Die Journey

Wenn du zum Lesen ständig links und rechts scrollen mußt, dann klick hier drauf!7 - Tausendundeine Nacht

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Die Stimmung am Rest des gestrigen Abends ist nicht mehr eben übermütig gewesen. So sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, gut aufgelegt zu sein. So vertilgten wir unser Essen mit mäßiger Begeisterung - es tat mir leid, daß meine Laune auf die anderen abfärbte - um ziemlich bald danach zum Campingplatz zurückzuspazieren. Während Robert und Michael gleich schlafen gingen, hatte ich mich noch lange draußen zum Strand gesetzt und den blinkenden Sternen zugesehen. Wenigstens ihre Adresse hatte ich, so konnte ich danach den Kontakt wieder herstellen. Ein Lichtblick. Lichtblick? Naja...

Es waren mir viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Zu allererst dachte ich darüber nach, warum ich so deprimiert war. Genau betrachtet hatte ich wirklich keinen Grund. Also sammelte ich Fakten: Ich hatte eine wunderbare Frau kennengelernt. Weiters machte es irgendwie den Eindruck, als ob ich ihr nicht gleichgültig wäre. Und schließlich bin ich hier, hier in Griechenland, in unbändiger Lebenslust blinken mir Milliarden Sterne zu, der warme Wind fährt mir liebevoll durch die Haare, die kleinen Wellen werfen sich ausdauernd murmelnd auf den feinen Sand, ich bin in Begleitung zweier liebenswerter Freunde - ja was gibt es denn da eigentlich zu meckern?
Das Denken wanderte an mir vorbei, durch mich hindurch und schließlich wurde mir eines klar: Ich lebte nicht im Augenblick, ich hatte Erwartungen gehabt und schließlich haperte es mit der Zufriedenheit. Genau genommen ist es nur das Leben im Augenblick, auf das es letztendlich ankommt. Warum schafft man es nicht, einfach das Jetzt an den Hörnern zu packen, ohne zu vergleichen? Oder würden dann die Tiefen erst wirklich tief?

Das Leben im Augenblick oder auch das Leben im Jetzt, im Hier. Hmm... Dann überlegte ich weiter. Wenn ich von der Vergangenheit nichts wüßte und auch die Zukunft nicht kennen würde, sondern nur den momentanen Augenblick, müßte ich doch, verdammt noch mal, zumindest momentan, völlig glücklich sein: Ich hatte keine Beschwerden oder Schmerzen, eine traumhafte Umgebung, Freunde, die drüben im Zelt schliefen, also - irgendein Grund , unglücklich zu sein? Na?! Auch kam mir wieder die Geschichte von der Stadt mit den Leuten ohne Gedächtnis in den Sinn.
Das wirkte sehr beruhigend, irgendwie fiebersenkend und ich ließ mich von einer dieser Wellen, einer jener, die sich immer weiter ausbreiten, wenn man einen Stein ins Wasser wirft, tragen und betrachtete das weitere Umfeld. Wenn ich mich von Vergangenheit und Zukunft nicht berühren lasse, dann erlebe ich alles viel intensiver. Sorgen haben keinen Einfluß, denn deren Gegenstand liegt in der Zukunft. Kummer kann mir nichts anhaben, denn dessen Ursachen liegen in der Vergangenheit. Ganz aufgeregt stand ich auf und lief den Strand entlang. Das ist doch ein Rezept für Zufriedenheit!
Dann überlegte ich mir, wie es in einer Lage von Krankheit wäre. Ist nicht hier die Aussicht auf Besserung, die Hoffnung, notwendig? Wenn ich hier ausschließlich in der Gegenwart lebe, dann empfinde ich doch auch den Schmerz umso intensiver, je besser es mir gelingt. Das will ich aber nicht. In diesem Punkt kam ich zu keiner Lösung und so nahm ich mir vor, drüber bei Gelegenheit einmal mit jemandem zu plaudern. Für den Augenblick jedenfalls hatte ich ein gutes Heilmittel gefunden: Alles genießen, was jetzt ist und das ist nun wirklich nicht wenig. Auf diese Weise gelang es mir doch tatsächlich, einzuschlafen und der Schlaf war erholsam und angenehm, allerdings nicht allzu lange.

