Die Journey

Wenn du zum Lesen ständig links und rechts scrollen mußt, dann klick hier drauf!11 - Schritt vor die Türe

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Heute bin ich ein wenig später dran: Alice wartet bereits vor Marias Lokal. Es ist noch recht frisch.
"Hi! Wartest du schon lange?"
"Nein, bin eben gekommen."
"Hast du gefrühstückt?"
"Ja, eine Kleinigkeit. Von mir aus können wir gleich fahren."

Das Wetter ist wieder so strahlend, wie ich es von hier gewohnt bin. Auf der Mani habe ich immer einige Wolken beobachtet, sie machen aber einen friedlichen Eindruck. Es geht die Kurven nach Areopolis hinauf, links durch den Ort durch, an Lagokili, Kalos und Velousi vorbei, dann rechts hinein nach Pirgos Dirou. Dann bergab; bevor man ganz unten ankommt, müssen wir Tickets erstehen. Der Höhlenbesuch ist nicht eben preiswert. Für die Motorräder finden wir unten bei dem Kreisverkehr Platz, der als Dead-End-Schlinge vor dem Gebäude liegt, das Restaurant, Souvenirladen und Höhleneingang umschließt.

Links steigen wir einige Stufen hinab, am Ende der Treppe tut sich eine prächtige Grotte auf. Wir stehen hier auf einem flachen Felsen, an den bereits das Wasser anschließt. Einige Ruderboote liegen auf Besucher wartend, in eines steigen gerade ein paar Leute ein. Als das Boot voll ist, macht ein Grieche von hinten einen großen Schritt, steht darauf und stößt es mit dem Schwung und einer langen Holzstange vom Felsen ab. Es gleitet über den See und ich denke schon, dass er sich in der Richtung geirrt hat. Denn das Boot kommt der gegenüberliegenden Wand immer näher, an einer Stelle, die nur ein niedriges Halbrund zum Durchschlüpfen frei lässt. Im allerletzten Augenblick setzt er sich jedoch hin und im Nu ist das gesamte Boot wie ein Spuk in der kleinen Öffnung lautlos verschwunden. Nun komme ich erst dazu, mich ein wenig umzusehen.

Bereits hier ist die Höhle wunderbar anzusehen. Eine Unmenge an Stalaktiten spiegeln sich in dem See. Außer uns ist nur ein Grieche hier, der sich an einem Boot zu schaffen macht. Keine weiteren Besucher, also werden wir wohl noch ein Weilchen warten müssen, denn die Boote fahren erst, wenn sie voll besetzt sind. Das Wasser ist glasklar, man kann auf den Grund sehen, Seine Oberfläche liegt völlig ruhig und glatt, außer sie wird von einem Menschen gestört. Es ist völlig still, hie und da ein paar Tropfen. Lediglich die Laute durch die Arbeit des Mannes, der ein Boot zur Ausfahrt vorbereitet.
Wie von Geisterhand getrieben schwebt unerwartet ein Schiffchen aus dem größeren Höhleneingang vis a vis hervor. Es ist voll orangefarbener Schwimmwesten, aber ohne Passagiere. Ich trete näher zu Alice heran und sage leise zu ihr:
"Siehst du da drüben das Boot mit den Schwimmwesten ohne Leute? Wahrscheinlich werfen sie weiter drinnen die Touristen an einer tiefen Stelle ins Wasser, nachdem sie ihnen alles Hab und Gut abgenommen haben und bringen dann für die nächste Fuhr die Westen zurück." Alice kichert und gibt mir einen Boxer an den Arm.
"Sag das bloß nicht zu laut, sonst merken die, dass wir sie durchschauen."
"Ob sie die Touristen zuerst taxieren, ob es sich lohnt?"
"Oder ob sie die gefangen halten und dann Lösegeld verlangen?"
"...und die lohnenden füttern sie durch, während sie die anderen ins Meer schmeißen.. ."
Wie um unsere Geschichte zu untermalen, kommt ein zweites Boot aus dem Loch. Eine Menge Westen. Keine Passagiere.

