- 1 -
Leise und unregelmäßig
blubbernd verquirlt die Luft hinter dem Windschild und schlägt mir
ohne erkennbare Regel ins Gesicht. Githio liegt hinter uns und damit die
feinen Omeletten und der Orangensaft und der Frappée. Im Ort ging
es links ab Richtung Sparta, ein wenig bergauf und nun rollen wir durch
das Hügelland nach Norden.
Gestern
hatte ich auf der Straßenkarte eine zweite feine weiße Überquerung
des Taigetos-Gebirgszuges entdeckt und sie beim Frühstück als
heutiges Ziel vorgeschlagen. Die erste Kreuzung habe ich übersehen,
so biegen wir nun links ab, bevor wir nach Egies kommen. Vorerst durchqueren
wir das Tal und das Dörfchen Archontiko, es beginnt aber nun bereits
langsam anzusteigen. Die Straße schlängelt sich durchs Grün,
an milden Ausläufern des Gebirges entlang und bringt uns unmerklich
Meter um Meter höher hinauf. Nach einer knappen halben Stunde liegt
das Tal des Evotas weit ausgebreitet unter uns. Es herrscht so gut wie
kein Verkehr auf dieser schmalen Strecke, einmal überholen wir einen
klappriger Lieferwagen, der sich die zunehmende Steigung hinaufquält
und eine Viertelstunde später einen Bus. Es muß ein virtuoser
Fahrer gewesen sein, um die unzähligen Kurven und Kehren zu meistern,
denke ich später zurück. Die Vormittagssonne wärmt, ohne
noch die mittägliche Aggressivität erreicht zu haben. Serpentinenweise
schrauben wir uns aufwärts, dann geht es zwischendurch wieder einmal
leicht abwärts, der Linie der Talfurche folgend. Nach einer Kurve
fahren wir in ein kleines Dorf ein. Kaum Regsamkeit. Ein Mann auf der
steilen Wiese, ein paar Hühner und natürlich Ziegen. Einsam
duldet ein Esel an der Straße sein Dasein, durch einen Strick um
den Hals am Spazierengehen gehindert. Angebundene Esel machen mich immer
traurig. Ich kenne kein Tier, das sein Los so ergeben hinnimmt. Und ich
kenne niemanden, der anderen ihr Los gedankenloser aufdrängt als
Menschen. Die Straße wird ein wenig weiter, links steht ein altes
Vehikel, von dem man weder
Alter noch Marke erraten kann. Blaue Eisengeländer begrenzen eine
weiß angestrichene Terrasse, ein paar Fernsehantennen auf den Dächern
spießen in den Himmel. Das Dörfchen schickt sich an, uns in
die Einsamkeit zu entlassen. Die Straße wird so eng, daß etwas
Breiteres als ein Personenauto wohl nur mit knapper Mühe passieren
kann, ich erinnere mich mit Staunen an den Bus, der Untergrund ist eine
Strecke lang gegossener Beton. Dann neigen sich Büsche und Bäume
herein und das Zipfelchen Zivilisation verschwindet, wie nie da gewesen,
in der Vergangenheit.
Weiter aufwärts, die Weite des Blicks nimmt ständig
noch zu. Talwärts ein kleiner Hügel. Als ob der Berg seinen
Arm gegen die Ebene ausstreckt, auf der Handfläche eine kleine Kapelle
darbietend. Wie eine Wirbelsäule winden sich flache Stufen zu ihr
hinüber. Bald aus dem Blick entschwunden, Meter um Meter steigt der
Weg nach wie vor. Weiter oben wird ein bunkerartiges Gebäude erkennbar,
dem wir uns nun langsam nähern. Es ist der Sattel, nach dessen Überquerung
es wieder abwärts gehen muß. Ich genieße den noch tadellosen
Asphalt, denn laut Karte beginnt dort oben die Naturstraße, die
kein so ungestörtes Betrachten der Umgebung mehr zulassen wird. Rechts
schwingt sich der Sattel zu einem kleinen Berg auf, an dessen Fuß
ein Sendemast steht. Der Bunker, vermutlich eine Mischung aus Gaststätte,
vielleicht Hotel, sicher Kirche ist überhaupt nicht einladend. Aus
diesem Grund versuche ich rechts den Schotterweg zum Sender hinauf, vor
dem eine winzige betonierte Fläche es eben erlaubt, das Motorrad
mühsam zu wenden und abzustellen. Alice hat es da natürlich
leichter und so stehen wir nun hier und genießen das weite Panorama.
Immer noch vereitelt der Dunst den wirklichen Fernblick. Doch immerhin
sieht man von hier aus im Nordosten weit über Sparta hinaus und unten
kann man die den Südzipfel Lakoniens verdeckenden Insel Elaphonisos
eben noch erahnen. Ohne uns abgesprochen zu haben, klettern wir beide
ein paar hundert Meter den Hang hinan, dem wirren Labyrinth der von Schafen
und Ziegen ausgetretenen Rinnen folgend, bis in die Obhut des Schattens
einer Föhre. Alice hat ein paar Pfirsiche mitgenommen, die wir uns
nun schmecken lassen. Wer jemals frische Pfirsiche wie diese hier herunten
gegessen hat, wird Probleme mit jenen haben, die es in unseren Breiten
nur noch gibt. So sitzen wir eine ganze zeitlang ohne ein Wort zu sprechen.