 

- 2 -

Eben bin ich aufgewacht. Kaum ist zu erkennen, daß es Licht wird. Stille. Da, ein leises 'Tlüüühh'. Noch scheint niemand den Tag bemerkt zu haben. 'Tlüüüüh'. Stille. Leise wird es heller, drüben erwacht ein Hahn. Weiter weg verschlafenes Hundegebell. Mehr Hähne, mehr Licht. In der Ferne ein Auto. Zwei, drei Mövenrufe, das alles in zwanzig Minuten. Dann geht es immer schneller. Tauben beginnen ihr 'Ruguuh' im Chor, dazwischen Hähne und andere Vögel, Traktoren, Hunde... ein Reißverschluß von einem Zelt - der Tag ist erwacht.

Gestern abend haben wir beschlossen, daß auch wir heute unsere Zelte abbrechen werden, um zu neuen Ufern zu gelangen. Alles ist wie gestern, warm, angenehm, nur meine gedrückte Stimmung, die aus der Enttäuschung resultiert ist noch da. Ich versuche, ihr sofort zu begegnen, indem ich mich wieder bewußt über alle schönen Dinge des Augenblicks freue, sie bewußt aufzähle und ihnen bewußt meine Aufmerksamkeit schenke. Es hilft recht gut und ich fühle mich wohler.
Frühstück, bezahlen des Campingplatzes, Karten ausbreiten um die Route durchzugehen. Unser Ziel ist der Lakonische Golf, an dessen nordwestlicher Ecke Githio liegt. Da unterhalb Githio einige Campingplätze eingezeichnet sind, also wohl viel Trubel ist, schlage ich vor, den zu nehmen, der am Ostrand des langen Sandstrandes an der Nordseite der Bucht eingezeichnet ist. Immer noch habe ich den Wunsch, einen kleinen abgelegenen Platz zu finden, der wunderschön ist, mit wenig Leuten und einer romantischen Taverne in der Nähe. Daß es so etwas in ganz Griechenland kaum mehr gibt, da werde ich erst nach und nach dahinterkommen.

Schließlich ist es so weit. Robert und Michael haben Gummisäcke, in denen sie ihre Sachen verstauen. Da ich die Teile einzeln mit Zurrgurten festmachen muß und mir auf dieser Reise noch die Übung fehlt, müssen sie auf mich warten. Ich bin zwar nicht ganz zufrieden mit meiner Bepackung, sie kommt mir etwas lasch vor, möchte die anderen aber nicht noch länger warten lassen. So rollt also unser Kleinkonvoi über die Kieswege des Platzes, dann nördlich hinaus aus Drepano, in Nafplio ist ein kleiner Stop geplant, um aus einem Bankomaten meine Geldreserven aufzubessern. So fahren wir in den Ort, der mich sofort mit seiner orientalisch anmutenden Atmosphäre in seinen Bann schlägt. Wunderbare Farben, nur die Bougainvillae sind mir bekannt, haushohe Palmen und belebte enge Gässchen. Ich nehme mir vor, hier extra einen Tag zu verbringen, um auch die kleinen und unscheinbareren Winkelchen zu erforschen. Zuerst suchen wir einen Laden, damit ich mir die Straßenkarten besorgen kann, die mir Robert empfohlen hat. Dann finden wir auch einen Bankomaten. Nachdem ich einige Male vergeblich versucht habe, ihm Geld zu entlocken, gehe ich in die dazu gehörende Bank. Alles erklären, freundlich oder verärgert sein hilft nichts. Die junge Frau meint lakonisch: "You have a problem with your card" - als wenn ich das nicht selbst wüßte! Robert findet das aber durchaus komisch, kann sich gar nicht reinkriegen und erhebt den Satz zu den geflügelten Worten dieser Reise. Das werden sie auch wirklich, denn es wird kein Tag vergehen, wo es nicht mindestens einmal heißt "Ohh... you have a problem with your card!".
Wir treffen einen Biker, den Robert und Michael offenbar einige Tage zuvor kennengelernt haben. Leicht angewidert sagt er "Das ist ja so heiß, daß man nicht einmal fahren kann". Ich kann das zwar nicht nachvollziehen, aber zum Glück sind Menschen verschieden und haben so auch unterschiedliche Vorlieben.

