- 1 -
Der
heutige Tag beginnt im Zeichen des Unerwarteten.
Über mir wohnt eine alte Dame. Sie kam mir schon
sympathisch vor, als ich sie die wenigen Male sah, die wir uns hinter
oder vor dem Häuschen begegneten. Sie ist sicher mindestens siebzig
und ich mag ältere Leute, die trotzdem noch agil und dem Leben zugewandet
sind. Eben jene Dame treffe ich jetzt wieder, als ich die kleine Stiege
hinaufgehe, um ebenso viele Stufen vor dem Haus wiederum zum Parkplatz
hinabzusteigen.
"Ach!" meint sie offensichtlich erleichtert, als sie mich sieht,
"sie sind meine Rettung!"
Etwas verwundert blicke ich sie an und es entschlüpft mir ein ebensolches
"Ah so?"
"Können sie mir nicht helfen?" fragt sie.
"Gern, wenn ich kann?"
"Aber sicher!" Sie schmunzelt richtiggehend verschmitzt und
macht mich noch neugieriger. "Gerade eben bin ich vorne aus der Ausfahrt
gefahren, da bleibt mein Käferchen stehen!"
"Käferchen?"
"Ach ja, das können sie ja nicht wissen. Mein erstes eigenes
Auto," plaudert sie munter drauflos, "nachdem mein Mann gestorben
war, das war ein VW Käfer. Auch wenn ich danach immer andere Automarken
fuhr, so waren die doch immer meine 'Käferchen'" Nun ist es
an mir zu schmunzeln.
"Einfach so? Stehengeblieben?" Frage ich sie
"Ja, er hat ein paar Hopser gemacht..."
"Das Benzin vielleicht?"
"Benzin? Nein! ... oder warten sie mal... kann das sein?" Ich
warte mal.
"Ja! Ich wollte doch das letztemal noch tanken! Sicher ist es das!
Wie sind sie denn da so schnell draufgekommen?"
Zwischenzeitlich haben wir uns auf den Weg zu ihrem 'Käferchen' gemacht.
Sie war in der Tat nicht weit gekommen. Gleich hinter der Ausfahrt steht
das kleine Schnauferl unter einem Feigenbaum. Ein Blick auf das Armaturenbrett
bestätigte unsere Diagnose. Es ist wirklich kein Benzin mehr drin.
"Haben sie denn einen Kanister?" Sie nickt und schaut etwas
schuldbewußt drein.
"Verstehe. Da ist auch nichts drin"
"Nein" ist die etwas kleinlaute Antwort, "das wollte ich
nämlich auch vorgestern erledigen."
"Soll doch kein Problem sein. Wenn sie mir versprechen, gleich anschließend
tanken zu fahren, dann fahre ich schnell und mach ihnen den Kanister voll."
Ich grinse dabei etwas schelmisch, um die Worte etwas weicher erscheinen
zu lassen.
Gesagt, getan. Kurze Zeit später bin ich schon unterwegs, mit ein
paar Expandern den Kanister auf der Sissybar von Akbar festgeschnallt.
Leider ist die nächste Tankstelle doch eine gute Viertelstunde weit
weg, ich wäre auch ohne diese Verzögerung schon spät dran
gewesen, denn Alice und ich haben uns wieder in unserem mittlerweile traditionellen
Café vereinbart, heute etwas früher als sonst, um eine größere
oder gemütlichere Tour machen zu können. Aber so wie ich Alice
kenne, hat sie sicher Verständnis. Erreichen kann ich sie leider
nicht, denn ich kenne ihre Handynummer nicht und weiß auch nicht,
ob sie es überhaupt dabei hat.
So fahre ich gutgelaunt durch den jungen Tag, im Bewußtsein, ihn
auch gleich noch mit einer guten Tat beginnen zu können. Wieder schickt
die Sonne ihre wärmenden und aufmunternden Strahlen herunter und
der Fahrtwind stellt die kleinen Härchen auf den Armen gegen die
Richtung auf. Nach längerer Fahrt ist es immer ein lustiges Gekribbel,
wenn sie sich wieder in die gewohnte flache Lage raufen. Die erste Tankstelle
hat offen und bald bin ich wieder auf dem Rückweg. Die alte Dame
ist überaus glücklich und läßt sich schließlich
doch überreden, das Benzin als kleines Geschenk von mir anzunehmen.
"Dafür haben sie ein Essen gut!" ist ihre einfach Antwort.
Es ist gut, daß ich nicht weiß, wie froh ich um dieses Angebot
noch einmal sein werde...
Nun bin ich wieder auf dem Weg nach Githio zu unserem
Rendezvous. Es ist doch fast eine Dreiviertelstunde, die ich zu spät
komme. Als der Kreisverkehr ins Gesichtfeld gleitet, bin ich erleichtert,
Alice dort sitzen zu sehen. Fröhlich stelle ich Akbar neben ihrer
TDM ab und gehe zu dem Tischchen. Auf dem Weg winke ich dem Kellner, der
alle Leute kennt, zu und mache die mittlerweile als Geheimzeichen zwischen
uns etablierte Handbewegung für den Frappée.