Plötzlich verdunkelt eine ganze Schar von Leuten, welche die Treppe herunterkommen, den Eingang, unsere Bootsfahrt scheint gesichert. Wir schnappen uns einen Platz ganz vorne auf dem Boot, unsichere Schritte auf schwappendem, wackeligen Untergrund. Natürlich haben wir vorher eine Schwimmweste bekommen... und einen Helm. Das Boot ist voll, ein Grieche steht nun auch bei uns im Heck und schon schiebt sich das flache Gefährt auf die Wand zu. Das kleine Loch kommt immer näher und ich frage mich, ob wir da wohl wirklich hindurchpassen. Fast gleichzeitig ziehen Alice und ich den Kopf ein, aber es geht sich gut aus. Der Steuermann erzählt auf griechisch über die Höhlen, schade, wir hätten uns vorher ein wenig informieren sollen. Aber es macht nichts, es ist auch so unglaublich eindrucksvoll. Wenn der Bootsführer nicht redet, hört man nur ein leises 'tock...teck...", wenn er uns mit dem langen Stab von einem Felsen zum nächsten weiterstößt. Das ist das einzige Antriebsmittel. 'teck...tock tock...tack'. Zwischendurch gläsernes blipp und blopp, wenn von den Stalaktiten Tropfen ins Wasser fallen. Ansonsten tiefe Stille. Andacht.
Überall verbreiten runde Lampen, die auf dem Wasser zu schwimmen scheinen, ein mildes Licht. Oft sind es nur Zentimeter, die den Kahn von einem Stein trennen, mit artistischer Leichtigkeit laviert uns der Mann durch das Labyrinth. Binnen weniger Minuten verliert man völlig die Orientierung, in welcher Richtung man sich bewegt.
Alice und ich sitzen ganz still, verstohlen beobachte ich sie ein wenig von der Seite. Atemlos beobachtet sie die Umgebung, ihre Intensität des Erlebens erinnert an die eines Kindes. Mit leicht geöffnetem Mund uns strahlenden Augen blickt sie rund um sich. Unterschiedlichste Farben und Formen haben die Steine. Einmal gleiten wir winkelig durch einen schmalen Durchschlupf, um dann wieder lautlos in einen hohen Dom einzufahren. 'tock... tock... blipp.. tack... blupp-blippblipp', dann Stille. Eine ganz enge Passage, man kann mit der Hand den Fels berühren, der sich seltsam glatt anfühlt. Spannung, was sich hinter der nächsten Biegung offenbart. 'tock... blipp... tack'. Ein tiefer Stollen tut sich auf, Stalagmiten stehen aus dem Wasser empor, Stalaktiten begegnen ihnen von oben. Manchmal haben sie sich bereits getroffen und sind zusammengewachsen. Der Reigen verliert sich in unergründlichem Dunkel. 'tack-tack...'. Eine virtuose nahezu 180-Grad-Kurve, wir schweben in eine Halle ein. Lang, prächtig, feucht, die kleinen Lampen auf der Wasseroberfläche verlieren sich in der Ferne. Staunen. Ich komme mir ein wenig wie ein Eindringling vor in dieser Unterwelt der Stille.
Später erfahre ich einiges über die Höhle. Sie soll bis zum Südzipfel der Mani hinunterreichen, bis dorthin, wo das Todesorakel des Poseidon steht. Dort soll sie in den Eingang zum Hades münden, dem Reich des griechischen Gottes, dem die Unterwelt untertan ist, so wie Poseidon die Herrschaft über das Meer innehat und Zeus die über den Himmel. Mystisch und geheimnisvoll klingen die Namen der Höhlen und Gänge, die wir durchfahren: 'Höhle des Drachens', 'Rote Halle', 'Meer der Schiffswracks', 'Elefantenfluss' und 'Die Straßen der Träume'. Sacht und unwirklich schieben sich immer wieder neue Gestalten hinter anderen hervor, manchmal müssen wir den Kopf etwas einziehen, so nahe. Wir schweben über den 'Großen Ozean', der bis zu fünfzehn Meter tief ist, gleiten durch die 'Rosa Apartments' und die 'Weißen Apartments'.
Als wir in eine größere Höhle einmüden, in der das Wasser besonders dunkel und tief wirkt, stoße ich Alice leicht an. "Hier werden sie uns wahrscheinlich die Schwimmwesten abnehmen und uns nach Stand und Vermögen befragen..." flüstere ich zu ihr. Ihre Schultern beginnen unmerklich zu zucken und sie schaut ostentativ in die andere Richtung. Einzige, aber umso eindeutigere Reaktion ist ein durchaus spürbarer Stoß mit dem Ellbogen in meine Rippen. "Ich bin fest entschlossen, ich geb meine Weste nicht her," ergänze ich noch, "wir müssen jetzt stark sein." Nun kehrt sie sich doch zu mir herüber, eine Träne rinnt ihr aus dem Auge und sie versucht mir nachdrücklich zuzuflüstern, dass ich sofort still sein soll. Durch das Lachen hat sie ihre Stimme nicht so gut unter Kontrolle und so entfährt ihr ein kleiner Quietscher, was sie dazu veranlasst, mir gleich noch einen Boxer zu verabreichen. Unauffällig schaue ich nach hinten, die meisten Gesichter widerspiegeln Nicht-Verstehen, zwei Mädchen scheinen aber, obwohl sie nichts verstanden haben dürften, Gefahr zu laufen, angesteckt zu werden. Also sag ich nichts mehr, denn es ist ja wirklich eine schöne Atmosphäre, die man nicht stören sollte.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde wird es heller und wir gelangen an einen Anlegeplatz. Sofort sage ich zu Alice: "Siehst du, wir müssen nun hier aussteigen! Auch wir kommen nicht zurück! Schau da drüben. Da liegen Schwimmwesten und Helme. Jetzt ist es so weit!" In der Tat werden wir zum Aussteigen aufgefordert. Zudem sieht der Grieche, der unsere Klamotten entgegennimmt nicht besonders freundlich drein. Zu Strafe stoße ich mir, kaum hab ich den Helm abgegeben, den Kopf an einem zum Glück harmlosen Stalaktiten. Nun geht es zu Fuß weiter, schlängelt sich einmal hinauf, mal hinunter in unbekannter Richtung. Dann wird es plötzlich hell und wir stehen im blendenden Sonnenschein. Verwirrt blicke ich mich um. Viel verwirrter bin ich jedoch, als mich Alice plötzlich impulsiv umarmt und mir einen Kuss auf die Wange drückt. "Danke, das war ein wunderschönes Erlebnis!" strahlt sie mich an. Es ist schön, wie ungezwungen und natürlich sie ist!

Von hier aus geht es über einen bequemen neuen Weg am Meer entlang zurück zu unserem Ausgangspunkt. Die Motorräder brüten in der Hitze. Neben dem Eingang zum Souvenirladen ist ein Wasserkühler. Man kann hier kostenlos eisgekühltes Wasser herauslassen, es ist Trinkwasser. Also füllen wir schnell unsere Flaschen an, um etwas Vorrat zu haben. Es ist uns nicht nach Reden zumute, der Eindruck der letzten Stunde hängt noch in unserem Gemüt. Wir wechseln lediglich ein paar Worte über den weiteren Verlauf der Reise: Zum Südzipfel der Mani soll es gehen, Porto Kagio, Tenaron, das Orakel des Poseidon.