Schließlich machen wir uns endgültig auf den Weg und verlassen Nafplio, um der Küste entlang nach Süden zu fahren. Die Sonne macht sich bereits mächtig bemerkbar, der Fahrtwind lindert aber auf einen durchaus angenehmen Level herunter, Robert fährt in voller Montur. Die Strecke ist wunderschön, meist mit Blick aufs Meer. Speziell ab Aghios Andreas wird es ein Genuß, die Straße windet sich in schönen Kurven entlang der Steilküste, der Asphalt ist griffig, es macht Spaß zwischendurch richtig flott zu fahren und sich mit den Kurven physisch verbunden zu fühlen, sich in die Schräglage zu schmiegen, um harmonisch nach dem Aufrichten aus der einen Kurve sich auch schon in die nächste fallen zu lassen. Eine Beschäftigung, die süchtig macht und an das Einswerden mit der Umgebung erinnert, die beim Tanzen entstehen kann.

Ziemlich am Anfang, noch bevor die wirkliche flüssige Fahrt aufkommt, hupt Michael hinter mir, blinkt mich an und bedeutet, rechts ran zu fahren. Aus seiner Heftigkeit schließe ich, daß es wichtig sein müsse und nehme die allernächste Möglichkeit wahr. Schade, denn eben haben wir ein paar Lastwägen überholt. Ich steige ab und Michael deutet auf die rechte Seite. Der Schlafsack, zu einer Rolle zusammengedreht, hat sich entwickelt und ist wie eine Fahne hinterhergeflattert. Der Gedanke, daß er ins Hinterrad hätte kommen können, löst einiges Unbehagen in mir aus. Ich schwöre mir fürs nächste Mal, auch wenn andere warten müssen, erst loszufahren, wenn die Bepackung auch einer strengen Prüfung standhält!

Die Straße biegt nun von der Küste ab ins Landesinnere, bald taucht Leonidio auf. Ein netter Ort, ganz enges Sträßchen, man ist sich nicht sicher, ob man wohl auch die Hauptstrecke erwischt hat, so eng und unscheinbar ist die Gasse. Direkt an der Straße sitzen Männer und plaudern, wäre man böswillig, bräuchte man nur hie und da den Fuß auszustrecken, um ihnen den Sessel unter dem Popo wegzuschnippen. Die Ortsdurchfahrt nimmt fast kein Ende, im unregelmäßigen Zickzack geht es in die immer enger werdende Schlucht hinein. Irgendwann hat aber auch Leonidio ein Ende und entläßt uns in ein heißes, enges und absolut leeres Tal. Wir fahren fünf, zehn, zwanzig Minuten, eine Stunde und es ändert sich nichts an dem Bild: Links neben der Straße geht es noch etwas weiter abwärts in das ausgetrocknete Bachbett, zu beiden Seiten steigen die Berge steil an, zwar nur etwa ein- bis zweihundert Meter, aber es fällt die Sonne, zumal es sich um ein Ost-West-Tal handelt, ganztägig ein. Wabernde Hitze. Durch die engen Kurven kommen wir nur langsam voran, der Thermometer steigt auf weit über vierzig Grad. Unwegsame Macchie macht die Straße zur einzigen Fluchtmöglichkeit. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach Skeletten von Bikern, denen auf der Strecke der Sprit ausgegangen ist. Karl May kommt mir in den Sinn und Namen wie 'Llano Estacado'. Trotzdem begeistert mich dieses Erlebnis, wiederum hat Griechenland eine neue Seite seines unendlichen Bilderbuchs aufgeschlagen!

Unvermutet hält Robert an und zeigt nach oben. Es ist für mich wie in einem Märchen. In Himmelshöhe klebt als weißer Punkt ein Kloster in der Felswand, hier in der völligen Abgeschiedenheit! Wir machen eine kurze Rast. Das Wasser in den Seitenkoffern ist warm wie frischer Tee. Kaum steht man, läuft der Schweiß den Rücken hinunter. Auch wenn der Fahrtwind wie Föhngebläse wirkt, ist es doch viel angenehmer als die stehende flimmernde Hitze. Lange quälen wir uns nicht, die Fahrt geht weiter. Nach ein paar Minuten beginnt die Straße anzusteigen. Eine Serpentine fplgt der anderen und in einer nach rechts dem Berg zugewandten sehe ich eine Tafel, mit der Aufschrift Elonis. Man kann also dieses Kloster, das wir von unten aus gesehen haben, offenbar auch besuchen. Robert ist aber schon vorgefahren, so nehme ich das still in meine To-Do-Liste für nächstesmal auf. Irgendwann sind wir oben angekommen, wobei 'oben' nicht als Berg zu verstehen ist, sondern es stellt sich als weitläufige Hochebene heraus. Jedoch nicht weniger einsam als die Strecke durch das Tal, das in meine Erinnerung als Death Valley eingeht. Auch diese Strecke dauert fast eine Stunde, es ist angenehm kühl, ja, es würde sogar eine Jacke vertragen, wir befinden uns immerhin auf rund 1200 Meter Seehöhe.

