Die Journey

Wenn du zum Lesen ständig links und rechts scrollen mußt, dann klick hier drauf!14 - Feigenballade

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Heute liebt die Sonne alles ganz besonders. Fürsorglich breitet sie ihr wärmendes Gewand über Meer und Land, schickt ihre zarten Strahlenfinger in die entlegensten Ritzen, vorausgesetzt, sie wollen das auch und flüchten sie nicht. Der Vorhang vor meinem Fenster bauscht sich ein wenig vor einem Windhauch und schon nützt ihr blitzendes Gefieder die Gelegenheit, flink durch das Zimmer zu hüpfen. Ich blicke auf die Uhr. Trotzdem es gestern doch heute wurde - und das nicht zu wenig - bin ich ausgeschlafen, auch wenn der Sonnenball noch recht oval am tiefen Horizont hängt.
Wir haben uns für heute wieder für eine Tour verabredet. Durchs Delta des Evrotas, über die Berge an die Ostküste des rechtesten der drei Finger nach Monemvasia. Zum Auftakt haben wir uns im Kaffee im Kreisverkehr verabredet, um dort den Tag mit einem Frappée glyco zu beginnen. Auch Alice ist ausgelassen und fröhlich, uns kommt alles lustig und beschwingt vor. Der Mann mit dem Moped, der vor sich das kleine Kind stehen hat, das sich todernst am Lenker festhält, als wäre ihm damit eine gewichtige Aufgabe übertragen. Das ältere Ehepaar, von dem man alles andere erwartet hätte, als daß sie bewundernd über Akbar diskutieren - ich merke, wie gut ihm das tut. Oder die Rucksacktouristin dort drüben nahe dem Wasser, die mit einer Unzahl an Blumentöpfen unterwegs ist. Woher? Wohin? Warum?
Bevor wir uns auf den Weg machen, gehe ich zu dem Obstgeschäft hinüber, um nachzusehen, ob sie frische Feigen haben. Haben sie nicht. Haben sie nirgends. Fragt mich nicht warum, aber obwohl es hier massenweise Feigen gibt - kaufen kann man sie fast nirgends. Bald werden wir jedoch nervös, es zieht uns zu unseren Mopeds, wir sitzen auf und rollen aus der Stadt in Richtung Osten hinaus. Diesen ersten Teil der Strecke kenne ich mittlerweile schon recht gut. Die Kurven am Ufer entlang, dem Githio-Schiff, die leicht öde Strecke durch das Flachland. Hinter Vlachiotis wird es wieder kurvig, da taucht ein kleiner Obststand am Straßenrand auf. Zweiter Feigenversuch und, welch Überraschung! - hier gibt es wirklich welche. Grün, aber schon weich, ein Genuß! Kalimera! Ich suche mir etwa ein Kilo aus und stecke sie in die dargebotene Plastiktüte. Efcharisto. Dankeschön. Parakalo. Auf Wiedersehen! Jassas. Sie ruhen nun in meinem Sattelkoffer neben dem Fotoapparat. Ganz kann ich mich nicht beherrschen und verdrücke schnell noch drei, vier. Dann fahren wir weiter. Es ist die gleiche Strecke, die ich damals genommen habe, als ich mich auf den Weg zu meiner vermeintlichen Trauminsel gemacht habe. Die langen Geraden auf dem Hügel vor Molai nehmen Akbar und Kollegin in weiten, ausladenden Sprüngen. Wie Fabelwesen huschen sie über das Asphaltband und es kommt mir, wie so oft, wenn der Wind um den Kopf streicht, vor, als ob Fuchur, das freundliche Luftwesen aus der Unendlichen Geschichte neben mir durch dir klare Luft tanzt.