 

- 2 -

Auf der Fahrt versuchen wir immer wieder die kleinen Nebenstraßen, die nach Westen hin zum Meer abzweigen. Wie bei solchen Versuchen meist sind viele Kilometer nicht von Erfolg gekrönt, um einen dann doch plötzlich unerwartete Schätze entdecken zu lassen. Mittlerweile ist es richtig heiß geworden. Eben rollen wir in einen kleinen Ort hinunter, lassen die Motorräder im Schutz einer Hauswand stehen. Ein paar Meter weiter unten haben wir Blick auf den winzigen Hafen. Genau genommen ist es nur eine Bucht, in der ein paar Boote liegen. Obwohl es ein Wochentag ist, und es offenbar keine Urlauber sind, springen die Leute von dem einen Schiff ins Wasser, schwimmen umher, lachen. Kein tierischer Ernst, sondern der südlichen Stimmung angepasste Fröhlichkeit.

Eine ganze Menge enger Sträßchen führen über die Halbinsel westlich der Hauptstraße. Wabernde Hitze liegt über dem Land, vom Meer ist kaum etwas zu sehen, denn es ist hinter der Steilküste drüben verborgen. Hier liegen das Sehenswerte im Detail. Hier ein Esel, dort ein kleiner Balkon, immer wieder Opuntien, selten noch mit ihren wunderschönen Kaktusblüten, immer schwer behangen mit Unmengen von Früchten. Unter einem dieser reich beladenen Sukkulenten eine Mauer, davor ein verwitterter Motor, noch komplett, schwer zu erkennen, welchem Zweck er dienen mag.

Hie und da Halt machen, ein paar Meter zu Fuß gehen, eigene Wege fahren, sich wieder treffen, wenig sprechen, die karge Gegend betrachten. Sie hat einen eigenen Reiz mit ihren unzähligen Braun-, Ocker- und Sandtönen. Seltsam berührt der Kontrast, den die kleinen, wie unabsichtlich hie und da verlorenen Siedlungen bilden, im Gegensatz zu der kahlen und eintönigen Landschaft, von der man meint, dass sie vergessen zurückgelassen worden ist.

Wir gelangen wieder auf die Hauptstraße und fahren weiter nach Süden. Ein kleiner Ort, steil abwärts, danach geht es stetig bergan. Nicht lange später sehe ich vor mir am Berg Türme, sie gleichen einer befestigten Gespensterstadt. Aus grauem Stein, schmucklos, gradlinig. Vathiá ist eines der bestrestaurierten Wehrdörfer der Gegend. Trutzig und unnahbar wirken die eckigen Gebäude, nicht umsonst konnte die Mani den Türken stets erfolgreich Paroli bieten. Früher war die Stadt auf vier Familien aufgeteilt, die sich untereinander blutig bekriegten.

Nachdem wir bei Vathiá einige Höhenmeter gewonnen haben, geht es nun an der beeindruckenden Felsküste weiter, ein Blick hinunter lässt uns riesige Steinblöcke entdecken. Die ganze Strecke ist nun eine Demonstartion von Naturgewalt! Die Blöcke haben durchaus manchmal die Größe von ganzen Einfamilienhäusern und liegen so verstreut, als ob sie einem spielenden Riesen eben aus der Hand gefallen wären. Es geht wieder bergab und rechts vor uns liegt weit unten eine kleine Bucht. Die Straße zweigt dorthin ab, oberhalb der Bucht erkenne ich eine Taverne, unterhalb eines aus wenigen Häusern bestehenden Ortes. Magnetisch zieht es mich zu dem Strand, wir rollen den Weg hinunter, bleiben neben der Taverne stehen. Zum Strand hinunter führen in Stein gehauene Stufen, von einem groben Schiffstau flankiert. Das Meer ist hier weit hinaus ganz flach, was man daran erkennen kann, dass sich bereits weit draußen die ersten Brecher bilden. Dort tummeln sich wenige junge Leute im seichten Wasser, lachen, springen in die sich auftürmenden Wellen, um auf deren Rückseite prustend wieder zum Vorschein zu kommen. Alice und ich haben unsere Schuhe ausgezogen, Badesachen und Wasser unter den Arm geklemmt. Nun wandern wir den Strand entlang auf die andere Seite, wo niemand zu sehen ist.