"Hallo!" begrüße ich Alice gut gelaunt.
"Hi." Die Kürze und der Tonfall machen mich sofort aufmerksam.
Aha, offenbar ist sie doch etwas sauer, verstehe ich ja.
"Du, es tut mir leid..." beginne ich. Sie fällt mir ins
Wort:
"Weißt Du eigentlich, wie lang ich hier schon warte?"
"Ja, Alice, es sind ziemlich genau fünfzig Minuten. Es tut mir
leid. Laß es mich dir erklären."
"Du hättest wenigsten anrufen können."
"Ja wie denn?"
"Es gibt doch auch hier Telefonbücher." Na ja, da hat sie
schon recht. Aber das ist hier komplizierter wegen der Sprache und außerdem
- es ist doch Urlaub und da läuft doch ohnehin alles weniger hektisch
als sonst. Und in dem Café ist sie ja gut aufgehoben, zu lesen
hat sie ja auch meistens etwas mit.
"Ja, schon... aber ich dachte, daß das ja jetzt und hier im
Urlaub nicht so schlimm wäre und so..."
"Das war genau eine der Eigenschaften, die mein Ex hatte. Der war
immer unpünktlich und unzuverlässig. Wenn ich etwas sagte, dann
war immer ich diejenige, die pingelig und kleinkariert ist. Ich kann das
nicht ausstehen!" Über die Heftigkeit bin ich richtig erschrocken.
"Alice, es tut mir wirklich leid. Wenn ich gewußt hätte,
wieviel dir gerade daran liegt, dann wäre ich zuerst hergefahren,
bevor ich das andere gemacht hätte. Telefon - na ja, weißt
du, das ist hier doch etwas kompliziert. Die Vermieter waren auch nicht
zu Hause..."
"Vorne bei dem kleinen Laden hättest du sicher telefonieren
können!"
Ich gelange zu dem Schluß, daß es in der jetzigen Situation
wohl besser ist, nicht mehr zu argumentieren, sondern ein wenig abzuwarten,
bis sich die Wogen von selbst glätten. Nie im Leben hätte ich
diese Reaktion von Alice erwartet. Von ihr, die doch immer so über
den Dingen steht.
"Ok, dann reden wir eben später darüber," versuche
ich einen Übergang einzuleiten. Aus dem Augenwinkel sehe ich gerade
noch, wie Alice eine Bemerkung herunterschluckt.
"Hast du dir schon Gedanken gemacht, was du heute gerne machen würdest?"
"Am liebsten einmal eine ganze Strecke fahren" grummelt sie.
"Fein." ich versuche eine passende Mischung von nicht allzu
großer Unbekümmertheit und doch auch nicht zu großer
Zerknirschtheit zu finden. Die Karte hatte ich ja schon in der Hand, so
breite ich sie aus und beuge mich darüber. Alice nimmt nicht mit
ihrer üblichen Lebhaftigkeit teil, sondern sitz nur steif in ihrem
Sessel. Einmal merke ich, daß sie ansetzt, etwas zu sagen. Ich wende
mich ihr zu, aber sie winkt nur kurz ab und meint "Ach nichts."
Schade um die dicke Luft an diesem schönen Tag. Während ich
die Straßen und die Gegend so studiere, denke ich, daß es
wohl am besten wäre, wenn wir zuerst mal eine ganze Weile fahren,
dann vielleicht eine kurze Rast und dann noch mal eine Strecke. Vielleicht
ist ihr Groll dann verraucht.
"Magst du schauen?" muntere ich sie auf. Leicht widerwillig
beugt sie sich herüber.
"Wie sieht es bei dir mit dem Sprit aus?"
"Sollte bald tanken."
"Ok, dann tanken wir gleich vorne noch in Githio. Also zu dem Vorschlag:
Wir fahren links weg in Richtung Sparta. Dort dann wiederum links über
den Taigetos, die Strecke bin ich ja damals mit Robert und Michael gefahren,
allerdings in der anderen Richtung und du kennst sie noch nicht. Sie ist
sehr schön. Auf der Westseite ist dann eine kleine Taverne, da können
wir Halt machen. Anschließend fahren wir weiter über Kalamata
und suchen uns in Kardamili oder Stoupa was Nettes zum Mittagessen. Ist
dir das so Recht?"
"Gut." Sie winkt dem Kellner. Auch er merkt ihre Übellaunigkeit,
wirft mir einen schrägen Blick zu, wobei er leicht den Kopf vorschiebt,
die Mundwinkel senkt und die Augen etwas größer macht. Ich
zucke unmerklich die Schultern, in der Hoffnung, daß es Alice nicht
bemerkt. Natürlich bemerkt sie es: "Du brauchst gar nicht so
mit den Schultern zu zucken, als ob du nicht wüßtest, was los
ist!" Die Andeutung eines himmelwärts gerichteten Blicks sieht
sie zum Glück nicht, der Kellner schon und er schmunzelt leise. "Antio"
- "Jassu"
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- 2 -
Es ist also die selbe
Strecke wie gestern, mit der wir unseren Tag beginnen. Allerdings wie
unterschiedlich sind die Voraussetzungen. Wieder verquirlt die Luft unregelmäßig
blubbernd hinter dem Windschild und schlägt mir ohne erkennbare Regel
ins Gesicht. Aber sie hat nicht die selbe aufmerksame Zuwendung meinerseits
wie gestern. Da mir die Strecke bekannt ist und sie bis Sparta ohnehin
nicht extrem viel hergibt, begebe ich mich sofort zu meinen Gedanken,
das eben Erlebte betreffend. Daß Alice vorausfährt ist da nur
fördernd.