Metamorphosis. Was für ein Namen für einen Ort! Man könnte sich fragen, was dort vor sich geht. Verfliegt die Zeit schneller? Wird Wasser zu Wein, Steine zu Gold? Esel werden jedenfalls nicht glücklich. Er steht halb auf der Straße, in der prallen Sonne angebunden, kugelrund von vorne, ein Wunder, daß die dünnen Beinchen ihn im Gleichgewicht halten können. Aber irgend etwas hat es, dieses Dörfchen am Fuße des Berges. Schon auf der Landkarte. Drei Straßen führen schnurgerade hin, man kann es nicht übersehen. Wenn man dann drinnen ist - hin kommt man ja problemlos - dann spielt es seine Karten aus. Metamorphosis wechselt sein Kleid und wird zum Labyrinth. Dreimal fahre ich im Kreis, bis ich die Ausfahrt hinauf auf den Berg entdecke. Die drei Alten vor der Taverne am Dorfplatz und Alice werden sich ihren Teil dabei gedacht haben. Jetzt jedenfalls geht es kurz bergan, in der scharfen Linkskurve oberhalb des Ortes machen wir Pause. Ein Blick hinunter bestätigt mir: Labyrinth war eine Finte, der Ort liegt ganz friedlich in der griechischen Sonne, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Dabei hat es Methamorphosis faustdick hinter den Ohren. Ein Schluck Wasser tut gut, wird sich wohl mit den Feigen vertragen, ist ja doch schon eine gute halbe Stunde her. So feindlich neulich die Gegend auch wirkte, heute fühle ich mich wie ein König über seinem Land, das sich vor dem ausgestreckten Arm ausbreitet. Unten die Fläche der Ebene, oben die gleichermaßen flache Weite der Wolkenboote, der Blick in ein riesiges, mit Luft gefülltes Sandwich. Alice steht vorne neben der Ikonostase mit ihrem großen Türchen vorne und den kleinen Fensterchen seitwärts, der Wind verwandelt ihre Haare in eine dunkle Fahne, die sich flatternd versucht von ihrem Kopf zu befreien. Ich muß mich sehr zusammennehmen, um nicht die drei Schritte zu machen und sie in den Arm zu nehmen. Aber schon ein paarmal habe ich bemerkt, daß sie Nähe offenbar nur dann akzeptiert, wenn es von ihr ausgeht.

Nach der Ausweiche schraubt sich die Strecke ins Gebirge hinauf. Die öden Flächen üben einen eigenen Reiz aus, ich habe das Bedürfnis, die Hand auf die riesigen kahlen Schädel der Hügel zu legen. Wie immer bin ich erstaunt darüber, wie schnell der Ort, an dem man sich eben befunden hat, auf Spielzeuggröße schrumpft. Es ist wohl so wie bei allem: nur neben dir ist es groß, vielleicht erdrückend. Klein war es, kommt mit hellem Klingeln auf dich zu, wächst bis ins Riesenhafte, um dann mit tiefer gewordenem Ton in der Vergangenheit unterzutauchen. Das Leben ist wie eine Zugfahrt, bei der die Gegenwart aus dem Nichts auftaucht, dir liebevoll die Wange streicht oder sich dir wie Blei an den Hals hängt, um dann wie ein Spuk zu entschwinden. Deshalb soll man Blei und Stacheln ziehen lassen und sich nur auf die Wärme der liebevollen Berührungen konzentrieren, die uns gewährt werden. Oben taucht dann in bizarrem Licht ein Schotterwerk auf, Staub, Rauch und Nebel vermischen sich zu einem bühnenreifen Szenarium. Doch der Weg ist das Ziel, der Auftritt Selbstzweck und so entschwindet auch dieses Schauspiel, der Einzigartigkeit des Augenblicks entkleidet, hinter uns und den Hügeln und der Gegenwart. Nachdem es noch eine Zeit lang weiter bergauf ging, fällt nun die Straße wieder ab, ein Tal liegt in reiner Vormittagssonne vor uns, hier würde ich meine Hand nicht hineinlegen wollen, aus Sorge, von den Zypressenspitzen aufgespießt zu werden. Schwarz und kontrastreich stechen sie in den Himmel, einige Wolkenbänke verleihen der Landschaft unter ihnen ungewohnte Lebendigkeit. Leichtes Ziehen in der Bauchgegend lenken mein Augenmerk wieder auf die Gegenwart, aber es verschwindet gleich wieder. Tiefer tanzen die Kurven dem Meer zu, wir tanzen mit, griechische Strenge so weit der Blick reicht, Stein, Meer, Wolken. Selten ein kleiner Ort, manchmal Ziegen oder zumindest ihr eindeutiger Geruch.

In einer Linkskurve zweigt unvermutet eine neu asphaltierte Straße links zum Meer ab. In solchen Fällen drängelt sich sofort mein Traumbild der einsamen Strandtaverne ins Bewußtsein und ich kann nicht anders, als ihm nachzugehen. Straßenende, grober Steinstrand, Meer, Macchie, ein, zwei Ölbäume. Keine Taverne. Schmollend zieht sich das Bild wieder zurück, nichts desto trotz ausdauernd sprungbereit. Da wieder einige Zeit vergangen ist, nehmen wir trotzdem die Gelegenheit für eine kleine Pause wahr. Alice spaziert auf den Steinen die Bucht entlang nach Süden, ich setze mich unter den einen Ölbaum in den Schatten und blicke aufs Meer. Nicht daß ich mich vor dem Gehen drücken möchte, aber das Sitzen tut den seit kurzem aufkeimenden Ereignissen in meinen Eingeweiden besser. Immer noch bringe ich die teils schon fast aggressiven Innenarbeiten nicht mit den Feigen und dem Wasser in Zusammenhang. Nach einer Weile sitzen wir auf, zurück auf die Straße hinauf, weiter geht's südlich.

