eine Nähe empfunden, wie ich sie
nicht für möglich gehalten hätte. Aber genau das ist es
wohl auch, das mir Angst macht. Angst, mich zu verlieren, abhängig
zu werden. Ich weiß, das klingt zu kitschig und zugleich zu realistisch,
aber ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Ich fühle,
wie meine gewonnene Leichtigkeit und Freiheit droht, aufgesogen zu werden
in Gemeinsamkeit und das bewirkt bei mir Platzangst, Panik! Ob Du mich
vielleicht doch ein wenig verstehen kannst...?
Eine große Spannung ist das, hier die Sehnsucht nach Geborgenheit,
dort die Angst, wie ein kleiner Magnet von der Eisenplatte gebannt zu
werden...
Ja, das ist sicher nicht nachvollziehbar...
ich fürchte um meine zart keimende Selbständigkeit, fürchte,
im Glück zu erlahmen.
Ach, Adrian, ich bin so unglücklich, aber ich kann nicht anders,
verzeih...
Deine Alice, die Dich nie vergessen wird!"
Schocks
werden mir nie sofort in der gesamten Tragweite bewußt, sondern
es dauert immer ein Weilchen. Ist auch oft ganz praktisch, denn so kann
ich im Augenblick meist einigermaßen überlegt handeln. Deshalb
sauge ich abwesend an dem Frappé, der Schaum gurgelt durch den
Halm empor, lese die Zeilen noch und noch einmal, sehe ziemlich abwesend
auf die Leute rundherum und überlege. Was soll ich tun?. Hinterherfahren?
Sie suchen? Aber wohin? Ist sie nach Patras gefahren oder Igoumenitsa?
Heute? Morgen? in den nächsten Tagen? Als Wegelagerer beim Schiff
jeden Tag warten? Und dann? Ich lege Geld neben das leere Frappéglas
und fahre zurück zu meinem Appartement. Was tun, was tun? Alle Handlungen
sind völlig planlos, ich habe das Bedürfnis, irgend etwas zu
tun, um nicht nichts zu tun.
Just als ich die paar Stufen zur 'Brücke' zu meinem
Appartement hinaufgehe, kommt mir die alte Dame entgegen, der neulich
der Sprit ausgegangen war. Freundlich grüßt sie zurück
und sieht mich anschließend fragend an. Kann sie Gedanken lesen
oder sieht man es mir doch so an? Unnötiger Weise fragt sie nun auch
noch "Wie geht es ihnen?"
"Schlecht" ist meine lakonische Antwort. Warum etwas vormachen.
"Ach, das tut mir aber leid... bei so einem schönen Tag."
Pause.
"Schlimm?"
"Ja, schlimm... doch, ja."
Sie fragt nicht weiter, hat offenbar eine feine Antenne dafür, was
gut tut und was nicht. Schon bin ich in Gedanken, bleibe aber stehen,
da mir einerseits nichts zu sagen einfällt, andererseits das Gespräch
aber nicht abgeschlossen ist. Nach einer Weile meint sie: "Ich habe
eine Frage... sie müssen aber unbedingt sagen, wenn es ihnen nicht
in den Kram paßt, ja?"
"Ja, natürlich."
"Ich muß heute nach Sparta fahren um einzukaufen. Nur dort
gibt es diesen Supermarkt, der um so vieles günstiger ist als die
anderen. Ich müßte einige Flaschen mit Getränken mitnehmen
und die sind ziemlich schwer. Möchten sie nicht mitkommen? Wir könnten
auf der Fahrt auch ein wenig plaudern..."
Ich bin sicher, sie hätte das nicht gefragt, wenn ich durch meine
Stimmung nicht den Anlaß dazu gegeben hätte. In der Tat kommt
mir der Vorschlag bei genauerem Betrachten gar nicht so ungelegen vor,
nein, er ist mir sogar äußerst willkommen. Ich willige ein
und sie ist offenbar erfreut: "Das ist nett, so muß ich auch
nicht alleine fahren, schön!"