Wie ein riesenhaftes faltiges Tuch liegt uns zu Füßen die Ebene
des Efrotas ausgebreitet. Wie Risse in spröder Haut muten die steinigen
Stellen zwischen Büschen und Föhren der Hügel an. Das einzig
Regelmäßige sind wenige vereinzelte Stücke Straße,
die wie verlorene Fäden über dem Knittertuch liegen. Wie schön,
daß nahezu nirgends etwas von menschlicher Besiedelung zu sehen
ist!
"Weißt
du, was hier oben so das Herz öffnet?" wendet sich Alice an
mich. Fragender Blick.
"Daß hier nur Natur ist und man die Gegenwart von Menschen
nur ahnt aber nicht sieht." Ich nicke nur, denn es käme mir
flach vor, wenn ich als Bestätigung mein eben zu
Ende Gedachtes ausgesprochen hätte.
"Das mag ich hier so, daß man streckenweise niemandem sieht."
"Es geht mir ebenso. Erinnerst du dich an die Dolinen damals? Drüben
in Didyma?"
"Ja, wie könnte ich sie vergessen!"
"Das war das zweitemal, daß ich Dich gesehen habe."
"Mhm, das erstemal war auf Akrokorinth."
"Du hast mich dort auch gesehen?"
"Ehrlich gesagt, es war der Tiger Akbar. Den merkt man sich, wenn
er einem einmal begegnet ist. Meinst du was Bestimmtes mit den Dolinen?"
Ich denke kurz nach, aber wem gegenüber sollte ich offen sein, wenn
nicht Alice? "Ja. Es war eine seltsame Atmosphäre dort. Immer
wenn ich an Weite und Natur denke, dann fällt mir die Stimmung dort
ein. Du wirst mich jetzt für verrückt erklären. Aber ich
würde dort gerne einmal über Nacht bleiben und zusehen, was
sich tut. Es kommt mir vor wie ein mystischer Kult-Ort. Ist mir schon
klar, das klingt etwas seltsam."
Wieder einmal sieht sie mich mit diesem seltsamen Blick an, den ich vorher
noch nie bei jemandem entdecken konnte. Es ist eine eigen berührende
Mischung aus Zuneigung, aber nicht Verliebtheit, Freude und Verbundenheit,
die sich aber nicht wirklich in Worte kleiden läßt.
"Du weißt doch von meiner Geschichte. Wie sollte ich da so
etwas als verrückt ansehen? Ja, ich könnte mir das auch gut
vorstellen. Zuhause habe ich einen Baum, zu dem ich gehe, so oft ich kann.
Da fällt mir übrigens etwas ein." Sie richtet sich aus
ihrer malerisch-läßig hingegossenen Haltung auf und wendet
sich mir direkter zu.
"Als ich einmal bei meinem Baum war und es mir nicht besonders gut
ging, da umarmte ich ihn und bat ihn um Ruhe, Kraft und Beweglichkeit,
um eine bevorstehende Situation besser meistern zu können. Ich kann
beim besten Willen nicht mit Bäumen sprechen und ich habe leider
auch keinen Kontakt zu Naturwesen. Aber trotzdem war da eine Antwort in
mir, als ob der Baum zu mir gesprochen hätte. 'Ruhe kann ich dir
geben', meinte er, 'auch Kraft. Aber Beweglichkeit nicht. Die bekommst
du vom Wasser und vom Wind'. Du kannst dir vorstellen, daß ich perplex
war. Aber dann wurde mir gleich klar: Man kann nur jemanden um das bitten,
was er auch geben kann. Die Stärke des Baumes ist seine Standhaftigkeit,
vielleicht noch die Flexibilität, wenn ich an Birken unter Schneelast
denke. Aber Bewegung ist wirklich nicht die Symbolik, die zum Baum gehört."
"Wieso hast du um Beweglichkeit gebeten?"
"Weil Beweglichkeit das für uns wichtigste ist. Ja, es ist unser
Lebensziel"
"Beweglichkeit? Na ich weiß nicht so recht... Entwicklung ja,
aber Bewegung?"
"Das ist mir damals bewußt geworden, als ich so lange im Krankenhaus
war. Wenn du an meine Geschichte
denkst, dann sind wir doch hier herunten auf unserer Reise nur aus dem
Grund, weil wir dort oben zu wenig Bewegung in uns hatten. Unser Ziel
ist es doch, auf dieser Wanderung das notwendige Maß an Bewegung
zu gewinnen, um, wie man so schön sagt, über uns hinauszuwachsen."
Nach einer kurzen Gedankenpause fährt sie fort: "Wenn du darauf
achtest, dann wirst du sehen, daß alle negativen Eigenschaften und
Handlungen aus Nicht-Beweglichkeit, sprich Trägheit erwachsen."
"Alle?"
"Ja. Sag mir irgend etwas, was du nicht gut findest."
Ich denke nach und die ersten Überlegungen äußere ich
gar nicht, denn sie sind offensichtlich tatsächlich mit Trägheit
in Zusammenhang. Wie etwa Faulheit, Langeweile, alles, was mit mangelnder
Beherrschung zusammenhängt.
"Dann wäre ja auch Bequemlichkeit das Falsche, weil sie ja schließlich
eine Art Trägheit ist?" mutmaße ich.
"Ja, genau. - Und, hast du was?" Sie wirkt richtiggehend ungeduldig.
ich muß grinsen. "Nun wart doch ein wenig, es wird mir schon
was einfallen." Und ich denke weiter. Ob es der achtlos weggeworfene
Müll ist, den man hier zuhauf sieht oder andere Gedankenlosigkeiten,
Alice hat Recht. Halt, da hab ich doch was!