In kleinen aber unerbittlichen Schritten steigert sich mein innerer Druck. Mittlerweile sind mir gewisse Zusammenhänge klar geworden und damit auch die Ausweglosigkeit, die nähere Zukunft betreffend. Ich beginne mehr und mehr einzusehen, daß Weigerung zweckloser Heldentum und Ignoranz unrealistische Träumerei wären. So bitte ich Alice vorauszufahren, um sich an einem schattigen Ort gemütlich einzurichten. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, füge ich noch hinzu und murmle etwas von der Kombination Feige-Wasser.
Ein großes Bedürfnis nach Kühle und Abgeschiedenheit ist in mir. Bei nächster Gelegenheit zweige ich in einen kleinen Feldweg ab, die ersten Schweißperlen auf der Stirn. Bäume sind hier nicht eben häufig aber ich habe Glück. Ein ausladender Ölbaum, darunter eine kleine ebene Fläche anbietend, winkt mir zu und ich nehme die Einladung dankbar und ohne Zögern an. Was für ein Schwein! Keine Dornenbüsche und sogar die Baumaterialien - in Form von mittelgroßen Steinen - zur Errichtung eines kleinen Ortes des Friedens stehen zur Verfügung. Obwohl die Aktualität des Augenblickes es genau genommen nicht erlaubt, folge ich doch meiner inneren Stimme, die mir zuraunt, es lohne sich, mir die Zeit zu nehmen, um für ein wenig mehr Komfort zu sorgen. Da meine innere Stimme ja schließlich auch über Möglichkeiten und Nicht-Möglichkeiten Bescheid wissen muß, so schließe ich zumindest logisch, wird sie auch über den genaueren Zeitpunkt des Countdown informiert sein. Man glaubt nicht, was einem in solchen Momenten alles durch den Kopf geht. Die nächste Ewigkeit ist dominiert von einer Mischung aus Meditation, Notwendigkeit und Naturbeobachtung. Nur einmal wird sie durch den Gedanken unterbrochen, Alice könnte aus Fürsorglichkeit auf die Idee kommen, nach mir zu sehen. Mein Über-Ich schaltet den Gedanken aber gleich wieder aus, indem es mich daran erinnert, daß sich das Leben im Hier und Jetzt abspielt. Fauna und Flora lassen es nicht an interessanter Abwechslung mangeln. Hier eine Heuschrecke, dort eine Raupe. Ein Käfer wackelt zwischen den Halmen durch. Hier ist eindeutig etwas los. Man unterhält seine Gäste. Träge summt eine Fliege auf einem Routineflug mit einem Pokerface vorbei und entfleucht (im wahrsten Sinn des Wortes) hinter dem nächsten Busch. Daß sie allerdings die Situation nicht so kalt gelassen hat, wie sie nach außen mimte, beweist die Tatsache, daß sie kurz später mit ihrer gesamten Verwandtschaft wieder auftaucht und, ohne sich im mindesten um den Gastgeber zu scheren, zu einer fröhlichen Party im Freien aufruft. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen. Fliegen sind schließlich auch nur Menschen.
Trotz den Möglichkeiten entsprechend bester orthopädischer Vorsorge beginnen allmählich verschiedene Körperpartien sektorweise auszufallen; es wird Zeit, an Aufbruch zu denken. Ich hoffe, daß Alice irgendeinen netten Roman in der Satteltasche hat, sie ist dann sicher ein paar Seiten weitergekommen damit. Mit einiger Mühe und der hilfreichen Unterstützung eines Ölbaumastes erreiche ich wieder die typisch menschlich-aufrechte würdige Haltung. Nachdem ich noch ein paarmal zu dem Termin zurückgerufen worden bin, gelingt es mir schließlich, soviel innere Stärke aufzubringen, daß ich doch wirklich an Abschied denken kann. Als ich einige Zeit später dann noch einen Blick zurückwerfe, ist kaum etwas zu sehen. Lediglich ein paar kleine Ecken weißer Friedensfahnen erinnern an die Schlacht, die hier noch vor kurzem getobt hat. Da Akbar von dem ganzen nicht betroffen ist, springt er auch klaglos wie immer an und wir hoppeln auf die Straße hinaus. Mir ist nicht wohler, lediglich anders und ich hoffe auf das Ausbleiben von Nachbeben.