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- 2 -
Kurze Zeit später
sind wir unterwegs in ihrem "Käferchen", wie ich mich erinnere,
daß sie ihren Untersatz, den fahrbaren, nennt. Während wir
gemächlich durch die Landschaft gondeln erzählt sie munter von
sich. So erfahre ich, daß sie Naturheilkundlerin ist, im Süden
Deutschlands wohnt, eine Tochter hat und schon seit Ewigkeiten hier herunten
während des Sommers wohnt. Manches Jahr war sie sogar schon vom Frühling
bis in den Herbst ohne Unterbrechung hier. Ihre wettergegerbte Haut bestätigt,
daß sie viel Zeit an der frischen Luft und in der Sonne verbracht
hat. Im Gegenzug möchte sie auch von mir einiges wissen, was ich
beruflich denn so mache, ob ich oft schon in Griechenland war und manches
andere. Das Gespräch lenkt wirklich ein wenig ab und es entsteht
recht schnell ein vertrautes Verhältnis. Sie ist warmherzig und kann
nicht nur interessant erzählen, sondern auch gut zuhören. Kurz
vor Sparta biegt sie links auf den Parkplatz des Supermarktes ein. Die
nächste Stunde vergeht mit dem Plündern von Regalen und anschließendem
Verstauen der Waren in ihrem 'Käferchen'. Ein ausgiebiger Einkauf,
aber er findet schließlich nur einmal im Monat statt.
"Besonders glücklich kommen sie mir aber nicht
gerade vor". Wir hatten auf dem Rückweg längere Zeit nichts
gesprochen. Es war schon etwas wärmer geworden.
"Nein, das bin ich auch nicht. Genau genommen bin ich todunglücklich."
Sie sagt nichts darauf.
Etwas später: "Neulich sah es aber ganz anders aus, nicht?"
"Ja... eine seltsame Geschichte..." wieder kurzes Schweigen.
"Manches Mal hat das Schicksal schon seltsame Wendungen auf Lager..."
Ich sehe sie von der Seite an, wie sie leicht zerbrechlich hinter dem
Steuer sitzt, doch nichtsdestoweniger unbekümmert und munter. Sie
ist überhaupt eine erstaunliche Person. Ganz allein unterwegs, sicher
schon gegen siebzig, von zartem Körperbau. Lange graue Haare sind
lose am Hinterkopf zusammengehalten. Sie muß eine schöne Frau
gewesen sein und ist es auch jetzt noch.
"Wie meinen sie das?" gehe ich auf ihre lose dahingesagten Worte
ein.
"Ach, wenn ich ihnen erzählen würde, welch seltsame Dinge
ich schon erlebt habe... aber ich glaube, daß anderer Leute Geschichten
sie zur Zeit nicht sonderlich interessieren?"
Sie hat Recht, trotzdem sage ich, vielleicht nur aus Höflichkeit,
"nein es ist nicht ganz so; möchten sie erzählen?"
Sie schmunzelt. "Nein, jetzt nicht. Vielleicht ein andermal. Möchten
nicht sie vielleicht ein wenig erzählen, was ihnen widerfahren ist?"
Und so beginne ich die Geschichte tatsächlich, auch für mich,
noch einmal detailliert aufzurollen. Zuerst wollte ich es nur in groben
Zügen erzählen, aber es tut irgendwie gut, die hoffnungsvolle
Vergangenheit wieder heraufzubeschwören.
Sie unterbricht mich nur selten, wenn sie etwas nicht genau nachvollziehen
kann. Speziell die Geschichte von Alice nach ihrem Unfall interessiert
sie sehr und sie nickt immer wieder mit dem Kopf. Wir sind schon lange
wieder bei den Appartements angekommen, sitzen schon ein ganze Zeit im
Auto. Dabei bin ich erst mit höchstens der Hälfte des Erlebten
fertig.
In Gedanken sitzen Alice und ich eben am Strand vor den glühenden
Überresten des Feuers, in dessen Hitze die Kartoffeln gar geworden
waren. Sanft unterbricht mich Jane, meine Begleiterin. Sie bevorzugt es,
auf amerikanische Art sich beim Vornamen zu nennen, auch wenn man sich
siezt. Das schafft trotz der Distanz eine gewisse Vertrautheit.
"Was halten sie von einer kurzen Pause? Eine Kleinigkeit zu Mittag
würde uns wohl beiden nicht schaden, ja?"