"Wie sieht es aus mit Neid?"
Ohne Überlegungspause kommt die Antwort: "Glaubst du, wenn sich
jemand wirklich innerlich beweglich und aktiv und damit auch fröhlich
fühlt, daß er dann Platz für Neid hat?"
"Nein, irgendwie nicht. Aber Trägheit die Ursache für den
Neid?"
"Es ist nicht bei allem die Ursache so direkt sichtbar, oft ist es
indirekt. Gefühle wie Neid hast Du nur dann, wenn du in irgendeiner
Art unzufrieden bist oder dich übervorteilt fühlst. Traurig
bist, vielleicht depressiv. Wenn du innerlich beweglich bist, dann kann
das aber gar nicht passieren. Wenn du dich wohl fühlst, dann bist
du nicht neidisch oder bedrückt oder resigniert. Das sind alles nur
Folgen davon, wenn es innen zu langsam wird."
"Ist das nicht ein bißchen hart?"
"Natürlich. Man soll es ja auch nie so absolut sehen. Wären
wir perfekt - wovor uns der Himmel behüte -" fügt sie schmunzelnd
hinzu, "dann hätten wir ja alle diese Stimmungen nicht. Es geht
aber auch gar nicht darum, sondern um die Grunderkenntnis. Denn allein
zu wissen, wie die Zusammenhänge sind, macht schon vieles nicht nur
erträglicher, sondern manches Mal sogar noch interessant."
Sie reagiert sofort auf meinen zweifelnden Blick: "Ja, wirklich interessanter.
Findest du das komisch?"
"Nein, nein", beeile ich mich zu sagen, "nur kann ich mir
das Leben ohne oder zumindest mit weniger Problemen auch nicht uninteressant
vorstellen..."
"Darüber habe ich mit meinem Bruder gesprochen, gerade an dem
Tag, als wir auf der Burg Korinth waren. Er hat genau das selbe gesagt.
In dem Gespräch mit ihm ist mir die Tragweite erst wirklich klar
geworden." Ich verstehe zwar gar nichts, warte aber erst einmal ab.
Sie denkt kurz nach und fährt dann fort.
"Was würdest du dir wünschen, jetzt mal abgesehen von Gesundheit,
wie dein Leben verlaufen soll?"
"Uff, das ist aber etwas aus heiterem Himmel!"
Sie lacht. "Egal, erzähl doch mal!"
"Also...", beginne ich, aber da wird mir klar, daß das
eine ziemlich intime Frage ist, die ich gerade ihr gegenüber nicht
so locker beantworten kann. Also werde ich es einfach vorerst allgemein
halten. "Im Prinzip wünsche ich mir, wie du sagst, Gesundheit,
ein wenig mehr Erfolg bei meiner Arbeit - oder vielleicht überhaupt
eine andere - und... und eine gute Beziehung;" kurzes Überlegen.
"Ja, so in etwa."
"Wie siehst du deine Vorstellung im Zusammenhang mit unserem Entwicklungskreislauf?"
will sie wissen.
"Unserem? Ach so dem allgemeinen, meinst du. Die Sache mit dem Kreislauf,
wie du es mir in deiner Geschichte erzählt hast, das muß ich
mir noch einmal etwas durch den Kopf gehen lassen. Wenn man es konsequent
weiterdenkt, dann ist es doch eine recht einschneidende Angelegenheit."
"Ok. Was hältst du von der Idee, wenn wir einfach etwas weiterfahren,
du darüber nachdenkst und wir dann weiter reden?" Hoppla. Wenn
sie sich etwas vorstellt, dann muß offenbar die Umsetzung recht
flott passieren. Aber warum nicht. Ob das allerdings auf der bevorstehenden
Schotterstraße so leicht ist, wird sich erst noch herausstellen.
"Na gut, dann laß uns das so machen," schließe ich
ab und stehe auf. Noch einmal einen Abschied nehmenden Blick über
die Weite der Ebene unter uns und wir kraxeln wieder hinunter zu den Motorrädern.
Die paar Sachen sind schnell verstaut und wir rollen die Rampe vom Sender
hinunter auf die Straße. Rechts weg beginnt nun tatsächlich
sofort grober Schotter, wobei die Straße aber ziemlich neu zu sein
scheint.
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- 2 -
Vorerst
geht es auf der Westseite des Höhenzuges entlang. Meine Vermutung,
hier den höchsten Punkt erreicht zu haben, stellt sich aber bald
als falsch heraus. Im Gegenteil. Nachdem es vorerst leicht abwärts
ging, beginnt die Straße nun wiederum anzusteigen, was sogar durch
ein paar Serpentinen betont wird. Wir schrauben uns weiter in die Höhe,
wobei diese dadurch noch unterstrichen wird, als zwischendurch der Blick
bis hinunter aufs Meer frei wird. Weit, weit unten, am Ende mancher Täler
kann man es sehen, auch einen kleinen Ort, dessen Häuser wie Stecknadelköpfe
aussehen. Vorbei geht es an skurrilen Bäumen. Wir kommen zu einer
Kreuzung, ich entscheide mich für die linke Abzweigung, denn rechts
geht es offensichtlich eher wieder zurück nach Osten. Nun wird es
bald eben und wir fahren im Halbschatten der Föhren dahin. Allerdings
beobachte ich mit einer gewissen Abneigung ein paar Gewitterwolken, die
vor uns am Gipfel entlang streichen wie eine lauernde Katze.