Ganz am Ende des Strandes, dort wo senkrechte Felsen ein Weiterkommen verhindern, bildet der Sand eine kleine Mulde aus, die zusätzlichen Sichtschutz gewährt. In kurzer Zeit wird hier sogar Schatten sein. Wir breiten unsere Handtücher aus und ich drehe mich zu dem Felsen um, betrachte ihn interessiert, damit sich Alice umziehen kann.
"Was schaust du?" fragt sie mich.
"Hey! Ich schau gar nix, aber ich denke, dass du dich einfach unbeobachtet umziehen magst" Ich bin etwas verunsichert. Lachen. "Ach so, na ich glaub nicht, dass du mir was wegschaust" und beginnt sich seelenruhig auszuziehen. Turnschuhe, Socken, Jeans, T-Shirt. Ob sie bereits zu Hause mit ein paar Badestunden gerechnet hat? Jedenfalls war sie offenbar cleverer als ich, sie hat den Bikini darunter schon an, wirft jetzt lachend die Klamotten in den Sand und läuft zum Wasser. Gleich bin ich auch so weit und folge ihr nach. Das Wasser ist warm aber nicht zu warm, tut unwahrscheinlich wohl. Sie steht mit dem Rücken zu mir hüfttief gute zwanzig Meter weit draußen, sieht in die Sonne auf das offene Meer hinaus. Als ich ganz knapp hinter ihr bin, wirft sie plötzlich die Arme nach hinten. Hätte sie bewusst gezielt, sie hätte es nicht besser treffen können! Der Wasserschwall trifft mich voll. Bevor ich zum Nachdenken komme, flüchtet sie auch schon heftig rudernd nach draußen, dass ich sie kaum einholen kann. Schließlich bin ich doch neben ihr.
"Schön hier, nicht, speziell dort drüben?" frage ich sie scheinheilig und schaue in der Gegend herum, blicke etwas intensiver an ihr vorbei. Sie geht in die Falle, schaut hinüber, weg von mir. Als sie mir mit fragendem Blick das Gesicht wieder zukehrt, fahre ich mit der flachen Hand über die Wasseroberfläche, dass sie die Spritzer völlig unerwartet treffen. "Du Schuft!" ruft sie, aber ich habe mich schon beeilt, etwas Distanz zwischen uns zu bringen. Wir tollen noch eine Weile im Meer herum, schwimmen dann eine Runde ganz manierlich Seite an Seite hinaus. Nach einer guten halben Stunde lassen wir uns erschöpft aber glücklich auf unsere Handtücher fallen. Die Sonnenstrahlen saugen bald einen Wassertropfen nach dem anderen von unserer Haut. Mit jedem verdunsteten Tropfen nimmt die Wärme wieder zu. Doch wie vermutet schiebt sich bereits der Schatten langsam herüber und berührt schon meine Füße.

Alice hat sich aufgesetzt und blickt gedankenverloren über das Meer. Wir haben lange geschwiegen.
"Adrian?" - "Ja?" - "Glaubst du, daß ich eine überdrehte Spinnerin bin?"
Ich sehe sie verdutzt an. Alles hätte ich erwartet aber nicht das. "Nein, wie kommst Du darauf?"
"Ich hab Dir doch einmal etwas von einer Geschichte angedeutet. Du erinnerst Dich?"
"Ja, du hast gesagt, daß du sie mir einmal erzählst."
"Na ja..." sie zögert.
"Ja?"
"Es ist eine etwas unglaubliche Geschichte. Einmal habe ich versucht, sie jemandem zu erzählen, aber es war keine schmeichelhafte Reaktion, die ich bekam..."
"Einmal?"
"Na ja. Nach diesem gescheiterten Versuch hab ich es noch nicht glauben können und hab es dann bei wenigen Freundinnen nochmals probiert. Zwar waren da die Reaktionen gemäßigter aber nicht grundlegend anders."
"Inwiefern nicht schmeichelhaft?"
"Er hat mich als abgehobene Esoterikern bezeichnet, die in irgendwelchen Wunschvorstellungen aus der Realität abhauen möchte."
"Ist das nicht etwas durchaus Legales?" Kaum ist das heraußen, da merke ich, daß es die falsche Antwort war. Fast unmerklich rückt sie etwas ab und ein Schatten zieht über ihr Gesicht.
"Du würdest wohl auch so reagieren."
"Entschuldige, das habe ich damit nicht gemeint, Alice. Ich wollte damit nur sagen, daß ich es nicht als verkehrt sehe, wenn man sich zwischendurch einmal in eine Traumwelt begibt."
"Aber was ich erlebt habe, das ist keine 'Traumwelt'!" Abrupt wendet sie mir den Rücken zu, ihre Schultern zucken. Ganz vorsichtig setze ich mich neben sie und lege ihr den Arm um die Schulter. Sie schiebt ihn nicht weg.
"Alice, entschuldige, es tut mir leid, ich hab das nicht so gemeint. Ich hab mich dumm ausgedrückt und auf etwas Bezug genommen, um das es ja gar nicht geht. Wenn mir jemand etwas Unglaubliches erzählt, dann würde ich es nie als Spinnerei abtun, nur weil ich es ngerade nicht verstehe, glaub mir. Dafür hab ich selbst schonb viel zu seltsame Dinge erlebt. Ich bin zwar Realist, aber andererseits weiß ich auch, daß es genug Dinge gibt, die wir nicht wissen. Sei mir bitte nicht bös." Sie wird wieder ruhiger und ich warte.
Nach einiger Zeit wendet sie sich langsam wieder mir zu und sieht mich prüfend an. Ihr Augen glitzern noch feucht und sie wischt mit dem Handrücken eine Tränenspur ab.
"Würdest du mich sicher nicht als schwebende Kuh abtun?"
Ich muß bei der Vorstellung mit aller Macht den Lachreiz unterdrücken, noch schwieriger, als ich sehr froh und erleichtert bin. Schwebende Kuh... was für ein Bild!
"Nein, Alice, das würde ich ganz sicher nicht. Ehrenwort." Kurze Pause. "Dafür ist mir ein Gegenüber zu wichtig. Und du erst recht!" Offenbar scheint aber das Verkneifen des Lachens nicht hundertprozentig gelungen zu sein, denn sie runzelt die Stirn.
"Nein, ganz sicher! Wenn ich jetzt ein wenig schmunzle, dann ist es nur die Vorstellung an eine schwebende Kuh..."
Jetzt glätten sich doch ihre Zweifelsfalten und sie lächelt. Das Lächeln vertieft sich und sie beginnt zu lachen. "Irgendwie hast du ja recht..." ich falle in ihr Lachen ein und wir müssen beide prusten vor lachen, malen das Bild noch etwas aus, aus der Kuh wird eine Milka-Kuh und anderes bis wir richtig außer Atem geraten.
Schließlich kriegen wir uns doch wieder ein.
"Erzählst du sie mir?"
"Ja, Adrian, das tu ich. Ich glaube du bist der erste, der mich ernst nimmt. Das ist für mich sehr wichtig, denn seit diesem Erlebnis fühle ich mich hier richtiggehend fremd. Ich habe so das Bedürfnis, diese Dinge teilen zu können."
"Es würde mich sehr freuen, wenn du mir das Vertrauen schenken würdest, Alice. Wirklich!"
"Also gut..."
Wir sitzen nun nebeneinander und blicken auf das Meer, als sie beginnt.