Es
ist mittlerweile schon früher Nachmittag geworden, doch ich habe
keinen Hunger. Sie jedoch sicher - sie hat ja keinen Liebeskummer - und
so trage ich ihre Beute hinauf, während sie schnell eine Portion
Spaghetti kocht. Anschließend machen wir uns auf den Weg zu einem
Strandspaziergang, jeder mit einer Flasche Wasser bewaffnet. Gemischte
Gefühle sind es, die in mir brodeln und um die Vormacht kämpfen,
als wir die gleiche Strecke durch den Sand stapfen, die ich zuletzt mit
Alice gegangen war. Am Ende der weitläufigen Sichel setzen wir uns
in den Sand und ich erzähle zu Ende.
"Ja," ich bin bei dem Erhalt des Briefes angelangt, "was
kann ich tun? Wüßte beim besten Willen nicht was..."
"Ach ja, sie haben leider Recht, sie können gar nichts tun."
Zu dem Schluß war ich auch gekommen, nur hatte ich insgeheim gehofft,
daß sie doch eine Idee hätte.
"Hätte es eine Auseinandersetzung gegeben," setzt sie fort,
"ja, dann hätte man reden können. Hätte Mißverständnisse
beiseite räumen oder Entschuldigungen anbringen können. Aber
so? Da gibt es schlicht nichts zu tun! Jegliche Aktivität, Alice
umzustimmen kann nichts bringen! Selbst wenn es ihnen gelänge, sie
zu überreden, was hätten sie damit erreicht? Eine Gefangene,
die vielleicht aus Mitleid - auch ein wenig mit sich selbst - sich hätte
umstimmen lassen und sich deshalb immer Vorwürfe machen würde.
Vorwürfe, nicht ihrer inneren Stimme gefolgt zu sein. Jeder noch
so kleine Mißstimmungen würden jedesmal den Stachel schmerzen
lassen und viel Leid in die Beziehung bringen."
Das Meer ist von all dem absolut unbeeindruckt. Es wirft seine kleinen
Wellen spielerisch jedem zu Füßen, ob er erfreut ist oder trauert,
gleichermaßen dem Leidenden, Liebenden, Begeisterten, Gleichgültigen,
Wohltätern und Mördern. Es ist unbeeindruckt und fast bekomme
ich ob dessen Wut, wie es so schlichtweg unberührt meinem Schmerz
gegenüberstehen kann.
Tröstend fühle ich kurz Janes schmale Hand auf der Schulter
"Adrian, es gibt nur zwei Paradiese..."
Als sie nicht fortfährt, blicke ich auf. Sie hat ihre Augen geradeaus
auf das Wasser gerichtet und es scheint mir, als ob auch in ihr Schleier
von Trauer ihr Gemüt überschatten.
"...die, welche wir verloren haben und die, die wir nie erreichen
können."
Wie eigenartig mutet diese Aussage an. Aufbäumen will ich mich dagegen
und doch - irgend etwas hält mich zurück, zwingt mich zum Nachdenken.
Die Verlorenen und die Unerreichbaren... wie seltsam... ist es nicht wie
die Radiosender im Äther, zwischen denen zu bewegen ich mich früher
so begeistern konnte? Die Spannung zwischen dem Nicht-mehr-Haben und dem
Noch-nicht-gefunden-Haben? Ist es nicht genau diese Spannung, die jede
Beziehung aufrecht erhält, das Prickeln des Unerreichten? Ist es
nicht die Jagd, die den Reiz ausmacht und nicht das Erlegen?
"Würde das bedeuten, daß es das Glück der wirklichen
Zweisamkeit nicht geben kann? Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht
glauben!"
"Ich glaube, daß es das gibt..." behutsam und leise ist
ihre Stimme und doch ein wenig verloren. "Ich gebe die Hoffnung nie
auf und ich glaube, daß es diese Hoffnung ist, die uns zum Leben
ermuntert. Die uns dazu bewegt, weiterzusuchen, nicht aufzugeben..."
- Obwohl sie um viele Jahre älter ist und überhaupt so völlig
anders, erinnert sie mich jetzt an Alice. Es hätten ihre Worte sein
können. Oder ist es hier einfach die Artverbundenheit zwischen zwei
Frauen? Ganz kurz blitzt der Gedanke in mir auf, was ich doch für
ein Glück habe, hier mit Jane sitzen zu können und nicht allein
an meiner Hoffnungslosigkeit herumzukauen und -würgen.