Nachdem wieder etwas Zeit vergangen ist, gelangen wir
zu einer kleinen Quelle, die rechts aus dem Berg fließt. Wir halten
an. Sie ist mit Stein gefaßt, schon recht alt, das Wasser rint dünn
aus der kurzen Röhre.
"Oh, das ist ja etwas ganz Wunderbares," freue ich mich, "richtiges
artesisches Quellwasser!" Sie blickt mich von der Seite an und erwartet
offenbar eine Erklärung.
"Solche Quellen haben ganz speziell gutes Wasser, das aus großen
Tiefen heraufkommt, sogenanntes 'Lebendiges Wasser'. Es kann sehr alt
sein und hat eine große Bedeutung für unseren Körper,
er besteht ja schließlich zu siebzig Prozent daraus. Wasser ist
für uns ein wichtiger Informationsträger, wir sind durch es
mit der Schwingung der Erde verbunden."
In der Zwischenzeit habe ich schon meine Wasserfläschchen aus dem
Sattelkoffer genommen und schütte das Wasser aus, das darin ist.
"Ist denn dieses Wasser so viel frischer?" fragt mich Alice.
"Das kannst du gar nicht vergleichen! Was aus den Rohren der Wasserleitungen
kommt, hat nichts Lebendiges mehr in sich."
"Glaubst du auch hier, wo ja sicher das Wasser aus den Bergen kommt?"
"Auch hier, egal wo. Sobald Wasser bereits weniger als hundert Meter
durch gerade Rohre gepreßt wird, verliert es seine Schwingung und
es ist aus mit der Lebendigkeit. Wasser hat von sich aus die Tendenz,
immer in Spiralbewegung zu sein - ach da gäbe es eine Menge Interessantes
zu erzählen!" Das Thema begeistert mich immer wieder. "Probier
doch mal, wie herrlich dieses Wasser schmeckt. Es wird sehr kalt sein,
wenn es so um die vier Grad hat, dann kommt es frisch hier aus dem Berg."
Tatsächlich, das Wasser ist sehr kalt. Ich probiere eine hohle Hand
voll und freue mich wie immer über den belebenden charakteristischen
Geschmack.
"Wieso kommt das Wasser aus der Tiefe? Ich dachte immer, daß
es herunterrinnt."
Es freut mich, nun auch einmal ihr etwas Neues erzählen zu können.
"Wasser wurde schon als 'das Blut der Erde' bezeichnet. Es reist
durch die Erde, fällt und steigt in ewigem Kreislauf. Der Wasserkreislauf
in der Erde ist ermöglicht durch die levitanten Kräfte des Wassers
auch von unten nach oben. Und so kann es auch in dreitausend - oder wie
hier in fast zweitausend - Metern Höhe aus dem Fels entspringen und
man fragt sich, wie das möglich ist, wenn man das nicht weiß.
Wasser führt uns einmal mehr die Analogie zwischen 'wie im Kleinen
so im Großen' und umgekehrt vor."
Ich fülle eine Flasche nach der anderen ab.
"Es ließe sich noch viel über das Wasser erzählen.
Jedes Wassermolekül hat seinen eigenen Nord- und Südpol, das
Wasser tief in der Erde nimmt deren Schwingungsfrequenz auf, auffallend
der unserer Gehirnströme ähnelt, so um acht, neun Hertz herum.
Allerdings eben nur das wirklich lebendige Wasser. Unser Leitungswasser
nicht. So können wir unter anderem durch solches Wasser wie dieses
hier -" und damit halte ich die letzte Flasche unter den mager rieselnden
Strahl - "unsere eigene Frequenz aufbessern und in weiterer Folge
gesund beziehungsweise gesünder werden."
Interessiert hat Alice zugehört. Nun geht sie hinüber, holt
aus ihrem Civi-Koffer zwei Flaschen Mineralwasser heraus und schüttet
es weg, obwohl es noch unangebrochene Flaschen sind. Wieder einmal erstaunt
sie mich mit ihrer Unmittelbarkeit. Ein Blick hinauf zu der lauernden
Gewitterwolke sagt mir, daß Handeln angebracht ist. Regen muß
hier nicht allzu lange dauern, er kann aber durchaus heftig sein.
"Laß uns etwas zum Unterstellen suchen," schlage ich deshalb
vor, obwohl ich unsere diesbezüglichen Chancen als nicht so sehr
gut erachte. Kurzentschlossen sitzen wir also wieder auf und rollen die
qualitativ gute Naturstraße weiter.
Plötzlich steht nach einer Linkskurve ein Wohnwagen
schräg vor mir. Er lagert auf der Außenseite der kommenden
Rechtskurve ohne Räder auf ein paar Ziegelsteinen und hebt sich gegen
den dunkel gewordenen Himmel mit seinem verwaschenen Weiß ab. Akkurat
fallen die ersten dicken Regentropfen gewichtig zu Boden, jedesmal ein
wenig Staub rundherum aufwirbelnd. Wir stellen die Motorräder ab
und ich sehe mir den Wohnwagen näher an. Er ist natürlich verschlossen,
auf seiner Rückseite steht per Hand mit einem Pinsel Griechisches
geschrieben, von dem ich außer dem Wort 'Stop' nichts deuten kann.
Unterhalb des Wohnwagens sehe ich ein Stück Blech. Ich klettere hinunter
und winke zu Alice hinauf.
"Komm herunter, hier können wir uns tatsächlich untersetzen!"
Sie turnt die wenigen Meter herunter. "Untersetzen?" grinst
sie.