Was war nun der eigentliche Auslöser gewesen? Während
ich es als völlig normal erachtet habe, schnell diese kleine Sache
zu erledigen, ist es offenbar für Alice ein dramatischer Fauxpas
meinerseits gewesen. Wo steckt das Problem? Bei ihr? Bei mir? Hätte
ich anrufen sollen? Überreagiert sie? Die Landschaft gleitet vorbei,
die Straße ist breit und auch recht gut. Wir rollen mit etwa achtzig
Kilometer pro Stunde dahin. Kein Wolke am Himmel. Links der ehrfurchtgebietende
Wall des Taigetos. Ehrfurchtgebietend speziell dann, wenn man schon in
den Falten seines Mantels verweilen durfte und so hautnah seiner Wucht
und Macht begegnet war. Da kommt mir, keine Ahnung weshalb, Alices Ausführung
zur Beweglichkeit in den Sinn. Kann es sein, daß hier auch zu wenig
Beweglichkeit im Spiel ist? Meinerseits, als ich daran hätte denken
sollen, daß für sie vielleicht Pünktlichkeit sehr wichtig
ist? Wie das ja durchaus in unseren Breiten üblich ist? Oder ist
es Starrheit ihrerseits, daß sie annimmt, ich hätte es aus
Rücksichtslosigkeit oder Unzuverlässigkeit ihr gegenüber
getan? Wohl ein wenig von beidem. Denn so gut kennen wir einander nun
auch wieder nicht. Wir hatten offenbar beide unsere Erwartungen, wie der
andere reagiert.
Wir
fahren eine Gerade entlang und in gleichmäßigem Abstand über
Sonnenasphalt und Schattenflecken der flankierenden Bäume. Aus unerfindlichen
Gründen finde ich es geradezu unverständlich, daß man
nicht einen kleinen Hüpfer macht, wenn man in den Schatten hinein
oder aus ihm herausfährt. Was einem manchmal so durch den Kopf geht.
Er-wartung. Sie Silbe 'Er' als Synonym für das Gesetz, den Schöpfer.
'Warten' ist eindeutig passiv. Die törichten Jungfrauen kommen mir
in den Sinn. Sie warteten auf den Er, fünf vorbereitet, fünf
nicht. Ich deute das einmal so, daß man erst dann in Ruhe 'warten'
kann, wenn man entsprechend vorbereitet ist, seinen Teil erledigt hat.
Ja, das stimmt auch wieder mit dem Rhythmus der Aktivität und Passivität
zusammen. Warten an sich ist ja nichts Schlechtes. Es ist, im Gegenteil,
sogar sehr wichtig, auf etwas warten zu können.
'Erwartung' ist auch ein wichtiger Begriff in der Rollentheorie, erinnere
ich mich, und verweist darauf, daß geordnetes Verhalten in einer
Gesellschaft nur möglich ist, wenn die anderen Menschen in ihrem
Verhalten den eigenen Erwartungen entsprechen, aber man selbst auch den
Erwartungen anderer entspricht. Hmm... Reform oder gar Revolution bedeuten
eine Veränderung oder sogar völliges Umstülpen von Erwartungen.
Aber eben. Diese unsere Gesellschaft ist ja ohnehin nicht unbedingt das
Gelbe vom Ei, in den Grundfesten eine Nehmer-Gesellschaft und in dieser
Wurzel ist ja schon der Wurm. Nur eine starre Gesellschaft braucht definierte
Haltungen, die man dann wiederum erwarten kann, um sich in Sicherheit
zu wiegen. Wäre statt zementierter Regeln und Gesetzte eine auf die
Schöpfungsgesetze ausgerichtete Ethik die Grundlage unserer Gesellschaft,
so gäbe es keine Erwartungen, weil ja jeder im Einklang dieser all-einen
Ethik handeln würde. Er-warten kommt mir überhaupt als Widerspruch
vor. Das Er muß man doch suchen, sich erarbeiten. Man kann nicht
darauf warten, daß es zu einem kommt. Sollte ich da über einen
Denkfehler in den Grundfesten unserer Gesellschaft gestolpert sein? Oder
selbst einen haben? Wie schade, daß Alice schmollt. Aber vielleicht
vergeht das ja wiederum bald.