Die Sonne ist eben hinter den Bäumen schräg hinter uns verschwunden,
es wird nun nicht mehr lange dauern, bis die Dunkelheit ihren Mantel über
alles legt. Wirklich, wie froh bin ich, jetzt nicht allein sein zu müssen.
Mit der entschwindenden Helligkeit kriecht die Trauer den Hals herauf,
und legt ihre Hand um meinen Hals.
"Alice geht es sicher auch so." Kann sie Gedanken lesen?
"Glauben sie?"
"Ja! Glauben sie, daß ihr das leicht gefallen ist? Oh nein.
Sicher nicht! Es gehört eine große Portion Größe,
Mut und Stärke dazu, zugunsten dem großen Glück das kurze
Glück fahren zu lassen..."
Ich verstehe sie nicht ganz. "Wie meinen sie das?"
"Sehen sie", wendet sie sich mir zu, "wir neigen doch immer
dazu, nach Dingen die uns zum Genuß vorgesetzt werden, zu greifen,
ohne daran zu denken, ob wir uns damit nicht schaden. Wir überhören
die innere Stimme und steigen auf die Bestechung des Augenblicks ein."
Als ich nicht reagiere und sie nur weiterhin anblicke, fährt sie
fort: "Nehmen wir doch was ganz Alltägliches, Zigaretten. Zwar
wissen wir, daß sie unserer Gesundheit schaden, aber der Genuß
des Augenblicks geht uns vor. Oder der junge Mann, der ein Mädchen
im Arm hält. Denkt er daran, daß sie anders empfindet als er?
Kaum. In seinen Lenden pocht es und es wandert sein Rückgrat hinauf
und flüstert in seine Ohren, in beide, wieder und wieder 'nimm sie,
drück sie an dich, dring in sie ein, schnell, jetzt'... wieviel zerstört
er damit oft, die Stufen im Laufschritt zu nehmen, anstatt sie genießend
berganzusteigen, sich in Vorfreude auf Weiteres zurücknehmend. Verstehen
sie, Adrian, was ich meine?"
Doch, ich kann es nachvollziehen, obwohl ich mir darüber konkret
noch nie Gedanken gemacht habe. Aber es klingt einleuchtend. "Vorfreude,"
murmle ich vor mich hin, "ist wohl aus dem gleichen Stall."
"Ja, im Verzicht wohnt eine Spannung, die durchaus beglückend
sein kann..."
Mir kommt ein Gedanken. "Ob sie es aus dem Grund getan hat, daß
es bestehende Paradiese nicht gibt?"
"Das glaube ich nicht." Ich hatte Jane die Zeilen lesen lassen.
"Es ist sicher der Grund, von dem sie schrieb."
"Und
was glauben sie, daß das Schicksal nun macht? Ein Remake?"
Sie ist dumm, diese Frage und ich merke es, kaum ist sie gesagt. Aber
es ist einfach so, daß ich mir ständig sinnlose und unrealistische
Gedanken mache, überall Fünkchen von Wünschen deponiere,
Samenkörner an Hoffnung, phantasierend, daß vielleicht doch
eines aufgehen könnte.
"Das kann man nicht sagen, Adrian." Sie spricht sehr leise,
fast mehr zu sich selbst. "Unser Schicksal ändert sich mit jedem
Augenblick. Man kann es nicht wissen..." Wäre es besser, wenn
sie versuchen würde, meine Hoffnungen brutal zu zerstören? Wäre
es besser, nicht zu träumen, den Wunsch nach Harmonie aufzugeben?
Keine Luftschößer zu bauen?
"Lassen sie uns langsam zurückgehen, es wird bald kühler
werden. Wir können uns drüben auf den Balkon setzen und ein
Glas Wein trinken. Mögen sie?"
Gerne möchte ich. Es wird ein Schweigemarsch, wo offenbar jeder seinen
eigenen Gedanken nachhängt. Auch Janes scheinen zwischen Vergangenheit
und Hoffnung zu schweben und sich nicht in zufriedener Gegenwart niederlassen
zu können. Die Wellen spielen keck mit dem Licht, das ihnen der gute
alte Mond bereitwillig und geduldig zur Verfügung stellt. Auch uns
hilft er so, den Weg nach Hause zu finden.