"Na ja, mit dem Stehen wird es nicht so rosig aussehen..." ich
zeige auf das kleine Loch. Man kann hier bestenfalls zu zweit nebeneinander
sitzen aber auch nicht mehr und das nur, wenn man sich schmal macht. Offenbar
ein Unterstand, der dazu gedacht ist, auch längere Zeit - allerdings
alleine - zu verbringen. Geistesgegenwärtig hat Alice eine Wasserflasche
mitgenommen. In geduckter Haltung eile ich durch den mittlerweile schon
intensiveren Regen nochmals hoch, um etwas Brot und Käse aus dem
Sattelkoffer zu holen. Wieder zurück wische ich mir den Regen vom
Gesicht. Ich freue mich sehr, denn es ist nicht sonderlich viel Platz
hier herinnen und so besteht die Notwendigkeit, doch recht nahe beisammen
sitzen zu können.
Kaum haben wir es uns einigermaßen gemütlich
gemacht, ist die ganze Gegend von wehenden Regenschleiern verdeckt. Unsere
paar Habseligkeiten müssen wir vor unseren Füßen auf den
Boden legen, denn wir haben ja selbst nur knapp nebeneinander auf der
Steinplatte Platz. Es ist ein schönes Gefühl, über die
Schulter und den Arm so direkte Verbindung zu Alice zu haben und ich muß
mich zusammennehmen, um einen klaren Kopf zu behalten. Wie um mir das
zu erleichtern fragt sie mich: "Und - hast Du nachgedacht?"
Ping! Wieder so ein kristallklarer Schubser.
"Also wenn ich ganz ehrlich bin - nein. Ich war so mit dem Rumgucken
beschäftigt. Aber ich kann's ja mal nachholen."
Während ich den Käse und das Brot auspacke denke ich an das
nicht abgeschlossene Gespräch drüben beim Sender.
"Du wolltest also wissen, wie ich meine Wünsche oder besser
wohl Lebensziele, im Zusammenhang mit dem Kreislauf sehe, den du damals
in deiner Reise bei Aina erlebt hast." Um etwas Zeit zu gewinnen
schiebe ich ein extra großes Stück Brot und entsprechend Käse
in den Mund und kaue bedächtig vor mich hin.
"Nun, wenn man es so sieht, dann hat es nicht viel damit zu tun.
Das war dir offenbar klar. Aber warum fragst du das?"
Anstatt einer Antwort kommt die Gegenfrage: "Wenn du das also in
keinem Zusammenhang siehst, glaubst du nicht, daß dann etwas fehlt?"
Offenbar weiß Alice, daß ich nichts gegen konstruktive Kritik
habe. Ansonsten wäre das schon ein ganz schöner Einbruch in
meine Intimsphäre. Wer läßt sich schon gerne nachsagen,
daß sein Weltbild löchrig und unvollkommen ist.
"'Fehlt'... sagen wir mal so, es steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang.
Aber ist nicht das Leben hier auch nur ein Stück, kann also das Ziel
des Lebens nicht auch nur ein Stück sein?"
"Dagegen ist nichts einzuwenden. Was ich aber sagen wollte ist, daß
es notwendig ist, sich dieses Kreislaufs immer bewußt zu sein."
So ganz verstehe ich nicht, worauf sie hinaus will. "Und?"
"Du hast ja noch sinnvolle Ziele, viele wünschen sich nur ein
Leben in Wohlstand, Ruhe und Zufriedenheit."
"Na gut, wäre das so schlimm?"
"Auf den momentanen Augenblick gesehen nicht, da pflichte ich dir
bei. Aber für die gesamte Entwicklung und vor allem zur Erfüllung
des Grundes, warum wir überhaupt hier sind, hilft es uns keinen Schritt
weiter."
Nun bin ich doch etwas verwundert.
"Es hilft nicht, wenn man einfach 'gut' sein möchte, es gut
haben will und zum Ziel hat, keinem anderen zu schaden?"
"Nein, das genügt nicht."
"Und was fehlt dann?" Ein wenig bin ich trotz allem nun verärgert.
"Bös?" Sie scheint es bemerkt zu haben und sieht mich mit
einem gemein-treuherzigen Blick an. Wie könnte ich da ernstlich böse
sein...
"Na klar. Das würde ja bedeuten, daß ich mir keine Gedanken
mache und einfach sinnlos vor mich hin lebe." Es tut gut, ein bißchen
trotzig zu sein. Und warum nicht ein wenig provozieren. Zwar kein ungefährliches
Unterfangen, da meistens Menschen, die gut im Austeilen sind, alles andere
als gut einstecken können. Aber auch hier habe ich es ja mit in Alice
zu tun. Sie lacht, wirft den Kopf zurück und blitzt mich fröhlich
und fast ein wenig kampflustig an.
"Das Wichtigste zwischen Menschen, die einem nahestehen, ist Offenheit
und die Möglichkeit zu sagen was man denkt, ohne Gefahr zu laufen,
deshalb ins Out zu geraten."
"Du bist so was von raffiniert!" Entrüste ich mich gespielt,
woraufhin sie mit Unschuldmiene meint: "Siehst du das denn nicht
so?"
"Grr! Natürlich sehe ich es auch so. Du weißt schon was
ich meine!"
"Ja, ja, ich weiß. Aber darf man als Frau nicht einmal etwas
raffiniert sein? - Sag?" Wenn noch ein Hauch von Ärger da gewesen
wäre, dann hätte das jetzt sein totale Schneeschmelze bedeutet.