 

- 3 -

"Es war vor zwei Jahren", beginnt sie, unverwandt geradeaus blickend, "als ich mit einer Freundin zusammen eine kleine Tour durch Südtirol machte. Das Wetter war schön, es hatte allerdings vorher geregnet. Wir fuhren über eine Passstraße mit vielen Serpentinen. Ich mag Serpentinen genauso gerne wie weitläufigere Kurven, aber an diesem Tag war mir beim Fahren etwas seltsam zumute, ich konnte allerdings den Grund dafür nicht finden. Es ging bergab, meine Freundin fuhr vor mir. Wir waren nicht einmal schnell unterwegs. Sie fuhr durch eine Linkskurve und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich war sicher nicht schneller unterwegs als sie, als ich in die Kurve einfuhr. Plötzlich spürte ich, wie die Bodenhaftung nachließ. Es war aber ganz eigenartig, es kam mir vor, als schwebe ich einen Augenblick. Die Leitplanke kam immer näher und ich stieß dagegen. Obwohl der Schwung nicht groß war, wurde ich über die Schiene geschleudert, während ich das Motorrad davor weiterschlittern hörte. Es ist unglaublich, wie genau und intensiv man solche Sekunden mitbekommt." Sie hält kurz inne.
"Dummerweise ging es auf der anderen Seite der Leitplanke gute sechs Meter nahezu senkrecht hinunter, unten die Fortsetzung der Straße. Ich flog durch die Luft, berührte ein paar Mal heftig die Böschung und schlug dann auf der Straße auf. Dann wurde es schwarz." Mich schaudert bei dem Gedanken und es fröstelt mich trotz der Hitze.

"Und dann," fährt sie fort, "begann das Unglaubliche. Ich erkannte nichts konkret um mich herum, sah lediglich eine vage Lichtgestalt vor mir. Von ihr ging eine unglaubliche Zuwendung aus, als sie sich zu mir beugte.
'Alice, hörst du mich?' begann sie zu sprechen. Ich hörte die Stimme nicht so, wie wir es gewohnt sind, Stimmen zu hören, vor, neben oder hinter mir, sondern ich hörte sie in mir - und auch wieder nicht, es ist schwer das zu erklären.
'Wer bist du, was ist los mit mir?' fragte ich zurück. Trotz der sehr ungewöhnlichen Situation hatte ich keine Angst oder Sorgen.
'Ich bin Aina.' Ihre Stimme klang unendlich sanft und ich fühlte mich leicht und sehr wohl. 'Ich bin deine Lichtgefährtin'-
'Lichtgefährtin?' -
'Ja. Jeder Mensch hat eine Lichtgefährtin oder einen Lichtgefährten. Ihr nennt das auch Schutzengel.'
'Dann bin ich durch den Unfall gestorben,' dachte ich bei mir. Einerseits fühlte ich mich sehr, sehr wohl, hatte so gar kein Bedürfnis zurückzukehren. Andererseits hatte ich noch so viel vorgehabt und es kam mir so vor, als ob der Zeitpunkt noch nicht dazu reif gewesen wäre.
'Nein, du bist nicht 'tot' in eurem Sinn.'
Konnte sie Gedanken lesen?
'Ja und nein', antwortete sie gleich auf die ungestellte Frage und das erstaunte mich wieder. 'Lesen kann ich sie nicht, aber ich empfinde, wie du empfindest. Das kannst du umgekehrt momentan noch nicht, weil du erst lernen musst, mit diesem Zustand umzugehen.'
'Dann bin ich nicht 'tot'?'
'Nein, du bist nur ohnmächtig, denn der Sturz war sehr schwer. Aber es wird alles gut werden', beruhigte sie mich sofort. 'Der Unfall war wichtig für dich. Und er hat auch noch einen Zweck.'
Ich war neugierig. Aina spürte das offenbar wieder, denn sie sagte:
'Ich werde dir später davon erzählen. Vorläufig sage ich dir nur, dass wir eine Reise durch das Universum machen werden und auch eine Reise durch die Zeit. Aber du bist jetzt müde und solltest ein wenig ruhen.'
Tatsächlich fühlte ich mich ziemlich erschöpft, auch wenn es mir sonst unwahrscheinlich gut ging.
'Ich werde dich nun ein wenig alleine lassen. Wenn du mich rufst, bin ich sofort wieder da. Schlaf wohl' und damit zerfloss ihr Bild und es wurde dunkel um mich. Gleich darauf fühlte ich Schmerz und hörte eine Stimmen neben mir:
'Alice... Alice!' Es war Hannelore, meine Freundin, die mich verzweifelt rief. Mühsam machte ich die Augen auf, ich konnte mich nicht bewegen.
'Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut,' flüsterte ich zu ihr. 'Sag das auch meiner Mutter!' Wie wird es ihr wohl gehen, wenn sie das erfährt! Und schon verschwamm alles um mich herum und versank im Dunkel."