Hier heroben geht es etwas zügiger voran, ebenfalls griffig der Asphalt aber völlige Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Kein Haus. Kein Ziegen. Nichts. Es macht den Eindruck, als ob das Kloster der einzige Stützpunkt auf dieser Welt wäre. Ich genieße das prickelnde Gefühl des Abgeschieden- und Ausgeliefertseins - Abenteuer. Bis zum Horizont Macchie und Föhren, Steine und dazwischen das unstete Band der Straße. Völlig unerwartet taucht eine Hütte auf, die Straße fällt ab und nach zwei, drei Schlenkerern fahren wir völlig unerwartet auf einen belebten Dorfplatz ein. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen, der Ort hat sich in keiner Weise angemeldet, sondern war urplötzlich, wie durch einen Zauber herbeigeholt, da. Robert fährt schon weiter, während ich stehenbleibe, um dieses Bild in mich aufzusaugen. Was für ein Tag! Die traumhafte Küstenstraße, dann als totaler Kontrast das Tal der Hitze und nun dieser Ort, der anmutet wie aus einem Märchen aus tausenduneiner Nacht! Schön!

Robert ist nicht zu einer Pause zu bewegen, denn er möchte zuerst den Übernachtungsplatz gesichert wissen. Also verlassen wir Kosmas, die Straße wird nun größzügig und verläuft schließlich ziemlich gerade stetig abwärts, gilt es doch, wieder Meereshöhe zu erreichen. Es macht Spaß, wieder einmal mit hundertdreißig durch die Gegend zu fegen. Plötzlich ein kurzes Flattern vor mir. Der Unterdruck hat einige kleine Papiere aus meinem Tankrucksack gerissen! Fast im gleichen Augenblick realisiere ich: Da ist auch der Zettel dabei, auf dem ich die Adresse von Alice aufgeschrieben habe! Sofortige Bremsung, umkehren und zurückfahren. Doch es ist seltsam. Keiner der Zettel - es waren mindestens drei bis vier - sind zu finden. Leichte Panik steigt in mir auf, aber auch nach einer halben Stunde finde ich nichts, obwohl ich noch recht genau die Stelle weiß, wo sie herausgeflogen sind. Nun bin ich ernstlich bedrückt! Mein letzter Kontakt zu Alice ist weg! Ich hatte mir ihre Mailadresse nicht angeschaut, also auch nicht gemerkt. Die einzige Hoffnung, die noch bleibt, daß ich sie vielleicht im Telefonbuch finde. Doch in München wird es einige Alice geben, denn sie hat mir nur ihren Vornamen aufgeschrieben, damit ich wüßte, wozu Telefonnummer und Mailadresse gehören. Robert und Michael, die beim Suchen geholfen hatten, bitte ich, vorauszufahren und selbst mache ich das Schlußlicht. Es würgt im Hals und ich nehme die Landschaft um mich herum kaum wahr. Wie automatisch fahre ich hinterher, merke nicht einmal, daß es wieder zunehmend heißer wird.

 

- 3 -

Das Erlebnis der vergangenen Nacht kommt mir in den Sinn. Dadurch, daß ich alles relativiert hatte, mich auf den Augenblick konzentriert, war mir viel wohler geworden. Doch jetzt hilft das absolut nichts. Rein gar nichts. Im Gegenteil: Ich werde fast zornig auf diese theoretischen Sich-Selbst-Beeinflusse-Methoden. Da war so eine verblüffende Kette an sogenannten Zufällen und nun sollte ich mit einem Schlag alles verlieren? Endgültige verloren haben? Das kann doch nicht sein! Grübelnd rolle ich weiter automatisch hinter den anderen her. Solche Zufälle hatten mir die Begegnung geschenkt und nun das! Ich kann es einfach nicht fassen! Links und rechts ziehen Ölbaumhaine vorbei, ein paar Hütten, ein einsam in der Sonne darbender Esel, an einem Seil festgebunden, ein paar Ziegen. Solche Zufälle und nun das. 'Zufälle gibt es ja nicht' denke ich mir. 'Dann ist das auch kein Zufall?' Aber wozu soll das denn dann gut sein? Warum hält mir das Schicksal ein Leckerli unter die Nase, um es dann wegzupusten? Warum macht es sich zuerst die Mühe, um dann alles einfach wegzublasen? Das geht mir einfach nicht ein.