"Oh-Oh... aber jetzt erzähl mir einmal, wie du das gemeint hast."
Eifrig rückt sie sich so, daß sie mich etwas
mehr vor als neben sich hat. Ich muß innerlich schmunzeln über
ihre kindliche Begeisterung. Wie wenige Menschen sind so und wie gut tut
diese ungezwungene offene Art!
"Das Gespräch mit meinem Bruder. Das hatte ähnlich begonnen.
Meine Überlegungen dazu sind folgende: Wir sind auf diesem Kreislauf
durch die Ebenen der verschiedenen Stofflichkeiten, da wir dort oben zu
wenig Bewegungs- und Lichtenergie haben, um von uns selbst aus bewußt
zu sein. Als logischer Schluß legt sich nahe, daß der Zweck
unserer Weltenwanderung das Erlangen desselben ist, das uns fehlt oder?"
"Man merkt, daß du bei deinem Webdesign auch mit Programmierung
zu tun hast."
"Wie bitte?"
"Na ja, von wegen 'logischer Schluß'..."
Sie meint darauf nur "Bäh!" steckt mir die Zunge heraus
und fährt fort: "Also das Ziel ist es, Bewegungsenergie zu sammeln...
Hör mal, das ist wirklich ganz grundlegend und wichtig!" Betont
sie nochmals und blickt mich fragend-zweifelnd an. Nachdem ich ein wenig
nachgedacht habe und versuche, diese Tatsache nachzuvollziehen, beginnt
es in mir ganz leise zu dämmern.
"Ich glaube, daß ich ganz sachte beginne zu ahnen, auf was
du hinaus willst." Wieder huscht dieser liebe eifrig-begeisterte
Ausdruck über ihr Gesicht.
"Wirklich?"
"Ja, ich glaube schon. Der Sinn liegt im Erlangen von Bewegungsenergie,
das klingt völlig einleuchtend, vorausgesetzt, deine Geschichte entspricht
den Tatsachen."
Ich hab den Punkt zum Satz nicht einmal noch gedacht, da kommt schon die
Antwort: "Das ist gar nicht so wichtig, ob du diese Geschichte glauben
kannst oder meinst, daß sie erfunden ist. Sie ist nur ein Katalysator,
der dir die Grunderkenntnis der Notwendigkeit der Bewegung vermittelt.
DAS ist das wirklich Wichtige dabei. Sie könnte auch ganz anders
sein, Hauptsache, sie vermittelt die Erkenntnis, was der Grund für
unseren Kreislauf ist. Nein, es muß nicht einmal Erkenntnis sein.
Du brauchst es nicht einmal zu glauben, sondern nur als Fiktion hinzustellen
und immer wieder alle möglichen Erlebnisse daraufhin abzuprüfen.
Erkenntnis wird es dann von selbst, denn irgendwann fällt es dir
wie Schuppen von den Augen!" Auch das war wiederum eine interessante
Überlegung. Was Alice ständig an neuen Ideen aufwirft, begeistert
mich.
"Also, wenn ich dich richtig verstehe, dann meinst du, daß
es wichtig ist, bei allen Überlegungen immer diesen Grundgedanken
mit einzubinden?"
"Ja, ja, ja!" Sie jubelt es richtiggehend hinaus, ihre Freude
bläst mich fast weg. Am liebsten würde ich sie ganz fest umarmen,
so zieht sie mich an. Aber das lasse ich lieber bleiben, um die Atmosphäre
nicht zu verändern.
"So betrachtet muß ich dir beipflichten, daß etwas Grundlegendes
fehlt. Ja." Und ich denke nach über meine Formulierung. Aber
das könnte ich durchaus auch laut. Prompt kommt ihre Frage
"Was denkst du jetzt?" Ob sie Gedanken lesen kann?
"Also mal zu den Zielen. Anderen Menschen nicht zu schaden. Ja, Alice,
es ist zwar ganz wichtig, aber es ist ein Begleitumstand, wenn ich es
so betrachte. Kein Ziel. Gesundheit. Hier sieht es ähnlich aus. Ich
benötige sie, um meinen Ziele erreichen zu können. Aber sie
ist nicht..." ich halte kurz inne, denn es kommt mir nicht schlüssig
vor.
"Nein, mit der Gesundheit ist es etwas anderes. Die Gesundheit ist
so eine Art Indikator. Sie zeigt mir die Richtung. Hmm... aber wie ist
es, wenn ich gesund BIN? Was ist dann? Bedeutet das, daß alle Menschen,
die gesund sind, auf dem richtigen Weg sind? Sicher nicht..."
"Zählt zur Gesundheit nicht auch die innere, die seelische?
Und ist 'seelische Gesundheit' nicht erst dann, wenn man meist ausgewogen,
frei, fröhlich und vor allem gelassen ist? So gesehen hast du ganz
Recht mit der Gesundheit!"
"Ja - und die körperliche Gesundheit bricht ja erst in zweiter
Linie ein, wenn die seelische Krankheit so stark ist, daß sie auf
den Körper drückt und dieser dadurch ebenfalls krank werden
muß. Gar nicht anders kann! Oh Mann, das ist ja hochinteressant!"
Ich fühle eine ungeheure innere Bewegung, alles geht unglaublich
schnell vor sich.
"Alice, ich ahne immer mehr, was es mit der Bewegung auf sich hat!