Alice schweigt. Ich sage nichts, denn ich möchte diesen wundersamen Film nicht unterbrechen, er ist subtil wie eine Seifenblase. Sie fährt bald darauf fort.

"Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ich erwachte. Ich lag im Halbschatten eines Baumes auf einer Wiese und Aina saß neben mir. Es duftete wie nach blühendem Ginster, ich hörte sogar Vogelgezwitscher. Mühelos richtete ich mich auf und saß nun ebenfalls. Lächelnd wandte sich Aina mir zu. 'Wie geht es dir?'
'Ich fühle mich unglaublich wohl. Wie schön es hier ist!'
'Es ist die Landschaft, die du dir wünscht, Alice.' gleich darauf, auf meine ungestellte Frage: 'Du bist hier im Reiche jenseits. Es ist nicht so wie auf der Erde und doch wieder schon. Während du drüben deine Wünsche umsetzen musst und manche gar nicht umsetzen kannst, weil alles zu träge und grob ist, formen sich hier deine Wünsche und sind 'wahr'. Du magst diese Landschaft und deshalb ist sie.' Nach einer kurzen Pause: 'Je weiter hinauf es geht, umso leichter wird alles und umso direkter sind deine Umgebung und das was du willst verbunden.'
Begeistert sah ich mich um. In sanften Wellen breitete sich die Landschaft vor mir aus. Kleine Gruppen von Birken, weiter hinten ein Buchenwald. Farbige kleine Inseln wurden durch unzählige Blumen gebildet und immer wieder wippte irgendein Schmetterling vorbei. Als einmal ein besonders schöner vorbeikam, streckte ich die Hand aus und wünschte mir impulsiv, dass er sich darauf niederlassen sollte. Er umgaukelte meine Hand ein paar Mal und setzte sich dann tatsächlich auf die offene Handfläche. Rhythmisch öffnete und schloss er die Flügel. Ein tiefes Glücksgefühl durchzog mich. Wie schön das hier alles ist. Warum kann es bei uns auf der Erde nicht auch so ein?
'Das wirst du nun bald erfahren,' sagte Aina zu mir."

Alice schweigt und blickt nach wie vor auf das Meer hinaus. Es kommt mir so vor, als ob sie weit, weit weg wäre, nur ihre Stimme ist hier. Während der letzten Sätze habe ich die Augen geschlossen gehabt um die Gegend vor mir zu sehen, die sie beschrieb. Lediglich das Meeresrauschen hat nicht ganz dazugepasst. Noch im Bann der Geschichte sehe ich den Wellen zu, wie sie wieder und wieder den flachen Sand heraufklettern, jede anders als ihre Vorgängerin. Diese Verschiedenheit, dabei sind es doch nur Wellen. Der Schatten hat uns mittlerweile erreicht, es ist angenehm warm, nicht mehr so stechend heiß wie vorher. Alice bittet mich um eine Wasserflasche. Sie liegen auf meiner ihr abgewandten Seite. Danach nehme ich auch einen tiefen Zug von dem lauwarmen Wasser, das aber trotzdem gut schmeckt. Wir schwimmen nochmals eine Runde, allerdings tollen wir diesmal nicht so ausgelassen. Wir wollen diese friedliche Stimmung nicht stören, vielleicht erzählt Alice danach weiter. Um etwas zu trocknen, gehen wir einmal den Strand hinauf und wieder zurück. Danach setzen wir uns wieder auf unsere Tücher.
"Möchtest du noch...?" frage ich sie.
"Ja... gerne..."