 

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Einige Kilometer weiter treffe ich auf Alice. Auch sie hatte Glück. An einem Wegkreuz unter einem Ölbaum hat sie sich niedergelassen. Allerdings dürfte ihr schon etwas langweilig geworden sein. Auf ihren fragenden Blick gebe ich ihr mit einer legeren Geste zu verstehen, daß ich alles bestens unter Kontrolle habe und wir fahren nun in gewohnter Weise weiter. Gleich darauf zweigen wir wieder in die von Norden kommende Hauptstraße ein, unser zusätzlicher Berg-Kringel ist beendet. Und wiederum nach kurzer Zeit wird Gefira sichtbar, links daneben die Felsenkeule, auf der sich Monemvasia den Blicken verborgen befindet. Die Keule stellt sich als sozusagen Insel heraus, durch einen Damm mit dem Festland verbunden. Selbst als wir über ihn hinüberrollen, ist von der Stadt der heutigen Wahl nichts zu sehen. Lediglich eine Straße mit unbestimmtem führt an der Südseite des Berges gegen Osten. Sie dehnt sich ein wenig aus, nimmt so ebenfalls Keulenform an, jedoch nur zweidimensional, der Scheitelpunkt wird durch eine hohe, vom Berg zum Meer hinabeilende Mauer gebildet. Leicht ratlos rollen wir zum Ende und parken unsere Motorräder links, nahe beim Felsen. Obwohl meine Interessen nach wie vor eher introvertierter Art sind, schultere ich die Fototasche. Bei dieser Gelegenheit komme ich auch in Sichtkontakt mit den Feigen, die in meiner Gunst-Skala auf einen Minuswert gesunken sind. Einerseits deswegen, andererseits, um nicht nach der Rückkunft einen kochenden Feigenmatsch im Sattelkoffer vorzufinden, hänge ich den Sack kurzerhand an einen dürren Zweig, der aus der Wand ragt. Nun wenden wir uns der Wand zu, denn man hat sicher nicht einfach so einen so umfangreichen Parkplatz gebaut. In ihrer Mitte entdecken wir ein Loch, ein Tor, etwas größer als eine großzügige Haustüre. Dem Anfang dieses offensichtlichen Ganges folgt zuerst nach wenigen Metern ein rechtwinkliger Knick nach links, gefolgt von einem ebensolchen nach rechts. In diesem bleiben wir erstaunt stehen. Vor uns, in makellosem Sonnenschein ein schmales heimelig-verträumtes Gäßchen, das, leicht ansteigend, dem Ortskern zustrebt. Schritt für Schritt erobern wir das Gelände, meine latente Übelkeit, durch die gefangene Sonnenhitze potenziert, raubt mir leider jegliche Begeisterung bereits im Keim. Was übrig bleibt reicht trotzdem noch aus, mich über dieses kleine Juwel zu freuen, das einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht entstiegen sein könnte. Klein und eng reihen sich Geschäfte und Tavernen aneinander, wechseln Nischen, Vorsprünge, Treppchen, Kartenständer, ausgehängte Souvenirs und Schilder sich dabei ab, eine filigrane, fast zierliche Kulisse zu schaffen. Zwischendurch öffnet sich die Mauer zu einem Durchbrüchen nach Süden, läßt durch Geschäfte oder Tavernen das Meer erblicken. Eine solche Taverne nutzen wir, um Rast zu machen. Zudem ist Mittagszeit, Alice hat sich ja von den Feigen rechtzeitig distanziert, also auch einen berechtigten Anspruch auf Hunger.