Zu der Erwartung gehört automatisch auch die Enttäuschung,
folgere ich weiter. Jetzt überhole ich auch schnell den Lastwagen
und schließe wieder zu Alice auf. Wenn ich nichts erwarte, dann
kann ich folglich auch nicht enttäuscht werden. Klingt auf den ersten
Blick logisch, finde ich. Da erinnere ich mich, einmal gelesen zu haben,
daß Enttäuschungen auch oft ein Auslöser für verschiedenste
Krankheiten sind. Man solle deshalb eine positive Erwartungshaltung einnehmen,
so heißt es. Irgend etwas spießt sich hier, keine Frage. Wieder
und wieder geht mir das Wort 'erwarten' durch den Kopf. Die klugen und
die törichten Jungfrauen. Erstere konnten in Ruhe erwarten. Für
letztere war es ein Todesschlaf. Ich drehe und wende, aber es wird nichts
Gescheites daraus. Um zu irgendwelchen Ergebnissen zu kommen brauche ich
immer Auseinandersetzung, am liebsten mit einem Menschen, dessen Gedanken
ähnlich laufen. Zwischen meinen Überlegungen ziehen ständig
Wolken durch mein Gemüt, die Disharmonie macht mir doch ziemlich
zu schaffen. Zwar bin ich froh, daß ich das Thema zur Ablenkung
gefunden habe, aber wie viel schöner wäre es jetzt ohne diese
Trübung.
Wir erreichen Sparta und es dauert auch nicht lange, bis
wir Mystras links liegen gelassen haben und uns in den Taigetos hinaufwinden.
Ganz anders wirkt zu dieser Tageszeit und in dieser Richtung der Weg.
Aber nicht minder beeindruckend! Auf dem Parkplatz, wo Robert, Michael
und ich damals Halt machten, bleiben wir nun stehen um unseren Gliedern
ein wenig Abwechslung zu gönnen. Mein erster Blick gilt der Mimik
Alices, als sie ihren Helm abnimmt. Es sieht fast so aus, als ob die Wolke
im Abzug wäre. Ich spreche sie aber nicht darauf an, sondern strecke
mich ganz ausgiebig und unverfänglich. Erst als sie sich doch schon
etwas begeisterter über die wuchtige Kulisse äußert, stimme
ich ihr zu, nicht zu erfreut aber auch nicht zu beiläufig und hoffe,
das passende Maß zu erwischen. Als ich merke, daß sie doch
recht entspannt zu sein scheint, werfe ich alle Vernunft über Bord,
gehe zu ihr, nehme sie in den Arm, drücke sie und sage ihr leise,
daß es mir leid täte, so unachtsam gewesen zu sein. Fast unmittelbar
spüre ich, wie sie ihre Arme um mich legt und ahne mehr, als ich
es höre "Es tut mir doch auch so leid... ich hab mir nur solche
Sorgen gemacht... ich weiß, das war blöd..." Und so kommt
es zum ersten Kuß, den ich auf diese Weise nie erwartet hätte.
Ja, der Tag des Unerwarteten...
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- 3 -
Als wir nach einer Weile
wieder unsere Motorräder erklettern, ist es, als ob jemand einen
Eimer mit rosa Farbe über den Taigetos ausgeleert hätte. Nein,
das ist natürlich Blödsinn, es hüpft schlicht und einfach
alles in mir. Gut, daß nicht ein Bus mit Touristen ebenfalls den
Parkplatz besiedelt, sonst hätte ich vermutlich jeden Insassen einzeln
umarmt. So ist das diesen fiktiven Armen erspart geblieben. Das Thema
Erwartung ist vorderhand in die hinterste Schublade gewandert. Eigentlich
wandert alles dorthin, denn vorne hat zur Zeit nur Alice Platz. Und so
schlafwandle ich den Taigetos hinan, zwinge mich, bewußt die Gegend
wahrzunehmen - und davon gibt es jede Menge. Irgendwann haben wir dann
den Rücken erklommen und rollen jenseits wieder hinunter. Die Strecke
zieht sich und so dauert es doch eine ganze Weile, bis drüben in
der Nähe von Artemisia die winzige Taverne vom letzten Mal am Straßenrand
in unser Blickfeld gelangt. Ich muß mich sehr zusammennehmen, Alice
nicht sofort auf die Pelle zu rücken. So setzen wir uns sittsam an
eines der beiden Tischchen und trinken diesmal einen Cafè Elleniko,
den man ja nie laut als 'türkischen' Kaffee bezeichnen darf, möchte
man nicht eines gewaltsamen Todes sterben. Außerdem frischen wir
unsere Vorräte mit dem wohlschmeckenden Wasser auf, das es hier nahezu
überall in den typischen blauen Flaschen zu kaufen gibt.
Seltsamerweise
habe ich Hemmungen Alice in irgendeiner Art zu berühren, es ist wie
eine Angst, mich doch geirrt zu haben. Wir reden nicht viel, beobachten
nur die wenigen Autos, die vorbeifahren, den älteren Griechen, der
mit dem Mädchen aus dem Laden am anderen Tisch sitzt und sich unterhält.
Wieder einmal tut es mir leid, die Landessprache nicht zu beherrschen,
es wäre so schön, sich zumindest ein wenig mit den Leuten verständigen
zu können.