Mittlerweile sind wir auf der Ost-Westverbindungsstraße zwischen Githio und Monemvasia angelangt.
"Fahr du vor", meint Robert, "du hast ja die Idee gehabt mit dem einsamen Campingplatz da drüben." Nicht einmal den leichten Unterton bemerke ich sofort, sondern erst, als wir schon ein Weile gefahren sind.
Ich habe mich an die Spitze gesetzt, erster Gang, zweiter bis fünfter in rascher Folge. Daß ich voraus fahren muß, lenkt ein wenig ab. Die Karte in der Kartentasche flattert, die Abzweigung sehe ich zu spät, umdrehen, zurück. Die Gegend ist öd, gänzlich flach, heiß, nichts Markantes. Schließlich gelangen wir ans Meer. Nach rechts dehnt sich ein schier endloser Sandstrand. Ungepflegt, kein Mensch weit und breit, kaum Hütten, nicht einmal Tavernen und das will hier etwas heißen. Von dem verzeichneten Campingplatz keine Spur. Nach kurzer Beratung machen wir uns auf den Weg nach Githio, wo wir uns vornehmen, den schönsten der fünf Campingplätze zu nehmen. Wieder fahre ich vor.

Natürlich wandert ständig der Vorfall von vorhin durch meinen Kopf und ich denke weiter nach, warum zuerst die Mühe, diese Begegnung herbeizuführen, um sie dann einfach aufzulösen. Ob es nur darum geht, einfach mit dem Vorhandenen zufrieden zu sein? Oder darum, mit Depression fertig zu werden? Kann das sein? Zweifel. Aber um was denn dann, um Himmels Willen?
Sowohl Vlachiotis als auch Skala sind flache, wenig attraktive Ortschaften. Nach Skala wird es kurvig, der Blick aufs Meer tut gut.
Aber was ist es dann?
Eine unvermutet auftauchende Ziegenherde verscheucht meine Gedanken. Eine Unmenge schwarzer Bohnen säumen ihren Weg.
Ja, was ist es dann? Die Begenung mit Alice hat sicher einen tieferen Sinn. Also müßte ich doch einfach vertrauen können, daß es trotzdem gut kommt. Trotzdem gut? Ja, aber wie denn? Vertrauen? Vertrauen?! Sollte das das Stichwort sein? Wie elektrisiert gebe ich meine lässige Haltung auf und setze mich aufrecht hin. Das tut dem Rücken gut. Ich schaue wieder bewußter in die Landschaft, rechts links, links zurück. Ja, gibt es so etwas! Da steht doch direkt am Strand ein risiges getrandetes Schiff! Nächste Ausweiche links ran. Am Strand baden Leute und davor steht das Schiff gemütlich und rostet vor sich hin. Schön! So etwas würde es vor lauter Ordentlichkeit bei uns nie geben. Mag der Dreck, der in Griechenland bei jeder Ausweiche und sonstigen Gelegenheit einfach achtlos weggeworfen wird, deprimierend sein, daß dieses Schiff nicht weggeräumt wird, finde ich wunderbar. Bereits das vierte Märchenbild an einem einzigen Tag! Es kommt mir ein wenig vor wie in Michael Endes Unendlicher Geschichte. Vertrau, das Unverhoffte wartet hinter der nächsten Ecke auf Dich. Keine Ahnung, warum mir just dieser Gedanke durch den Kopf blitzt.