Wieder einmal beweist Cola seine Heilwirkung. Nach zügigem Leeren von zwei Dosen scheint das Untier in meinem Inneren ertrunken zu sein. In heftigem Aufbäumen hat es zwar probiert, das Weite zu suchen, fiel dann aber verendend in sich zusammen. Damit ist zwar das Wohlbefinden erheblich gesteigert, allerdings noch kein Appetit auf feste Nahrung aufgekommen. Neidlos sehe ich Alice zu, wie sie ein sündteures Moussaka verspeist. Monemvasia ist nämlich, wie ich gelesen habe, ein Ort, an dem jeder Athener, der etwas auf sich hält, gewesen sein muß, manche verbringen hier auch in den verborgenen und klimatisierten Mehrstern-Hotels Urlaube, die ein kleines Vermögen kosten. Die Hotels sind jedoch so dezent integriert, daß die Märchenatmosphäre durch sie nicht gestört wird. Während mein inneres Gleichgewicht leicht torkelnd auf die Beine kommt, schaue ich dem regen Katzentreiben hier herinnen zu. Katzen gibt es in ganz Griechenland ja zur Genüge aber das aktuelle Lokal scheint die Residenz der örtlichen Katzenmafia zu sein. Bald habe ich herausgefunden, daß es eine festgeschrieben Hierarchie gibt. Der Boß ist die einzige Katze, die nicht verhungert wirkt. Träge liegt er auf einem Mäuerchen, von einem Teil seiner Untergebenen umgeben. Ein weiterer Teil der Mannschaft ist unablässig unterwegs, Tisch für Tisch wird streng kontrolliert. Die ABC-Analyse der Tische wird sofort aktualisiert, sobald Gäste wechseln. A-Tische sind diejenigen, an denen einer einmal den Fehler gemacht hat, etwas Nahrhaftes fallen zu lassen. Hier wird ab dann aufmerksam Wache geschoben. Diese Tische werden sogar an und ab vom Capo selbst besucht. B-Tische sind die noch nicht kategorisierten. Wenn ein Tisch von neuen Gästen in Beschlag genommen wird, dann wird er zunächst eine Zeit mehr oder weniger auffällig kontrolliert. Zuerst etwas auffälliger, um festzustellen, ob man auch bemerkt wird. Danach richtet sich dann die weitere Vorgehensweise. Erst nach geraumer Zeit unablässigem Desinteresse an der bewachenden Mannschaft sinkt der Tisch in die uninteressante C-Ebene. Allerdings werden selbst diese Tische nie völlig aus den Augen verloren. An ihnen schiebt die unterste Kaste Wache, es könnte ja doch daran jemand seine Meinung unerwarteterweise ändern.

Bis jetzt ist unsere Reise aus gegebenem Anlaß recht wortkarg verlaufen. Mein Innenministerium hat mich so in Anspruch genommen, daß das Ressort für die Außenpolitik nur auf Sparflamme gelaufen ist. Nun beginnen sich aber langsam alle Voraussetzungen wieder auf Kommunikation einzustellen: Alice ist mit dem Essen fertig, meine Hitzewallungen sind abgeebbt. Wirklich, ich kann Cola sehr empfehlen! Nein, ich bekomme keinen Werbezuschuß. Aber sollten diese Zeilen von vielen gelesen werden und das ändert sich nicht, dann werde ich das Cola in Kamillentee umbenennen. Mit den zurückkehrenden Lebensgeistern ist auch der Unternehmungsgeist unterwegs, so bezahlen wir unsere Zeche und verlassen den Tisch mit den gestapelten Coladosen, damit der Katzengemeinde Hoffnungen auf ertragreichere Gäste machend.

Während es in dem Gastgarten etwas kühler war, brennt die Sonne heraußen erbarmungslos herunter. Aber ich bemerke es kaum, so ziehen mich diese zierlichen Gäßchen in ihren Bann. Alice geht es offenbar nicht viel anders, denn immer wieder kommentiert sie ihre Entdeckungen mit kleinen Ausrufen. Hier eine Kette, dort ein kleiner Lederbeutel, Blumen, die aus einer Nische ranken, ein Blick aufs Meer durch einen schmalen Mauerdurchbruch. Tausendundeine Nacht, ja das paßt hierher! Der Weg ist holprig, es geht vorbei an kleinen Tavernen, deren heraußen stehende Tische und Stühle, von Laub überrankt, in romantischem Halbschatten liegen, vorbei an weiteren Souvenirgeschäften, bis wir schließlich auf den Hauptplatz hinaustreten. Dominant steht der große Glockenturm, den man schon von weiter hinten sehen konnte, oberhalb schauen die Häuser hinaus aufs Meer, sich der Rückendeckung des Berges wohl bewußt. Während die meisten Häuser nicht gestrichen sind und so einen geheimnisvollen Eindruck vergangener Jahrtausende weitergeben, ist die Kirche selbst strahlend weiß. Die schwarzbraune Türe, halb offen, lädt jederzeit zum Eintreten ein. Abseits des Hauptweges allerdings sehen wir jede Menge Ruinen, man wird so schnell daran erinnert, daß die Zeit von Monemvasia in grauer Vergangenheit liegt.