Nach nicht allzu langer Zeit brechen wir auf. Da wir uns
recht früh verabredet hatten, fällt die durch mich entstandene
Verspätung nicht zu allzu sehr ins Gewicht. Es ist noch nicht einmal
Mittag. Nach der Spitzkehre geht es nach Westen durch ein Tal, die Straße
schlängelt sich am Berg entlang und sinkt teilweise fast unmerklich.
Irgendwann erreichen wir Kalamata, das mir zwar heute besser, aber trotzdem
nicht wirklich gut gefällt. In dieser Richtung findet man gut hindurch
und bald entläßt uns die Stadt nach Süden.
Nach einer nicht allzu langen Küstenfahrt, entlang an einem schier
endlosen Badestrand, geht es ins Landesinnere, bald danach bergauf. Diese
direkte Durchquerung der herunterhängenden Halbinsel ist doppelt
reizvoll. Einerseits wird mit jedem Höhenmeter die Aussicht schöner,
andererseits verleitet guter Asphalt dazu, sich aufs Kurvengenießen
zu verlegen. In einer schönen abwechselnden Mischung von beidem gelangen
wir auf den Sattel, um uns dann mit weiter Südsicht nach Kardamili
hinunterzuschlängeln. Es ist das erste Dörfchen wieder am Meer
und ich bin mir sicher, hier etwas Nettes zu finden. Im Ort biege ich
beim einem Gäßchen aufs Geratewohl rechts ab. Es ist still,
man merkt, daß die Hauptsaison mit ihrem Rückzug auch gleich
die Touristen mitgenommen
hat. Nach zwei weiteren Vorstößen zum Meer, die allerdings
außer Steinen und Wasser nicht viel gebracht haben, rollen wir ein
Schottergäßchen entlang, ein Schild taucht auf 'Lelas Taverne'.
Keine Ahnung warum, aber es kommt mir ungeheuer sympathisch vor, fast
fühle ich mich wie zu Hause. Ich komme gar nicht auf die Idee, daß
es vielleicht nicht schön sein könnte, obwohl man kaum etwas
erkennen kann, da Büsche und das Haus die Sicht verdecken. Wir stellen
unsere zwei Gefährte hintereinander ab, kopflos bleiben die Helme
auf den Rückspiegeln hängend zurück.
Nur wenige Schritte über knirschenden Kies und meine
Begeisterung kennt kaum Grenzen! Links tut sich eine kleine Terrasse auf,
von wildem Wein in duftigen nachmittäglichen Schatten getaucht. Alles
wirkt zierlich. Die Blätter über uns und die dünnen Pfosten,
welche die Laube halten, die vielen Blumentöpfe mit verschiedensten
Kräutchen und Blüten und ein paar schlichte, trichterförmige
Lampen. Die eisernen Stühle und Tische stehen ungeordnet und grazil
umher und unterstreichen mit ihrer Körperlosigkeit die Leichtigkeit
der Atmosphäre. Der Boden ist hier aus Holz, so macht er durch seine
Geschlossenheit alles noch gemütlicher. Hinter dem gut kniehohen
Mäuerchen ist noch eine zweite schmale Terrasse zu erkennen und dann
glitzert und glänzt in seiner vollen Pracht bereits das Meer, wirft
die strahlenden Sonne in tausendfach hüpfendem und funkelndem Freudentanz
zu uns empor. Schon an einem ganz normalen Tag müßte einem
das Herz übergehen, aber das ist nun fast ein wenig zu viel. Ganz
vorsichtig, um ja nichts zu zerstören, setze ich mich gleich am Eingang
auf die niedrige Mauer, um alles unauslöschlich aufzusaugen. Ich
sitze nur, versuche jeden Gegenstand auswendig zu lernen. Die vielen Blumentöpfe,
die am Fuß aller Pfosten stehen, ich bin mir nicht sicher, ob sie
ihnen Halt geben möchten oder sich an sie lehnen. Den nicht ganz
geschlossenen Fensterladen, der die Nachmittagssonne bittet, den Raum
dahinter nicht zu überhitzen. Die unregelmäßige Linie
aus Steinen, die nahe am Haus die Andeutung eines Beetes locker einfriedet.
Die kleinen roten und gelben Blüten, die immer wieder überall
zwischendurch leuchten. Und über allem dieses wunderbare durchbrochene,
impressionistische Licht, ein unbeschwertes Muster von Schatten und Helle,
das vor nichts Halt macht und kompromißlos alles mit stiller Fröhlichkeit
überschüttet. Ganz sachte hat Alice sich schräg hinter
mir auch niedergelassen. Nach einer Weile spüre ich ihren Arm um
meine Mitte und kurz darauf Ihren Kopf an meiner Schulter. Ganz leise
weht ein zarter Geruch aus ihrem Haar, umtanzt mich ein wenig, um sich
dann auf das Meer hinaus zu verlieren. Ja, es sind welche jener Minuten,
von denen man wünscht, daß sie nie zu Ende gehen mögen.