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- 3 -
Fledermäuse huschen unstet durch die
Luft , Grillen zirpen und wie immer heulen und bellen irgendwo Hunde.
Ein Collie hat uns vorhin eine Weile begleitet, ist aber jedesmal zurückgezuckt,
wenn wir versuchten, uns ihm zu nähern.
Eine Flasche Rotwein und unsere Gläser stehen auf der steinernen
Brüstung, unten im Garten brennen die zwei Kugeln, weit hinten blinken
die Lichter von Githio und über uns steht der angeknabberte Mond,
dem schon wieder ein ganzes Stück auf seine Vollkommenheit verlorengegangen
ist.
"Sie scheinen aber auch nicht eben glücklich an die Vergangenheit
zu denken...?" wage ich einen Vorstoß ins Unbestimmte. Ich
habe die Erfahrung gemacht, daß man von den eigenen Problemen gut
ablenken kann, indem man sich mit denen anderer beschäftigt. Oder
besser: Nicht ablenken sondern vielmehr ist es ein Relativieren der eigenen.
Es ist ein gewagter Versuch, denn wir kennen uns ja kaum und so ist es
fraglich, ob sie mir nicht vielleicht das Klopfen in ihre Intimität
übel nimmt.
"Da
vermuten sie nicht falsch..." ist ihre zwar knappe Antwort, die aber
eher nachdenklich als ablehnend klingt. So warte ich ab.
"Es ist... lassen sie mich überlegen... ja, mittlerweile fast
vierzig Jahre her..." sie blickt in die dunkle Weite, vielleicht
überlegt sie, wo sie beginnen soll.
"Ja, also rund vierzig Jahre. Ich hatte einen Mann kennen gelernt
- irgendwie erinnern sie mich ein wenig an ihn..." ein Lächeln
spielt um ihre Lippen, sie blickt mich aber nicht an.
"Er war eine der eher nicht so häufigen Ausnahmen, die sich
auch für die Seele interessieren. Seine Ansichten waren unkonventionell
aber durchdacht. Damals war ich Marketingleiterin in einem größeren
Unternehmen und Esoterik interessierte mich nicht vordergründig.
Ich hatte einen Sohn aus meiner Ehe, war aber schon seit einigen Jahren
geschieden. Felix - der Mann, von dem ich eben erzählte - hatte etwas
andere Ansichten bezüglich Erziehung als ich. Zwar billigte ich ihm
ein gewisses Mitspracherecht zu, aber, jetzt im Nachhinein besehen, war
das wohl nur pro forma, ich hatte meine konkreten Vorstellungen, wie ich
leben wollte und da gehörte natürlich dazu, wie ich Wim auf
sein Leben vorbereiten wollte."
"Wim? Den Namen habe ich noch nie gehört!"
"Abkürzung von Wilhelm, es ist ursprünglich althochdeutsch",
klärt sie mich kurz auf.
"Aber ich setzte ich mich nicht näher mit Felix' Überlegungen
auseinander, sondern ließ ihn gewähren, wenn er etwas zu Wim
sagte. Doch im Lauf der Zeit wurde Felix immer unfreundlicher mit seinen
Kommentaren und verwies Wim immer ruppiger. Damals war mir noch rein gar
nichts klar, es störte mich lediglich zunehmend."
"Na ja, es ist ja auch schließlich ihr Sohn." Ich bin
aber überrascht, wie sie meinen Einwurf sofort zurückweist:
"Genau das ist ja das Problem!"
"Problem?"
"Ja!" Sie ist fast heftig. "Als Mutter sieht man manche
Dinge überhaupt nicht objektiv."
Ich versuche beschwichtigen: "Aber ist das nicht verständlich?
Es ist doch das eigene Kind."