Den verborgenen Einlaß speit uns aus, wir stehen wieder vor den Stadtmauern in der brütenden Hitze. Die Motorräder stehen eben im Schatten. Meine Feigen sind verschwunden, ich betrachte es als einen Wink des Schicksals. Vorne am Eck ist immer noch der fliegende Händler, neben sich das klapprige Fahrrad. Kurz bevor ich wo anders hinschaue, erkenne ich bei ihm meinen Feigensack, wie er dort an einem Mauervorsprung munter baumelt. Sicher würde der Mann sagen, daß es die Feigen vor der Sonne schützen wollte, aber ich möchte ihm die Verlegenheit sparen, so grinse ich lediglich in mich hinein und wünsche ihm guten Appetit.
Karte auf dem Sattel ausbreiten, Reiseroute erörtern. Ein Vorgang, den ich besonders liebe, denn beim Kartenstudieren steht man dicht nebeneinander. Auch wenn ich Alice nicht berühre, fühle ich trotzdem, daß in diesem Bereich meine Moleküle hyperaktiv werden ungewollt kommt mir der Gedanke an eine Mikrowelle. Etwas südlich kündigt ein Kapitell-Symbol eine antike Stätte an. Epidelion. Der Entschluß ist schnell gefaßt, bald darauf verlassen wir die Monemvasia-Keule, um südwärts entlang am Meer unserem nächsten Etappenziel zuzustreben. Sprunghaft schrumpft Monemvasia von Blick zu Blick jedesmal ein wenig zusammen, wird klein, unscheinbar, Vergangenheit. Wie so oft wird mir die Unerbittlichkeit der Zeit bewußt. Das rein Statische sind Vergangenheit und Zukunft. Mit erschreckender Eile rollt, hüpft, gleitet, fliegt die Gegenwart über alles, dokumentiert ihre flatterhafte und unstete Natur im Wind, den leisen Sausen des Gummis der Reifen, dem scheinbar planlosen Spiel der Wellen, dem trägen Ziehen der Wolken, der Flüchtigkeit von Klängen und Gerüchen. Das Ist scheint wie die dünne Spitze einer langen Nadel, so dünn, daß sie gar nicht sichtbar ist. Lediglich die zwei Seiten der Nadel sind erkennbar: Die sichtbare ist die Vergangenheit, die andere Seite die Zukunft.

Nach der Überquerung eines Hügels rollen wir den Hang hinunter, nach der antiken Stätte Ausschau haltend. Auch nach längerem Suchen können wir sie nirgends finden. So beginnt das Fragezeichen hinter dem Namen von Epidelion auf der Karte einen Sinn zu bekommen. Auch deren Verfasser dürften vergeblich gesucht haben. Ein kleiner weißer Friedhof hat sich als Wachtposten bereiterklärt und so auf dem äußersten Zipfel der kleinen Landzunge niedergelassen. Leger breitet er den einzigen Arm seiner Mauer über die Erhebung, gibt zu verstehen, daß alles dahinter zu ihm herein gehört, bis hierher - ruhe in Frieden. Der Weg zu dem Eiland ist durch zwischen die Steine geschütteten Beton wegsam gemacht worden, so wandere ich den kurzen Weg hinüber um hinter die Kulissen zu schauen. Aus der Nähe verliert alles seinen Reiz. Flach, von ungepflegter Wildheit, vertrocknet, heiß. Ich gehe um die Kapelle herum und wieder zurück, Alice wartet bei den Motorrädern. Sie war offenbar klüger, sich dessen bewußt, daß es nicht immer von Nutzen ist, das Schöne im Detail zu kennen. Auch der sinnliche Mund, das geheimnisvolle Auge verliert an Magie, sobald man in seine Zellen kriecht.

Für den Rückweg entscheiden wir und für die Route quer über den Bergrücken nach Pantanasia. Die Straße windet sich teils abenteuerlich, um schließlich fast unbemerkt in dem Ort zu münden. Das ist ja so eine griechische Spezialität, daß die wunderbarsten und großzügigsten Straßen oft in kleinen Seitengassen einer Ortschaft münden, denen man maximal zutrauen würde, Zufahrt zu einem Hühnerhof zu sein. Danach geht es zurück auf der Straße, die ich als Fruststrecke ersten Grades kenne, mein neulicher Rückweg von Elafonisos. Wir nehmen es gemütlich, die absteigende Sonne scheint uns entgegen, als wir von Sikea durch das trockene Delta über die lange Gerade gleiten. Die Bäume der endlosen Allee schluppern vorbei, nach jedem wirft uns die Sonne ihre Strahlen ins Gesicht. Ein Hirte treibt scheine Schafe nach Hause, ein biblisches Bild in dem alternden Tag.