Mit der Bewegung oder besser Beweglichkeit bin ich in der Lage, starre
Vorstellungen abzustreifen, meine Meinung zu revidieren, auf geänderte
Situationen problemlos einzugehen und wenn mir das alles gelingt, dann
werde ich dadurch, sozusagen automatisch, Erfolge verschiedenster Art
haben, damit glücklich oder glücklicher werden und damit wiederum
mehr Beweglichkeit gewinnen. Es ist wie ein Generator, der sich selbst
immer mehr aufladen kann!" Ganz unerwartet und schnell beugt sich
Alice vor, schlingt ihre Arme um mich und hält mich ganz fest, beinahe
bleibt mir die Luft weg. Bevor ich allerdings zum Nachdenken komme, sitzt
sie wiederum wie vorher schräg neben mir, streift mit einer Handbewegung
ihr schwarzes volles Haar zurück. Allerdings sitzt nun ein seltsamer
Glanz in ihren Augen.
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- 3 -
Der
Regen hat mittlerweile, von uns unbemerkt, aufgehört. Draußen
ist die Luft frisch und nun nehmen wir erst die unglaubliche Aussicht
wahr. Vor uns läuft wie ein überdimensionales geknittertes und
gefaltetes dunkles Tuch aus dünnem Karton das Taigetos-Gebirge in
die Ferne, immer kleiner werdend. Aus den Abenteuern von Jim Knopf und
Lukas dem Lokomotivführer kommt mir die Geschichte in den Sinn, wo
ihnen am Dach der Welt die Begegnung mit dem Drachen Malzahn bevorsteht.
Eine unwahrscheinliche Majestät, Selbstverständlichkeit, fast
möchte ich sagen Hoheit liegt in der Bewegung, mit der sich der Gebirgsrücken
gegen Süden wendet. Staunend sitzen wir kleinen Menschenkinder beide
vor dieser Bühne. Jahrhunderte schrumpfen auf Sekunden zusammen,
Wichtiges zur Nichtigkeit. Fern unten, recht und links kann man bis zum
Meer sehen. Die Straße zu linken eilt als dünner Faden auf
uns zu, stört nicht das Gesamtbild, sondern unterstreicht die gewaltigen
Dimensionen. Die Kombination des Gespräches von vorhin und dieser
Kulisse läßt einen beinahe den Herzschlag stocken, doch zugleich
treibt es ihn auch an und schenkt so eine fast metaphysisches Erleben
von den Zusammenhängen
des Universums. Ohne mit einem Wort oder Bewegungen dieses Empfinden zu
stören sitzen wir lange und erleben dieses Zusammengehörigkeitsgefühl
vom Hier und Drüben, dem Du und Ich, fühlen die Verbindung mit
den mächtigen Bergesfalten und den kleinen Föhrennadeln, hinein
bis in die kleinsten Moleküle alles Seins.
Nachdem wir lange Zeit so regungslos gesessen sind, beginnen
wir, uns ganz behutsam wieder zu regen. Das Gewitter ist wie weggeblasen,
so, als ob es nie gewesen wäre. ein paar lockere Wölkchen schweben
wie Wattebäuschchen im blauen See des Himmels, es fehlt noch, daß
sie ganz unschuldig dahintanzen. Doch das würde ihrer Würde
als Wolke Abbruch tun,deshalb machen sie es nicht. Wir treten in die Sonne
hinaus und strecken uns, dann ein paar Schritte und wir stehen neben unseren
vor Nässe triefenden Motorrädern. Beide haben wir für einen
solchen Fall ein Rehleder im Gepäck, die wichtigsten Teile sind schnell
trockengewischt. Jetzt, mit Muße, erkennen wir, daß wir uns
am höchsten Punkt der Strecke befunden haben. Nach wie vor wortlos
starten wir unsere geliebten Reittiere und setzen uns hintereinander in
Trab. Der Gedanke an Dualseele kommt mir in den Sinn, den neulich Alice
angesprochen hat.
Ab nun geht es ziemlich rigoros bergab. Vorbei an abgestorbenen
Bäumen, viel konkreter ist das Gefälle als bei unserem Aufstieg.
Oft sieht man bis weit hinunter den Verlauf der Straße. In einer
Kehre bleiben wir stehen, um auf die bisher erbrachte Abfahrt zurückzublicken.
Wie schnell wir in die Niederungen gekommen sind erkennen wir jetzt. Weit
türmen sich die Höhenzüge auf, Wolken malen schwarze Gebilde
auf ihre Flanken. Wie schlecht vernähte Narben zieht sich die Straße
über ihre Seiten, wie Masern wirken die Büsche, die unregelmäßig
ihre Matten besprenkeln. Hier scheint es
nicht geregnet zu haben, Staub setzt sich speziell an den feuchten Stellen
der Maschinen hartnäckig fest. Wir nehmen einen Schluck von dem köstlichen
Wasser und rollen weiter talwärts. Bei einer Kreuzung entscheiden
wir uns für links und nun dauert es nicht mehr lange, bis wir in
belebtere Regionen kommen. So gelangen wir nach Saidona, wo uns wiederum
asphaltierter Weg willkommen heißt. Lässig schlenkern wir den
Hang hinunter, immer wieder an Häusern vorbei, durch Örtchen
hindurch, bis wir auf die Küstenstraße gelangen, die von Kalamata
in Richtung Süden führt.
Zügig und voll der Begeisterung, nun wieder entfesselter
agieren zu können, saugen unsere Reittiere das Asphaltband der guten
Straße in sich hinein, gierig, mit weit ausgreifenden Läufen.