"Wir waren noch eine zeitlang auf der Wiese gesessen und ich hatte alles um mich herum in mich eingesogen. Schließlich wandte sich Aina wieder an mich.
'Wir werden nun eine Reise machen, Alice. Was auch geschieht, fürchte dich nicht, es passiert dir nichts, auch wenn du mich nicht neben dir siehst.' Neugierig blickte ich sie an.
'Leg dich hin und schließ deine Augen', trug sie mir auf. Als ich die Augen zu hatte, fühlte ich, wie langsam ungeheure Aktivität in mir aufzusteigen begann. Zuerst leise, dann immer lauter begannen Töne sich zu einer rauschenden und immer mächtigeren Melodie zusammenzufügen. Es war aber kein Lied in dem uns bekannten Sinn, sondern wie ein ständig sich ändernder Klang, der aber aus unzähligen Tönen bestand. Dann begann es um mich herum immer lichter zu werden, bis es gleißend weiß war, sodass ich meine Augen mit den Händen bedecken musste. Ich fühlte dass ich stand. Ganz langsam konnte ich beginnen, die Hände zu entfernen und so konnte ich dann vage rechts vor mir eine Art riesengroßes Tor erkennen. Je mehr ich mich an die Helligkeit gewöhnte, umso mehr konnte ich wenige Einzelheiten erkennen, auch wenn es nicht viel war. Das Licht kam offenbar von der linken Seite und strebte auf das Tor zu. Als ob dieses eine riesige Schleuse wäre, drückte es sich in mächtiger Bewegung durch, nach außen. Über allem lag ständig das mittlerweile donnernde Klangesbrausen. Nach einer Zeit wurde alles weniger unmittelbar. Dann befand ich mich plötzlich außerhalb dieses Tores und sah, wie das Licht an mir vorbei heraus schoss und sich in unendlichen Weiten verlor.
Nach einer Weile kam es mir so vor, als ob der Sog dieser ungeheuren Bewegung mich berührte und mit sich zu ziehen begann. Als ein leichtes Angestgefühl in mir aufzusteigen begann, erinnerte ich mich wieder an Ainas Worte 'Was auch geschieht, fürchte dich nicht...' Der Strom zog mich zuerst leise mit sich, dann wurde in wirbelndem Tanz fortgerissen. Ich konnte kaum etwas um mich herum wahrnehmen, lediglich hie und da größere Lichtpunkte und Lichtgebilde. Nach geraumer Zeit wurde die Bewegung langsamer und es begannen sich zusehends zuerst ganz zarte Farben in das Weiß zu mischen. Die Farben wurden kräftiger und begannen zu funkeln. Wieder nach eine mir lange erscheinenden Zeit sah ich etwas in weiter Ferne, das wie eine Landschaft aussah. Die Geschwindigkeit nahm ab und ging in ein sanftes Gleiten über. Es war wirklich eine Landschaft, die mir entgegen kam. Oder besser: Ich bewegte mich auf sie zu. Immer mehr nahm die Bewegung ab, so als ob eine sanfte Landung geplant wäre. Vor mir lag ein Farbenmeer, das unendlich weit zu reichen schien. Hier gab es keine Erdkrümmung, die einen Horizont gebildet hätte, sondern es verlief sich einfach in der Weite, ein Ahnen des Begriffes Unendlichkeit stieg in mir auf. Ich schwebte immer näher. Mittlerweile konnte ich Details erkennen. Es war eine unermesslich große Gartenlandschaft. Aber nicht eine Monokultur, wie es bei uns auf der Erde wäre, sondern mit einer schier unfassbaren Vielfalt. Jeder Garten anders und in allen Gärten bunte Blumen unterschiedlichster Farben und Formen.
Zuletzt schwebte ich wie eine Feder so langsam und leicht und berührte dann mit den Füßen ganz zart den Boden. Zwischen den Blumen waren Wege und auf einem solchen stand ich nun. Es war wunderbar weich. Rundherum waren eine Menge an lichten Wesen, die sich an den Blumen zu schaffen machten, sich zu ihnen hinunterbeugten, mit ihnen sprachen. Ich bückte mich zu einer Blume hinunter und war sehr erstaunt: In dem Blütenkelch lag ein winzig kleines Wesen, das aussah wie ein Menschenkind. Verblüfft schaute ich in andere Blumen und fand auch in manchen anderen so ein kleines Geschöpf.
Ich spürte eine Berührung, eines der hier arbeitenden Lichtwesen hatte mich an der Hand genommen und führte mich durch die Wege. Bäume spendeten Schatten, obwohl nirgends eine Sonne zu sehen war. Es gab ebenfalls Vögel, die allerdings zutraulich waren, manchmal einem der Wesen auf er Schulter oder auf dem Kopf saßen, keine Scheu kannten. Lange wanderten wir durch die Gärten, die in Stufen angelegt, immer anders waren, keiner glich dem anderen. Schließlich blieb das Lichtwesen stehen und vor mir stand eine Blume. In der Blüte lag kein kleines Wesen, sie war leer, blühte aber wunderschön, gelb-weiß mit zarten roten Mustern. Meine Lieblingsfarben! Als ich so vor dieser Blume stand, berührte es mich ganz eigenartig. Ein unerklärliches Heimatgefühl durchzog mich. 'Dies ist deine Blume' sagte das Lichtwesen, sonst nichts. Ich stand nur da und schaute. Dabei wurde ich gar nicht gewahr, dass sich das Lichtwesen entfernt hatte. Ganz langsam begann dann alles um mich herum zu verschwimmen, bis es wieder dunkel war. Kurze Zeit später öffnete ich die Augen und sah Aina neben mir sitzen.
'Was war das...?' fragte ich sie, tief beeindruckt von dem eben Erlebten."

 

- 4 -

Alice schweigt. Auch ich sage nichts, sondern lege mich auf den Rücken und blicke in den Himmel. Was für eine Geschichte! Keine Wolke trübt das tiefe Blau. Ich höre die Wellen sich die Sandschräge empor schieben, um dann doch jedes Mal wieder, aufgebend, ins Meer zurückzugleiten. Was muss das für ein Erlebnis gewesen sein!

Drüben sind die Leute gegangen, wir sind allein am Strand. Prüfend sieht mich Alice nun an.
"Glaubst du mir die Erzählung?"
Ich blicke sie direkt an. "So etwas kann man nicht erfinden. Was für ein Erlebnis! Ich danke dir, dass du sie mir anvertraust. Zwar habe ich nie irgendetwasAußergewöhnliches erlebt, aber es kommt mir seltsam vertraut vor. Geht die Geschichte weiter?"
"Oh ja, das war erst der Anfang."
"Erzählst du mir später bitte mehr?"
"Ja, ich werde dir weiter davon erzählen. Ja... gerne."