Vorsichtig suche ich nach der zweiten Hand von Alice, sie kommt mir auf
halbem Weg entgegen. Ganz leicht, kaum spürbar, leise, langsam und
jeder Veränderung nachspürend wandert einmal ein Finger über
ihren, um dann ruhend zu erleben, wie ihre die Unebenheiten meines Handrückens
erforschen. Die Zeit steht still... absolut still. Hie und da dringt das
träge rauschende Wischen der Wellen über die Steine unten an
mein Ohr. Ein Vogel. Stille. Das einzige, was nicht still und ruhig ist,
ist das Blut, das einmal hier und dann dort pocht und in der Brust eine
ziemliche Unordnung anrichtet.
Es
dürfte nicht wenig Zeit gewesen sein, seit dem wir uns hierher gesetzt
haben, denn mein Knie, das vorher noch im Schatten war, brennt nun in
seiner Unbeweglichkeit heiß in der Sonne. Behutsam drehe ich mich
zu Alice um, ihre Augen sind wie dunkle, schimmernde Seen, in die ich
mühelos eintauchen und mich darin verlieren könnte. Wir stehen
stumm auf und gehen zu einem Tischchen in der Mitte der Terrasse mit dem
Holzboden. Bis jetzt war niemand zu sehen gewesen. Doch nun, urplötzlich
- oder hatte ich sie vorher nicht wahrgenommen? - kommt eine junge Frau
aus dem Haus. "Jassas!"
Wieder tut es mir leid, die Sprache nicht zu beherrschen. So versuche
ich, die wenigen bekannten Brocken zu einer Bestellung von Griechischem
Salat und etwas zum Trinken zusammenzustoppeln. Viel Wasser und etwas
Retsina. Die junge Frau antwortet mir in ihrer Sprache. Leicht beschämt
muß ich ihr auf englisch gestehen, daß ich das nicht verstanden
habe und die Bestellung so ziemlich mein einziges Griechisch war. Sie
lacht daraufhin und meint, daß ich die Order sehr gut gesagt hätte.
Das freut mich natürlich dann trotzdem. Nachdem sie im Dunkel der
Türe im Haus verschwunden ist, legt Alice ihre Hand auf meinen Arm.
"Ich möchte dir danken..."
"Um Himmels Willen - wofür?"
"Dafür, daß du nicht sauer warst, weil ich so zickig gewesen
bin."
"Du liebe Zeit! Erstens hast Du ja recht gehabt. Da ich dich noch
nicht genauer kenne, hätte ich in diesem Fall ja wirklich vorher
kommen können. Und andererseits... ich mag dich doch! Wie könnte
ich da böse sein?"
Sie streicht mir nur zart über die Wange und schaut aufs Meer hinaus.
Ohne mich anzublicken sagt sie "ich glaube, ich bin glücklich...
ja, wirklich glücklich..."
Es hätte blöd geklungen, wenn ich das auch gesagt hätte,
so atme ich tief durch, schweige und drücke ihre Hand. Die junge
Griechin stellt unsere Getränke auf den Tisch, lächelt freundlich
und ist auch schon wieder verschwunden. Wir sitzen eine ganze Weile, ohne
ein Wort zu sprechen. Da ist es Alice die zu sprechen beginnt.
"Ich hab mir überlegt, was der wirkliche Beweggrund war, daß
ich so enttäuscht war, als du nicht gekommen bist." Sie nimmt
einen Schluck Wasser, den Wein haben wir noch nicht angerührt.
"Normalerweise wäre ich wirklich sauer gewesen, denn mein Ex-Freund
hatte so eine grausame Unzuverlässigkeit. Wie oft hat er mich tatsächlich
in einem Café sitzen lassen, ist eine Stunde zu spät gekommen
oder hat es manchmal sogar ganz vergessen. So wurde ich im Lauf der Zeit
auf diese Eigenschaft immer allergischer. Aber es war nicht nur das, sondern
ich hatte wirklich auch Angst, daß etwas passiert wäre. Ist
absolut blöd, denn es ist mir völlig klar, daß man aber
auch gar nichts mit Ängsten ändern kann, im Gegenteil. Aber
darüber haben wir ja schon gesprochen. Nein, es war wie eine Verzweiflung,
daß du nicht kommen könntest. Vielleicht habe ich mich da über
eine Art Abhängigkeit geärgert, die ich in mir aufsteigen sah."
"Abhängigkeit?"
"Na ja, das klingt für dich vielleicht seltsam. Aber ich möchte
eines nicht: In irgendeiner Weise oder von irgend etwas abhängig
sein."
"Würdest du das wirklich als 'abhängig' bezeichnen? Ich
kann mich doch auch nur freuen, aber ich muß davon ja nicht süchtig
werden. Oder verstehe ich dich irgendwie falsch?"
"Ach ja, ich glaube, daß ich da einen Vogel habe," seufzt
sie und läßt den Kopf hängen.
"Laß uns doch auf diesen Traumtag anstoßen," schlage
ich nach einer kurzen Pause vor und nehme mein Glas Retsina in die Hand.
Sie blickt auf, ein Lächeln wischt ihren bekümmerten Gesichtsausdruck
weg.