Bald darauf erreichen wir Githio. Die Stadt ist mir sofort sympathisch. Eine lange Promenade entlang des kleinen Hafens und ein Kreisverkehr, dessen Zentrum sich ein paar Tavernen geteilt haben, wodurch er durch unzählige Tischchen gefüllt ist. Ich freue mich schon jetzt, dort zu sitzen, das bunte Treiben zu betrachten und etwas Feines zu essen!
Jetzt jedenfalls rollen wir wieder aus dem Ort hinaus, es geht nach Westen und dann taucht schon der erste Campingplatz auf. Jeder Mensch hat so seine Schrullen, eine meiner ist es, daß die Umgebung, in der ich bin, speziell in der ich schlafe, eine gute Atmosphäre haben muß. Für Michael und Robert dürfte es ein wenig quälend sein, denn es ist wirklich der letzte Campingplatz von den fünfen, der mir gefällt. Der eine ist zu sehr Fabrik (mit parallelen Stichstraßen), der nächste zu verwahrlost - ich hoffe, daß sie mir verzeihen. Im Nu stehen die Zelte und nun macht sich auch bei Robert Entspannung bemerkbar. Der Platz ist wirklich schön. Direkt am Strand, die sanitären Anlagen sind sauber. Als wir uns die Hände waschen wollen, werden wir von einem besonders perfekten Camper zusammengeschimpft, daß wir mit den Schuhen die fünf Schritte zum Waschbecken gegangen sind. Es wird wohl der sein mit dem riesigen Wohnmobil und der Goldwing auf dem Anhänger. Er hat sicher für den Moment vergessen, daß seine Umgebung nicht die Siedlung zu Hause ist und sich die Waschräume nicht in seinem schnuckeligen Häuschen befinden. Ich hatte vor Jahren einmal eine Familie kennengelernt, die ein riesiges Grundstück an einem bekannten schweizer See hatten. Als wir zu Mittag aßen, sprang die Frau plötzlich entsetzt auf, ging weit in den Garten hinaus, um einen Löwenzahn auszustechen. Daß sie den überhaupt vom Tisch aus, an dem wir aßen, gesehen hatte, zeugte von jahrelangem Trainig eines sperberähnlichen Scharfblicks. Danach merkte man ihr merklich die Erleichterung an, dieses grausamen Alien vernichtet zu haben. Der Rasen war schöner und gleichmäßiger als ein gekaufter Kunststoff-Rasenteppich.
Neben dem Platz ist ein nettes kleines Retsurant, gegen den Strand eine Bar und zum Eingang hinüber ein Supermarkt mit nahezu leeren Regalen. Naja, es geht gegen das Ende der Saison...

 

- 4 -

Nach einer Dusche schlendern wir hinüber zum Restaurant. Wir freuen uns sehr auf das Essen, auch heute sind die ersten Schluck Bier ein Hochgenuß!
"Was für eine wunderbare Strecke!" begeistere ich mich nun auch verbal.
"Schön, daß dir doch noch ein Campingplatz gefallen hat," stichelt Robert.
"Na, sag bloß, daß es nicht hier netter ist als bei den anderen!
"Ich weiß nicht...", schüttelt er in gespielter Trübsal den Kopf, "wenn ich daran denke, daß man hier die Schuhe ausziehen muß, um sich die Hände waschen zu können, wäre mir der letzte doch lieber gewesen..."
"Do you have a problem with your card?" Frage ich ihn mit einer Miene wie ein Arzt, der sich nach der letzten Mandelentzündung erkundigt. Wir kriegen uns fast nicht mehr ein vor Lachen. Dann kommt das Essen und vorerst herrscht gefräßige Stille. Biken macht eindeutig extrem hungrig.