 

- 3 -

Als wir Githio erreichen, ist die Sonne schon hinter den Hügeln verschwunden. Wir verabreden uns bei einer Taverne zum Abendessen und fahren jeweils nach Hause, um die Reiseklamotten loszuwerden. Im frischen T-Shirt, von einem leichten Hauch von Dusch-Gel umgeben warte ich auf Alice. Neben dem Tisch schwappt das Meer an die Kaimauer, auf der anderen Seite fahren immer wieder Autos und Mopeds vorbei. Schließlich trifft Alice ein, ein leiser Dufthauch weht herüber. Es ist mir schwer, die Distanz zu wahren, einen unbeteiligten Eindruck zu wahren. Bis das Essen kommt plaudern wir über dies und das. Während des Essens selbst wird es etwas stiller, ein Motorradtag macht ordentlich Appetit. Zum Glück ist meine Feigenübelkeit im Laufe des Nachmittags endgültig verschwunden, also gibt es hier zusätzlich einiges nachzuholen. Ganz unvermutet fragt mich Alice
"Wie ist denn Deine Einstellung zu Partnerschaften?" Fast verschlucke ich mich, alles andere hätte ich erwartet.
"Wie meinst Du das?"
"Partnerschaft, Beziehung. Wie siehst Du das? Ist so eine lebenslange Beziehung, wie sie zur Zeit unserer Eltern üblich war, heute noch möglich? Findest Du Beziehungen überhaupt sinnvoll? Oder eher Singleleben? Wie stehst Du zu Affären?"
"Puh!" ich muß einen Schluck Retsina nehmen, um mich zu fassen. "Das kommt ein wenig überraschend" und, um ein wenig Zeit zu gewinnen: "Wie siehst Du es?" Aber das funktioniert nicht. Hätte ich mir ja denken können.
"Du zuerst."
"Also bisher hab ich mir da nicht so intensive Gedanken gemacht, weißt Du. Lebenslang... na ja. Wenn man die Richtige findet? Affären? Vielleicht, wenn eine Beziehung ohnehin kaputt ist. Singledasein? Hat so eine Vor- und Nachteile. Ist ja ganz praktisch, weil man sich nicht zusammenreißen muß, heim kann, wann man will aber auf der anderen Seite bist du halt auch allein, wenn's dir nicht so gut geht. Ja, ich glaub, das wär's in aller Kürze. Und du? Du hast doch sicher einen Grund, daß du das Thema anschneidest?" So, damit wäre ich vorläufig aus dem Schneider, denk ich mal. Standardaussagen eben, aber ich habe mir darüber tatsächlich keine gröberen Gedanken gemacht. Also hat es ja in etwa der Wahrheit entsprochen.
"Glaubst du an Dualseelen?"
"An was..? Ach Zwillingsseelen, meinst du?" Ich bin etwas verwirrt.
"Ja. In manchen Religionen ist davon die rede. Man hört, daß Gott ob der Unzulänglichkeit der Menschen diese zerschlagen hat. So suchen wir zeitlebens nach unserem zweiten Teil. In der jüdischen Religion heißt dieser zweite Teil 'Baschert'. Ich finde den Gedanken schön." Unwillkürlich zuckt mir der Gedanke durch den Kopf, daß Alice - nein, Unsinn, ich verwerfe es sofort wieder.
"Ja, es ist eine ganz seltsame Sehnsucht, die dieser Gedanke aufsteigen läßt. Glaubst DU, daß es so etwas gibt?"
"Ich bin mir nicht sicher."
"Hast Du Aina einmal gefragt?"
"Ja."
"Und?"
"Ich habe keine Antwort bekommen."
"Seltsam."
"Sie gibt mir nie Antworten, wenn es nicht um etwas wirklich Wichtiges geht."
"Und das soll nicht wichtig sein?"
"Ob man es weiß oder nicht - was ändert das?"
"Da hast Du schon recht, aber es wäre doch schön zu wissen, ob man mit Erfolg hoffen darf...?"
"Hoffen darf man immer" und da ist wieder dieses schalkhafte Blitzen in ihren dunklen Augen.
"Wieso fragst Du wegen der Dualseelen? Hast Du Zweifel? Oder nicht? Oder wie?" Alice lächelt.
"Du erinnerst dich doch an meine Geschichte, ja?"
"Ja, sicher."