"Du hast recht! Der Tag ist wirklich zu schön, um ihn mit so
beschwerenden Gedanken zu trüben!" Kurz hängt das Zusammenstoßen
der Gläser in der Luft, kein sonderlich klangvolles Geräusch,
es sind ja auch keine speziellen Gläser, aber ich kann mich an kaum
ein schöneres erinnern. Und nun kommen auch schon die zwei Schüsseln
mit dem Salat, ich entdecke sofort ein paar Kapern und bin begeistert.
Auch ein großer Korb mit weißen Brot steht gleich auf dem
Tisch. Wortlos stürzen wir uns auf den Salat, lediglich ein paar
begeisterte 'Mmmhhh' sind zu hören.
Nach
Abklingen der ersten, fast wäre ich geneigt zu sagen 'animalischen'
Lust, kommen mir die Gedanken, die ich mir auf der Fahrt nach Sparta gemacht
habe, mir wieder in den Sinn.
"Alice?"
"Hm?"
"Weißt du, was mich in diesem Zusammenhang beschäftigt?"
"In welchem? Kapern? Feta? Tomaten? Gurken?" ich muß laut
lachen.
"Nein, ich sag eh schon nichts mehr, sonst bekommst du noch den Eindruck,
daß ich immer herum-philosophieren muß."
"Hey! Wer A sagt, muß auch B sagen! Außerdem weiß
ich das eh, ist ja nix Neues!" grinst sie. "Also?"
"Macht dir wirklich nichts aus?"
Sie spielt entrüstet: "Na, da solltest du mich ja mittlerweile
kennen!"
"Also. Es kam mir in den Sinn, daß es ja nur Erwartungen sein
können, die einen dazu bringen, daß man in jeder Situation
- würd' ich mal sagen - enttäuscht reagiert. In unserem Fall
dachte ich mir, daß du vielleicht von mir enttäuscht warst,
da du eben mit deinem ehemaligen Freund diese Erlebnisse hattest. Andererseits
erwartete ich, daß du dir ohnehin keine Gedanken machst, weil du
ja nicht annimmst, daß einfach etwas 'zufällig' passiert. Beide
waren wir aufgrund unserer Erwartungen enttäuscht. Du, daß
ich nicht gekommen bin und ich, daß du so darauf reagierst. Ich
glaube, Erwartungen sind überhaupt etwas, das jede Menge an Leid
und Mißverständnissen erzeugt."
"Hmm... das klingt ja schon einleuchtend. Ich meine das mit Erwartung
und Enttäuschung..." sie bricht ein Stück Brot ab. "Aber
deswegen so gar keine Erwartungen zu haben? Was ist den mit der 'positiven
Erwartungshaltung', mit der man ins Leben wandern soll?"
Eine besonders gelungene Mischung aus Tomate, Feta und Weißbrot
wandert in meinen Mund.
"Es ist doch genau die positive Erwartung, die Enttäuschungen
hervorruft, oder? Wollte man Enttäuschungen meiden, so wäre
der logische Schluß, müßte man Negatives Erwarten, um
dann positiv überrascht zu werden? Und das wäre doch erst recht
ziemlicher Unfug."
"Und wie ist es mit den Eigenschaften und Verhalten, die man von
jemandem erwarten kann? einigermaßen gutes Benehmen, Ehrlichkeit,
Höflichkeit?"
"Was bringt dir dieses erwarten? Doch auch wieder Enttäuschung,
wenn es nicht eintrifft. Günstigstenfalls könnte man einräumen,
daß Erwartung Sicherheit bringt, man rechnen kann, daß ein
Mitteleuropäer sich so oder so verhält. Aber habe ich diese
Sicherheit tatsächlich? Was ist, wenn sich jemand nicht darum schert?
Wenn ich es von vorneherein nicht annehme, bin ich nicht vor den Kopf
gestoßen."
Diesmal zwei Gurkenscheibchen, ein Salatblatt und ein Stück Weißbrot.
"Dazu kommt ja, daß Erwartungen in unterschiedlichen Gesellschaftsklassen
und Kulturen grundverschieden sein können. Bei uns erwartet man,
daß jemand beim Essen nicht rülpst. In anderen Ländern
ist es ein Zeichen des Wohlbefindens. Hier erwartet man, daß der
Teller Ratzeputz leer gegessen wird, wenn nicht, dann hat es nicht geschmeckt.
Dort bedeutet es, daß man nicht satt geworden ist, wenn man alles
völlig leer ißt. Egal, wie man es dreht, ich finde, man handelt
sich keinen Nachteil ein, wenn man Erwartung durch Flexibilität ersetzt."
Alice hat zwischenzeitlich weitergegessen und so einen guten Vorsprung
erwirtschaftet.
"Erwartung ist die Ursache für Enttäuschung." wiederholt
sie nun langsam. "So betrachtet gibt es also keine positive Erwartungshaltung.
Daß negative nichts gutes bringen kann, darin sind wir uns ja einig.
Ja, es scheint wirklich was dran zu sein. Nur, weißt du, der Begriff
'Erwartung' ist einfach so etabliert, daß es mich umhaut, wenn ich
daran denke, daß er eigentlich gar nicht in Anwendung kommen sollte."