"Daß du den Zettel mit Alices Adresse verloren hast, das finde ich wirklich komisch", beginnt Michael aus heiterem Himmel und erinnert mich an den Nachmittag.
"Ich habe die ganze Fahrt drüber nachgedacht, was das soll," antworte ich ihm. "Es geht mir wirklich nicht ein, warum zuerst vom Schicksal so intensiv dran gearbeitet wird, daß das Treffen zustande kommt, um dann alles in Luft aufzulösen".
"Du mit Deinen Zufällen," unkt Robert. "Das beweist ja, daß es sie eben sehr wohl gibt! Da ist gar kein Plan dahinter, sondern es hat sich eben so ergeben. Ja und?"
Ich fletsche leicht die Zähne und mache mit den Händen Greifbewegungen, so, als ob ich mich gleich auf ihn stürzen möchte. "Mensch du... du..."
"Ja, ja, da fehlen dir jetzt die Argumente, kann ich mir schon denken," legt er noch eine Schaufel nach, um dann einzulenken "aber seltsam ist es wirklich".
"Wißt ihr was ich glaube?" sage ich nachdenklich vor mich hin, "ich vermute, daß das Thema einfach Vertrauen ist."
"Vertrauen?"
"Ja, genau. Überlegt doch mal. Daß die Begegnung nicht von Ungefähr ist, davon gehe ich mal aus" Seitenblick zu Robert, der aber diesmal schweigt. "Vielmehr bin ich mir sicher, daß diese Sache in keiner Weise zu Ende ist. Hier geht es darum, zu vertrauen, daß das sogenannte Schicksal, das alles so perfekt eingefädelt hat, dieses Spiel auch gleich perfekt weiterführt. Also sitzt der Grund wo anders. Wenn ich vertraue, daß es so weitergeht, dann hab ich doch plötzlich gar kein Problem mehr."
Nun schaltet sich Robert doch wieder ein: "Also das ist ja wohl etwas kühn, würde ich sagen!"
"Weißt du, wir machen alle einen grundlegenden Fehler." ich schiebe den Teller beiseite und lehne mich etwas vor. "Wir sehen immer alle Dinge aus dem Zusammenhang gerissen. Freilich, wenn man hier nur diese eine Seite sieht, dann mag das schon etwas abstrakt aussehen. Aber wenn man es als einen Teil in dem gesamten Walten des Universums betrachtet, dann finde ich es absolut schlüssig."
Nun bewegt auch Michael den Kopf leicht zweifelnd hin und her.
"Gehen wir doch einmal von folgendem aus: Der Mensch ist sozusagen ein Strahlungsknotenpunkt. Er bekommt zu jeder Minute, ja sogar Sekunde, neutrale Kraft. Wir Menschen haben die Fähigkeit des freien Willens..." - "...na also das möchte ich nun wirklich anzweifeln," protestiert Robert.
"Lassen wir doch mal das jetzt beiseite, einverstanden? Da können wir ja einmal gesondert drüber sprechen. Mit allem, was wir tun, sagen, ja sogar denken, lenken wir diese Energie. Zugleich werden wir aber auch dadurch mit dem Ziel unserer Taten, Worte und Gedanken energetisch verbunden. Auf diese Weise spinnen wir ein regelrechtes Netz an feinen Fäden zu unserer Umgebung. Wiederholen wir so eine Verknüpfung öfters, wird die Bindung stärker, letztlich spricht man ja sogar bei Süchten auch von einem 'Hang', einem Hang zum Essen, einem sexuellen Hang, Hang zum Grübeln und so weiter."