"Ach weißt du, es ist seltsam. Einerseits finde ich den Gedanken wunderschön. Und wie oft hab ich mich einfach gefreut und mir gedacht: Irgendwann begegne ich ihm, das muß ich dann sofort merken, das ist dann wie ein Orkan, es kann dann nichts mehr danebengehen... aber es paßt mit dieser Geschichte irgendwie nicht zusammen."
"In wiefern?"
"Wenn wir da oben, so wie ich es gesehen habe, jeder unseren Ausgang haben... da waren nirgends Paare!" Sie wirkt fast ein wenig verzweifelt.
"Und wenn diese Spaltung erst später stattfindet?"
"Wo denn? Dann kehren danach zwei zurück? Und da ist noch was anderes."
"Ja?"
"Ja. Wir können uns doch ständig entscheiden. Gut werden, schlecht werden, Mutter Theresa oder Schlimmer Finger."
"Und?"
"Was ist dann mit der anderen Hälfte? Die wird sich doch nie gleich entscheiden wie ich!"
Damit hat sie allerdings recht. Sie fährt fort.
"Dann könnte die Zwillingsseele ja völlig anders sein. Es ist sogar wahrscheinlich. Sogar sicher!" Ich muß über das nachdenken. Aber sie läßt mir keine Zeit dazu.
"Dann wäre das wahrscheinlich auch keine Wiedersehensfreude. Stell dir vor, du begegnest deiner zweiten Hälfte und die ist dir total zuwider!" Alles klingt recht einleuchtend, was sie da sagt, aber ich bräuchte doch etwas Zeit um zu einer eigenen Ansicht zu kommen. Ich versuche den Fluß etwas einzubremsen.
"Nochmals: Wie kommst du denn gerade jetzt auf diesen Gedanken?" Sie hält inne. Ohne zu überlegen geht sie auf meine Frage ein.
"Ach, weißt du, als wir vorhin so durch die Allee gefahren sind... hast du da auch den Schäfer gesehen? Also, als wir so gefahren sind, da dachte ich -" sie bricht unvermutet ab.
"Ja?" Das erste Mal sehe ich, daß ein leichter roter Hauch durch ihre dunkle Haut schimmert. Sie dreht sich weg und schaut übers Meer, weiter draußen liegt reglos ein Ruderboot. Genauso bewegungslos hängt der Mond im Dunkelblau des Himmels. Alles da draußen scheint statisch zu sein. Und gerade dadurch wirkt es mystisch, birgt alle Möglichkeiten in sich. Als Alice eine ganze Weile nichts sagt, berühre ich sie ganz sachte am Arm.
"Alice?" Keine Reaktion. Langsam dämmert mir, daß meine abrupte Frage keine so gute Idee war. Offenbar bin ich hier mit vollem Karree in ihr Haus eingedrungen, ohne die Schuhe abgestreift zu haben, ganz zu schweigen davon, daß ich gar nicht hereingebeten worden war.
"Entschuldige, es tut mir leid..." mir ist sehr kleinlaut zumute. Nach einiger Zeit dreht sie sich wieder zu mir und ich glaube ein leichtes Schimmern in ihren Augen zu sehen. Sie ist sehr leicht verletzbar, ich muß in Zukunft gut achtgeben.
"Ist schon gut," meint sie, ihre Stimme klingt etwas belegt. Wie unterschiedlich Menschen doch sind! Und wie komplex schon ein einziger. Wie eng nebeneinander liegen doch bei ihr Verletzbarkeit, Spontaneität, Ernst und Ausgelassenheit! Aber das ist wohl der Preis: Kein Licht ohne Schatten, keine Freude ohne Leid.
Es ist, als ob bei einem Wassertropfen plötzlich die Oberflächenspannung verloren gegangen, bei einer Wurst die Pelle geplatzt oder beim Drucker die Farbe ausgegangen wäre. Das Gespräch kommt nicht mehr so richtig in Gang. Wir plaudern noch ein wenig über ihren Job und über meinen und übers Motorradfahren.
Ganz so schlimm dürfte es allerdings nicht gewesen sein, denn sie ist einverstanden, auch morgen gemeinsam auszureiten. Ich freue mich sehr.
Und auch wenn es mir sehr leid tut, Alice verletzt zu haben, so läßt doch die Interpretation ihrer Reaktion eine große Wärme in mir aufsteigen. Und Hoffnung.

 
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