"Genau das ist es ja! Als Mutter besteht leicht die Gefahr, daß
man seine Objektivität bezüglich der eigenen Kinder völlig
verliert. Speziell dann..." sie bricht ab und nimmt einen Schluck
Wein. "Ach, egal... dann, wenn man Schuldgefühle dem Kind gegenüber
hat. Aber auch da kam ich erst später drauf. Ja, eigentlich wollte
ich keine Kinder. Auch als Wim schon hier war, ging es mir oft auf die
Nerven, wie sehr er meine Bewegungsfreiheit einschränkte. Der Beruf
hatte mich interessiert, alles, was mit Familie zusammenhängt und
Hausarbeit überhaupt nicht. Und so war Wim etwas, das mir ständig
Unbehagen bereitete. Eine Mischung aus Belastung und schlechtem Gewissen.
Heute weiß ich auch, daß ich wegen völlig nebensächlicher
Dinge mit ihm schimpfte und wichtige übersah... darauf hatte mich
seinerzeit auch Felix hingewiesen, aber in so einer Situation hört
man so etwas nicht. Im Gegenteil. Es stört einen gewaltig."
Sie wendet sich mir zu. "Kennen sie den Begriff 'Schatten', der in
der Psychologie Verwendung findet?"
"Ja, diese Eigenschaften, die man im Laufe der Jahre, speziell Kindheit,
verdrängt hat, um anderen zu gefallen und die man später dann
partout nicht sehen will?"
"Genau das. Aber dieser Begriff sagte mir damals gar nichts. Was
soll man auch im Marketing mit Schatten. Dort ist das Gegenteil gefragt,"
schmunzelt sie, "Licht, Farbe, auffallen" und nimmt einen tiefen,
süchtig anmutenden Zug aus ihrer Zigarette.
"Aber, wie wir ja wissen, der Mensch kommt erst durch Probleme zum
Denken." Noch ein Zug. Sie wirkt unruhig und fahrig, die Vergangenheit
arbeitet bei den Gedanken mächtig in ihr.
"Also sah ich Wim alles Mögliche nach, was mir damals gar nicht
auffiel. Und vor allem - ich versäumte vieles."
"Und zwar?" Irgendwie kann ich es mir bei ihr gar nicht vorstellen,
sie wirkt so überlegt, liebevoll und weise.
"Ach, eine ganze Menge. Aber wohl der Hauptfehler war der, in ihm
nie sein Sozialempfinden zu wecken."
"Inwiefern?"
"Aus dem Schuldgefühl, keine Kinder haben zu wollen und nun
doch eines zu haben, daß ich eben deswegen ungerecht behandelte
- wohlgemerkt: das lief alles unbewußt ab, leider - versuchte ich,
ihm vieles zu erleichtern. Mit Felix hatte ich öfters richtiggehende
Auseinandersetzungen, warum ich ihn nie das Geschirr spülen oder
irgendwelche andere Dinge im Haushalt machen ließ. Das war mir zudem
einfach lästig. Ich hatte ohnehin wenig Zeit und so keine Lust, ihm
zuzusehen, wie er mit dem Geschirr herumtrödelte. Da machte ich es
lieber selbst."
"Da fällt mir ein, daß mir einmal jemand erzählte,
daß Kinder die verschiedensten Dinge von sich aus machen möchten,
Eltern sie aber - aus Bequemlichkeit? - daran hindern und dann der Drang
bei dem Kind verloren ist. Will man es später dann nachholen, wenn
man vielleicht den Zeitpunkt als passend betrachtet, dann will aber das
Kind nicht mehr und bockt."
"Ja, ja, so ist es, genau so," kommt ihre etwas ungeduldige
Bestätigung. "Als ich später dann versuchte, ihn dazu anzuhalten,
bekam ich lediglich patzige Antworten."
"Und das haben sie durchgehen lassen?"
"Theorie und Praxis." Das klingt etwas schroff. "Ich hatte
schlichtweg den Nerv nicht dazu. Keine Zeit, kein Lust." Eine neue
Zigarette. Offensichtlich beschäftigt sie die ganze Thematik ziemlich,
denn vorher hatte ich sie kaum rauchen gesehen.
"Ich möchte es aber nicht zu lang machen. Die Quintessenz war,
daß ich durch das ständige Schuldgefühl und Felix' zunehmende
Nörgelei an Wim meinen Sohn immer mehr in Schutz nahm. Daß
das nicht gut gehen konnte, liegt auf der Hand. Heute. Damals dachte ich
'pfeif auf die Männer, ich möchte am liebsten alleine leben,
ich brauch den ganzen Kram nicht'. War ein Fehler. Seit einiger Zeit später
bis heute lebe ich allein. Vielleicht war es gut so, mag sein. Aber hart
war - und ist - es auf jeden Fall."