Der Kellner kommt vorbei und wir bestellen jeweils noch ein Mythos. Nicht, daß wir damit unsere philosophische Ader beflügeln möchte, sondern Mythos ist eine der am weitesten verbreitete Biermarken Griechenlands.
"Und was hat das jetzt mit dem Vertrauen zu tun?" fragt Michael.
"Die eben gemachten Überlegungen sind die Grundlage dazu. Vorerst erklären sie einmal, warum es keinen Zufall gibt. Alle Dinge, die geschehen, basieren weiters auf drei grundlegenden Gesetzen des Universums: Dem der Anziehung der Gleichart, dem der Wechselwirkung und dem der Schwere. Warte bitte," wende ich mich an Robert, denn ich merke, daß er schon anhebt, etwas zu entgegnen, "laß uns das bitte einfach einmal fiktiv in den Raum stellen."
"Na schön," gesteht er zu und nimmt einen langen Schluck.
"Durch die Fäden, die wir mit unserem ständigen Handeln knüpfen, verbinden wir uns mit Personen, Orten und Eigenschaften. Je nach Art der Ver-Bindung kann uns das fördern oder auch hemmen. Jetzt kommt übrigens noch eines dazu: Die meisten dieser Bindungen, da sie ja aus unserem tiefsten Inneren heraus begangen wurden, halten über den Tod hinweg an. Wenn wir das nächstemal auf die Welt kommen, dann setzen sie magnetartig ein und so geschehen Dinge, die wir als Zufall bezeichnen."
"Jetzt mach mal halblang," kann sich Robert nun nicht mehr zurückhalten. "Willst du damit behaupten, daß ich erstens einmal öfters lebe und dann auch noch den Kram von einem Leben zum anderen mitschleppe??"
"Genau das, ja."
"Nein, also das ist ja nun wohl wirklich etwas zu dicke."
"Warum nicht? Du mußt das ja nicht gleich glauben. Nimm es doch einfach einmal als eine Möglichkeit fiktiv an und versuch, es nicht generell zu verurteilen. Sagen wir doch einfach: Es kann nicht so sein, aber genauso kann es auch so sein. Einverstanden?"
"Na schön. Vorläufig."
"Dankeschön. Im Prinzip wäre es das auch schon einmal fürs Erste," schließe ich diesen Teil. "Das 'Schicksal' in diesem Sinne gibt es gar nicht. Die Dinge, die so unerklärlich passieren, geschehen einfach aufgrund der magnetartigen Anziehung der Fäden, mit denen wir verbunden sind."
Michael macht ein leicht angewidertes Gesicht. "Das bedeutet, daß wir ständig mit einem ganzen Spinnennetz rumlaufen? Der Gedanke daran macht mich leicht nervös!"
"Ob es ein Spinnennetz ist oder freundliche Lichtfäden, das steuerst du ja schließlich selbst" tröste ich ihn. "Du hast es doch völlig im Griff, welche Verbindungen du herstellt und welche du nicht zuläßt, oder?"
"Das sehe ich aber nicht so," widerspricht Robert. "Das ist wohl das, was du da mit dem allgegenwärtigen freien Willen gemeint hast. Aber ich stecke doch ständig in Situationen, wo ich gar nicht entscheiden kann. Wenn ich zum Beispiel im Rollstuhl sitze, werde ich wenig Chancen haben, zu entscheiden, ob ich gehen will oder lieber sitzen."
"Das ist schon richtig. Den Folgen von früheren Entscheidungen sind wir natürlich ausgeliefert. Aber wie wir mit ihnen umgehen, das können wir sehr wohl entscheiden."
Lautes Gelächter am Nebentisch hindert mich daran gleich weiterzureden. Als man sich wieder verstehen kann, fragt Michael: "Meinst du, daß die Begegnung von dir und Alice irgendetwas mit Anziehung zu tun hat? Ja wie denn?"
"Ich glaube, daß das eben nicht so leicht nachvollziehbar ist, weil es einfach sehr weit verzweigt und vernetzt ist. Als Beispiel könnte ich es mir so vorstellen: Irgendwann in der Vergangenheit hatten wir intensiv miteinander zu tun und dadurch sind viele Verbindungsfäden entstanden. Diese ziehen uns wie an einem Gummi zueinander. Wir hatten das Bedürfnis, zueinander zu kommen und so ergaben sich diese seltsam anmutenden 'Zufälle'."
"Das ist wohl etwas an den Haaren herbeigezogen," knurrt Robert, "das beweis' erst mal!"
"Robert, wenn du bei diesen Dingen mit 'beweisen' anfängst, dann ist das sicher das Ende vom Anfang. Das ist ja einerseits das Problem und andererseits auch die Chance: In diesen Belangen geht mit 'beweisen' gar nichts. Das kann man nur versuchen mit seiner inneren Stimme zu prüfen und so für sich gutzuheißen oder abzulehnen. Und das ist nicht leicht, denn das haben wir in den vergangenen Jahrunderten und Jahrtausenden fleißig verlernt."
"Schön," meldet sich jetzt wieder Michael, "aber was hat das jetzt mir dem Vertrauen zu tun, das du vorhin angesprichen hast?"
"Theoretisch ist es doch ganz einfach. Wenn die Anziehung so groß war, daß wir uns hier getroffen haben, dann wird sie es auch wieder sein, daß wir uns treffen. Denn jetzt kommt ja noch dazu, daß wir uns getroffen haben, also der Wunsch, sich wieder zu sehen, dazu noch zusätzlich hilft." ich schaue zu dem Paar ganz am Ende hinüber. Und denke still mir 'wenn es bei ihr auch so ist...'.

Wieder schallendes Lachen vom Nebentisch.
Außerdem beginnt die heutige Fahrt ihren Tribut einzufordern. Wir sind alle drei müde. Ein wenig plaudern wir noch über dies und das, der Kellner räumt den Tisch ab und so bezahlen wir schließlich. Es ist ein sehr schöner Abend, vereinzelt zirpen Grillen. Der Mond wird bald ganz rund am Himmel stehen, es dauert nur noch wenige Tage, bis er voll sein wird. 'Mondwechsel - Wetterwechsel' denke ich bei mir. Zu dieser Zeit neigt das Wetter mit dem Vollmond gerne dazu, unbeständig zu werden. Jetzt ist aber davon keine Rede. Leises Plätschern tönt vom Strand herüber, den Weg entlang verbreiten ein paar wenige Lampen spärliches Licht. Wir verabschieden uns, ich krieche in mein Zelt und ziehe mich drinnen aus, um eventuellen Mücken keine Chance zu geben. Aber es gibt ohnehin kaum welche. Noch ein paar Minuten liege ich auf dem Rücken, lausche auf die Geräusche draußen. Irgendwann reißt der Faden ab und ich kippe weg ins Reich der Träume.

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