Mittlerweile war die Sonne doch zügig weitergewandert und zudem wird es im September leider schon wieder früh dunkel. Wir haben sicher noch mindestens eineinhalb Stunden zurück nach Githio. So packen wir zusammen und schlendern über den Strand zurück. Die Stiege neben dem Schiffstau hinauf, vorbei an der Taverne. Die paar Dinge sind schnell an den Motorrädern befestigt. Ein Blick auf die Karte.
"Nehmen wir diese Strecke an der Ostseite des Fingers?" schlägt Alice vor.
"Aber zum Poseidon-Orakel fahren wir schon noch, oder?"
"Find ich schon, ist ja nicht so weit."
Und so rollen wir wieder zur Hauptstraße hinauf, um dann im spitzen Winkel nach rechts abzuzweigen. Wir kommen nun dem südlichsten Zipfel Europas immer näher, die Landschaft ist karg, wirkt fast abweisend. Jetzt geht es bergab und der Weg endet in einem Schotterparkplatz. Nur wenige Autos stehen hier. Alice stößt mich an und deutet zu einem Auto hinüber, "Guck mal..."
Neben einem Touristenauto steht ein junges Pferd und interessiert sich intensiv dafür, was vorgeht. Die Frau versucht verzweifelt, es beiseite zu schieben, allein das Pferd ist stärker. Es reckt den Kopf tief ins Wageninnere, macht fast Anstalten, einzusteigen. Schließlich gelingt es der Dame, es herauszuzerren, worauf sie sofort die Türe schließt. So groß Pferdchen auch sind - im Vergleich zu Menschen - langsam müssen sie deshalb nicht sein. Die Heckklappe ist ihm gewogen, also startet es dort einen weiteren Versuch. Die Beine schon ganz schräg reckt es den Hals ganz weit hinein. Die Frau gibt auf zu ziehen, brüllt es vielmehr nun an, die Stimme überschlägt sich ein bisschen, das Pferd ignoriert sie nicht einmal. Nun hält die Frau verzweifelt Ausschau, offenbar nach ihrem männlichen Begleiter. Der taucht tatsächlich weiter hinten auf, sie läuft händeringend ihm entgegen, die Szene erinnert ein wenig an Bauerntheater. Keine zwanzig Meter vom Auto entfernt ist sie, als das Pferdchen offenbar jegliches Interesse verliert, den Kopf herauszieht, einmal kurz aber nichts weniger als provozierend wiehert um sich gleich darauf in gemächlichem Galopp vom Acker zu machen. Alice und ich lachen Tränen.

Ein Schild am südlichen Rand des Parkplatzes informiert uns darüber, dass wir hier bei dem Todesorakel des Poseidon angelangt wären. Ein kleines Gebäude mit einer Menge von wahllos herumliegenden Steinen. Vorne die Bucht, dahinter sehen wir den südlichsten Zipfel von Europas Festland. Es bleibt uns aber nicht die Zeit, dorthin zu wandern. Denn die Straße ist hier zu Ende. So spazieren wir ein wenig durch die Gegend und atmen mythologische Luft ein. Da diese zunehmend kühler wird, machen wir uns doch bald auf den Rückweg. Da wir gerne auf der uns noch unbekannten Ostseite zurückfahren möchten, entscheiden wir uns für die kleine, in der Karte weiß eingezeichnete Schotterstraße, die doch um einiges abzukürzen scheint. Alice hat natürlich mit ihrer TDM keine Probleme, mit Akbar macht es schon etwas Arbeit. Es geht in Serpentinen bergauf, oft liegen lose große Steine herum. Oben macht die Straße dann einen Knick nach Norden. Davor werden wir aber für die Mühen mit einem traumhaften Blick entlohnt: Vor uns liegt der südlichste Festlandzipfel Europas ausgebreitet. Es sieht aus, als ob ein Tuch Geschenke verbergen solle. Links haben wir Sicht auf Porto Kagio, rechts sehen wir sogar noch ein Stückchen unserer Bucht. Die schräg stehende Nachmittagssonne modelliert die Hügellandschaft kräftig und steigert ihr wildes Ambiente.

Der Weg entlang diese Küste kommt mir länger vor als der auf der Westseite. Hier durchqueren wir jedes Dörfchen, während man drüben an praktisch jedem vorbeifährt. Nach einigen wilden Schlenkerern fahren wir dann doch in Kotronas ein. Kurz vor dem Hafen entdecken wir auf der rechten Seite die Terrasse eines kleinen Lokals. Der Magen knurrt gewaltig und macht uns so nachdrücklich auf sein Vorhandensein aufmerksam. So genießen wir bei wunderbarer Aussicht einen griechischen Salat. Die Sonne ist schon einige Zeit hinter der Bergkette verschwunden, als wir uns auf den restlichen Weg machen. Hinter der Landzunge präsentiert sich uns eine brandneue und breite Asphaltstraße, statt der befürchteten Schotterstraße laut Karte. Es macht riesig Spaß, es so richtig laufen zu lassen, ein paar Mal hüpfen die Fußraster unter dem angehobenen Fuß über die leichten Unebenheiten. Wiederum bin ich von Alices Fahrstil überrascht. Sie bleibt keinen Meter hinten und als wir dann doch noch ein kleines Stücken Schotter, kurz vor Skoutari haben, klatscht sie begeistert in die Hände und ich sehe sie in ihrem Helm grinsen.

Als wir an der Kreuzung ankommen, wo sich unsere Wege trennen, beschließen wir, schlafen zu gehen, um dafür denmorgigen Tag in statischerer Atmosphäre zu genießen. Alice fährt noch mit, damit ich ihr zeigen kann, wo ich wohne. So sehe ich mein Zimmerchen auch zum erstenmal. Es ist das letzte an der Außenseite des Hauses, klein, etwas zurückgesetzt und so richtig abgeschottet von den anderen. Alice ist begeistert. Ich auch. Keine fünfzig Meter zum Meer, direkt vor der Zimmertür Garten mit frischem Gras, Palmen und malerischen Schilfbüscheln.

Eine gute Stunde später liege ich im Bett, bin übersiedelt. Ich gucke an die Decke und lasse den Tag vorüberziehen. Ein Tag des Eintauchens in unbekannte Reiche. Die stille und geheimnisvolle Welt der Tropfsteine als Beginn. Ein Flug ins Lichtreich und dann, zum Ausklang noch ein Hauch griechischer Mythologie. Was bietet doch das Leben, wenn man den Schritt vor die Türe wagt...

 
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