Wir sitzen eine Weile schweigend, beobachten die manchmal unstet vorbeihuschenden
Schatten der Fledermäuse.
"Und
dann sind sie aus dem Marketing ausgestiegen?"
"Das hat eine ganze Zeit gedauert. Vielleicht muß ich doch
noch etwas ausführen. Irgendwann einmal kam es zu einem Zwischenfall,
den ich aber total unterschätzte. Beim Mittagessen füllte ich
immer die Teller von Felix, Wim und mir und Felix oder Wim stellten sie
auf den Eßtisch. Diesmal tat es Wim. Er stellte Felix' Teller so
angewidert-lässig hin, daß vieles über den Rand aufs Tischtuch
schwappte. Felix sah Wim giftig an und sagte zu ihm, er solle das aufwischen.
Um keinen Streit heraufzubeschwören wischte ich es weg. Heute weiß
ich, daß das keine gute Idee war. Felix erzählte mir später
von dem hämischen Blick, den er von Wim erhalten hatte. Den sah ich
natürlich nicht, weil ich ja putzte. Nach dem Essen sagte Felix,
daß er nicht mehr zu dritt am gleichen Tisch äße. Irgendwie
war das wohl der Anfang vom Ende. Er und Wim ignorierten sich gegenseitig.
Nach wie vor war ich auf der Seite von Wim, der immer massiver von Felix
nichts wissen wollte und ich verstand ihn. Nach der Trennung von Felix,
und auch davor, war meine Vorstellung, friedlich in einer kleinen Wohnung
mit Wim zusammenzuleben, keine Männer mehr. Nur das Problem: Wim
zog kurz danach aus, kaum daß er achtzehn war. Brach die Schule
ab, jobbte mal hier, mal dort und ich bekam ihn praktisch nicht mehr zu
Gesicht."
"Was macht er heute?"
"Er ist Fernfahrer geworden. Wir haben wenig Kontakt und er kommt
nur, wenn er etwas braucht oder Kummer hat."
"Und Felix?"
"Der war auch eine zeitlang alleine und scheint aber seit einigen
Jahren eine glückliche Beziehung zu führen."
Der Mond schickt sich an, hinter dem Hügel zu versinken. Die Fledermäuse
sind nun kaum mehr aktiv, wohl deswegen, weil ihre Beute den Motor langsam
abstellt, den die warme Sonne des Tages angekurbelt hatte. Jane erzählt
mir dann, daß sie nach der Trennung von Felix gesundheitliche Probleme
bekommen hatte und auf der Suche nach einer Heilungsmöglichkeit ihren
jetzigen Beruf fand. Sie war also mit knapp vierzig aus ihrer sicheren
Stellung ausgetreten, hatte mit dem geringen Ersparten Seminare und Kurse
finanziert und sich zwei Jahre später selbständig gemacht.
"Worin sehen sie eigentlich den Erfolg, daß es so schnell klappte,
von dem neuen Beruf leben zu können?"
"Mein Geheimnis war - und ist", ergänzt sie lächelnd,
"daß ich mich vor allem um das Innenleben meiner Patienten
kümmere. Denn die medizinische Hilfe ist völlig wertlos, wenn
sich ein Mensch nicht auch innerlich ändert. Die Krankheit, egal
ob körperlich oder seelisch, stammt ja letztlich aus einer Fehlhaltung.
Was bringt es, wenn man sein Symptom, den Schmerz, besiegt und nicht die
Ursache? In irgendeiner Form kommt die Krankheit wieder und dann oft mit
tödlicher Heftigkeit. Nun, bezüglich der Bezahlung habe ich
auch zu einer ungewöhnlichen Methode gegriffen. Ich mache den Patienten
klar, was für einen Wert ihr psychisches und physisches Weiterkommen
für sie hat, daß es ja letztlich primär darauf ankommt
und sie bezahlen sollen, was sie vermögen und es ihnen Wert ist.