"Zumindest in der gewohnten Art. Genau das dachte ich mir auf der
Fahrt auch einmal. Dann kam mir das Gleichnis mit den klugen und törichten
Jungfrauen in den Sinn. Sie erwarteten den Bräutigam. Das finde ich
nun wieder eher schlüssig. Und schließlich begann ich das Wort
zu hinterfragen."
"Er-warten..." sinniert sie. "Für mich schwingt in
der Silbe Er, Gott. Heißt es dann also 'auf das Gesetzmäßige
warten?"
"Ich
weiß nicht so recht..." Nun sitzen wir beide da und denken
nach. Und ganz langsam beginnt es sich zu verdichten. Erwarten bedeutet
das Hinnehmen dessen, was Er uns bietet.
"Ich glaub, ich komm dem ganzen näher!" Ich werde ganz
kribbelig. "Erwarten ist das Annehmen der Gesetze. Zuerst tun wir
etwas um dann zu er-warten, was zu uns zurück kommt! Das einzige,
das wir 'erwarten' können, ist die Folge unseres Tuns! Wir sagen,
denken, tun etwas und dann erwartet uns die Wechselwirkung. Wie findest
du das?"
"Oh, ja..." kommt es nach einer kurzen Weile, zuerst zögernd
nachdenkend, dann immer sprudelnder. "Weißt du noch über
den Kreislauf der Dinge? Wir tun etwas, damit haben wir die erhaltene
Kraft gelenkt und sie strebt von uns weg. Sie ist wieder in einen Kreislauf
gegangen, um dann in gleicher, verstärkter Art zu uns zurückzukommen.
Dieses Zurückkommen können wir erwarten. Nein, wir müssen
es erwarten, denn es dauert auf jeden Fall! Wir müssen warten, bis
das 'Er' zu uns zurückkommt, bis es laut seinen Gesetzen zurückkommt!"
"Danach wäre 'erwarten' richtig angewendet, wenn wir z.B. sagen,
'wir erwarten die Folgen unsres Handelns'."
Da kommt mir nochmals die 'positive Erwartungshaltung' in den Sinn, das
hätten wir ja noch nicht geklärt. Ich sage meine Gedanken Alice.
"Wenn man es so betrachtet," schließe ich, "dann
muß es ja etwas ganz anderes sein, mit dem wir uns auf die Gegenwart
und Zukunft orientieren sollen."
"Ja, wirklich, es ist ja echt arg, wie man ganz automatisch Aussagen
übernimmt, ohne sich über deren Sinn Gedanken zu machen. Es
ist nicht Erwartung, positive, die wir in die Zukunft schicken, sondern
wir schicken positive Energie aus!"
"Ja, so ist es, glaub ich auch! Es ist schlicht und einfach Seinsfreude!
Keine auf irgend etwas gerichtete Erwartung, sondern eine ganz neutrale
Freude! Die richtet sich sogar, genau genommen, gar nicht auf die Zukunft,
sondern nur die Gegenwart! Und wiederum: Im Hier und Jetzt leben!"
"Das ist unwahrscheinlich spannend!" Alice jauchzt fast, beugt
sich herüber und pappt mir einen Kuß mitten auf den Mund, leicht
ölig, begleitet von dem gleichen Dufthauch ihrer Haare wie vorhin
auf der Mauer. "Und ich finde es überhaupt nicht langweilig,
wenn du philosophierst, es sind doch so tolle Erkenntnisse, auf die wir
auf diese Weise kommen!"
"Ich empfinde es immer wie eine Erleichterung, einem Rätsel
auf die Spur gekommen zu sein. Jedesmal fühle ich mich danach ein
wenig leichter und ich habe auch die Erfahrung gemacht, daß sich
jedesmal auch das Leben ein wenig leichter lebt und man sich ein wenig
leichter tut, seine Vorsätze auch umzusetzen."
Während ich gesprochen habe, ist mein Blick auf dem glänzenden
und funkelnden Meer gelegen. Ruckartig, keine Ahnung, warum, wende ich
mich Alice zu. Was habe ich eben gesehen? Habe ich mich getäuscht?
War da ein Schatten von Traurigkeit auf ihrem Gesicht gewesen? Jetzt strahlt
sie jedenfalls. Nein - ich muß mich doch geirrt haben.
Die kommende Stunde plaudern wir über alles Mögliche.
Immer wieder gibt es irgend einen Grund, sich wie zufällig zu berühren,
die Hand auf dem Arm des anderen ruhen zu lassen. Die Sonne ist auf diese
Weise schon mächtig weitergewandert, Wein und Wasser haben Zuwachs
bekommen und sind ebenso auch wieder in uns verschwunden. Schließlich
möchte ich zahlen, Alice besteht aber darauf, es zu tun und ich frage
die junge Frau, ob es stimme, daß sie Zimmer zu vermieten habe.
Nein, meint sie, das wäre nebenan. Und so komme ich erst jetzt dahinter,
daß dies hier gar nicht Lela's Taverne ist.
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