Sie werden lachen, aber manchmal muß ich, speziell Minderbemittelte,
bremsen, sich nicht zu übernehmen. Zudem mache ich Kurse, in denen
ich diese gesamtheitliche Sicht näherbringe."
Interessant, was sie erzählt. Doch damit ist der kleine Ausflug in
ihr Leben beendet, denn sie ändert die Richtung.
"Was werden sie nun machen?"
"Das ist eine gute Frage", sinniere ich vor mich hin, kühl
umfängt der Schleier der letzten Vergangenheit mein Gemüt. Der
Gedanke an die bevorstehende Nacht bereitet mir großes Unbehagen.
Die Stille und Dunkelheit wirkt als Multiplikator von vielen Stimmungen
und bei solchen ist es da nicht gut, alleine zu sein. Fast überkommt
mich ein wenig Panik, wenn ich daran denke, daß Jane vielleicht
schlafen gehen möchte.
"Ich weiß es nicht. Ich habe zu nichts Lust. Gleichgültig,
an was ich denke, entweder es erinnert mich oder es entfernt mich. Und
beides möchte ich nicht. Nun, irgend etwas werde ich mir wohl einfallen
müssen und diesen dunklen Fluß durchschwimmen..." und
nach einer kurzen Pause "so etwas passiert mir wohl kaum noch einmal."
Versehentlich hab ich laut gedacht.
Jane ist jetzt aber sehr ernst, als sie mir antwortet. "So sollten
sie nie denken!"
"Ja, ich weiß."
"Nein, sie wissen nicht. Sie nehmen das zu leicht! Ist ihnen klar,
daß sie für jedesmal negatives Beeinflussen der Zukunft mindestens
auch einmal positives brauchen, daß es alleine ausgewogen ist, geschweige
denn gut? Und wissen sie, wie schwer einem das fällt? Bei jedem,
aber auch wirklich jedem Gedanken sollten sie darauf achten, daß
er wahr wird. Das sind nicht Wünsche, Träume oder Wolken, sondern
Tatsachen."
Ihr Ton hat sich geändert und wirkt professionell und distanzierter.
Das tut nicht gut.
"Ja, ich weiß darum. Aber bitte nicht jetzt."
"Doch, doch, gerade jetzt!" Sie lächelt auflockernd, aber
ich spüre, daß das nur äußerliches Mittel zum Entspannungszweck
ist.
"Wieso? Das tut gerade in so einer Situation nicht sonderlich gut."
Ich bin kurz davor, trotzig zu werden. Nun verlischt auch das flache Lächeln
und sie ist völlig ernst.
"Ich weiß daß man da gerne Nettes hört. Aber überlegen
wir doch einmal. Alles, was wir uns merken, ist mit irgendwelchen markanten
Stimmungen verbunden. Wenn wir einen tollen Satz in einem Buch lesen,
während wir am Strand liegen und gemütlich unser Souflaki verdauen,
dann kann der Satz noch so wunderbar sein, wir werden ihn meist gleich
wieder vergessen. Wenn der gleiche Satz aber mit einer bemerkenswerten
Situation verbunden ist, dann bleibt er da. Je markanter der Eindruck,
um so bleibender die Wirkung."
Ich
möchte etwas entgegnen, stimme aber letztlich seufzend zu, denn es
ist doch nur Selbstmitleid, daß mich dazu bewegt und man kann dieser
Logik nichts entgegenhalten. Trotzdem will ich es einfach nicht. Nicht
jetzt.
Unser Gespräch verläßt die schroffen Höhen und gleitet
wieder in stillere Gewässer hinab. Wir erzählen uns aus der
Vergangenheit, die Zeit gleitet leicht dahin und ich bin froh, daß
sie zumindest jetzt ein klein wenig ihrer Schwere, Eckigkeit und Dramatik
verloren hat. Wir sitzen in einem Zugabteil der Transsibirischen Eisenbahn
nördlich des Nordpols und südlich des Südpols, während
an den Fenstern Szenen unserer Leben vorbeigleiten... sieh, da war das,
siehst du? Ja... und dort drüben... schöne Sequenzen, bedrückende
Bilder, Strömungen auf dem ewigen Fluß des Seins.
- Fortsetzung folgt -
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