Wie edle Rennpferde strecken sie ihren Rücken, tragen uns durch die
südliche Luft, die hinter uns verwirbelt und uns Fremden verwundert
ob unserer Ausgelassenheit nachblickt. So dauert es nicht lange, bis wir
die schmale Strecke erreichen, die sich ohne Meersicht zwischen Mäuerchen
über das Plateau dahinschlängelt und einen dazu verleitet, verspielt
von Kurve zu Kurve zu hüpfen. Die Sonne steht schon deutlich am absteigenden
Ast des Tages, als wir die Kreuzung vor Areopolis erreichen. Spontan entschließen
wir uns dazu, hier einen Kaffee zu trinken. Wir rollen auf den Marktplatz
hinein und finden auch mühelos eine Möglichkeit, unserem Wunsche
nachkommen zu können. Zum obligaten Frappée genehmigen wir
uns zwei, drei von diesen kleinen extrem süßen und von Honig
und Fett triefenden, klebrigen griechischen Gebäcken. Sozusagen als
Belohnung für unser heute bisher so asketisches Eßverhalten.
Oder einfach nur deshalb, weil es fein schmeckt und zur Stimmung paßt.
Nicht
allzu lange hält es uns hier, bald sitzen wir wieder auf. Unsere
Route heimwärts haben wir besprochen und so halten wir noch ein Stück
nach Süden, um dann durch die Berge nach Kotronas durchzubrechen.
Einmal mehr begeistert mich die lebendige Einsamkeit dieses Landes! Die
Straße führt gerade aufwärts, kahl die Höhenrücken,
nur vereinzelt ein einsamer Baum, als ob er irgendwann einmal von irgendwem
vergessen worden wäre. Drüben geht es bergab, teilweise recht
steil und so fallen wir von oben in das kleine Nest ein und lassen uns
gemächlich bis zum Hafen hinuntertragen. Vielleicht fünfzig
Meter bevor wir Meeresniveau erreichen würden, zwingt uns praktisch
eine kleine Tavernenterrasse, Halt zu machen. Bremsen, Ständer, Helm,
Schlüssel, Stühle scharren - Kalispera! Zweimal griechischer
Salat, zwei Mythos-Biere und jetzt, wo ich das schreibe, begeistert es
mich, daß die Rechtschreibeprüfung dieses Bier kennt und seinen
Namen nicht tadelnd, als Tippfehler entlarven wollend, unterkringelt.
Mit keinem Wort kommen wir auf die Erlebnisse auf dem Dach des Taigetos
zurück, sondern unterhalten uns fröhlich über die flotte
Fahrt, die etwas verschlafene Atmosphäre in Areopolis und Leute,
die unten am Hafen spazieren.
Im Laufe der Unterhaltung beobachte ich, wie die Schatten
des südlichsten Taigetos-Armes hinter mir allmählich beginnen,
den die Bucht abschließenden östlichen Höhenrücken
zu fluten. Man muß sich mit der Zeit verbrüdern, um ihn aufwärts
wandern zu sehen. Wir zahlen dann und schlendern zu unseren Motorrädern
hinüber. Helm, Schlüssel, Ständern, starten, Gas, Kupplung
- automatisch laufen die Vorgänge ab und lassen uns so den Spielraum,
bewußt die sich mit jedem Meter wandelnde Umgebung wahrzunehmen.
Über den Beton des Hafens, drüben durch ein schmales Sträßchen
ostwärts schlängelnd werden wir vom letzten Olivenhain am Ende
des Ortes auf die neue überdimensional breite Straße geworfen.
Akbar vibriert unter mir und ich kann es ihm nicht abschlagen, seine hundert
Pferde aus dem Stall zu lassen. Vor Freude brüllend schlingt er die
Straße hundertmeterweise in sich hinein und ich muß ihn kräftig
am Ende
der Geraden ins Zaumzeug greifen, um ihn daran zu hindern, sich mit mir
in die Lüfte über dem schnell aufgetauchten Meer, sondern vielmehr
in die Kurve zu schwingen, die das Kap umrundet. Die auf der Karte angedrohte
Schotterstraße hat sich uns zuliebe in ein perfektes Asphaltband
verwandelt. So habe ich kein Argument, Akbars bebendem Übermut Einhalt
zu gebieten, lasse die Zügel schießen und wir fegen, fest verschweißt,
durch die ausladenden Kurven, neigen uns abwechselnd dem Straßenschwarz
und der Lotrechten in harmonischem Rhythmus zu, dämmen verhaltend
die Kraft um gleich darauf gierig den Beschleunigungsdruck zu genießen.
Was von der Ferne aus wie das hektische Wedeln eines Insekts aussehen
muß, wirkt in seiner Unmittelbarkeit wie der brüllende Ritt
auf sich frei gezwungener Energie.
Irgendwann einmal ist die Straße dann doch zu Ende,
sie mutiert sogar zu schäbiger Schotterstrecke, die wiederum nötigt,
gemütlich über und an Schlaglöchern vorbei das staubige
Bild der Umgebung zu betrachten. Es bietet nichts Außergewöhnliches,
und so warte ich am Ende des Schotterstreifens auf Alice. Akbar muß
kräftig ausgegriffen haben, denn es dauert doch eine Weile, bis sie
auftaucht.
"Wenn ich dich nicht mittlerweile etwas kennen würde, dann dächte
ich, einen wahnsinnigen Cowboy davon galoppieren gesehen zu haben,"
grinst sie.
"Schön, daß wir wenigstens beide an Pferde dachten,"
entgegne ich und wir winden uns durch den kleinen Ort Kalivia. Dahinter
durch abendliche Stille, vorbei an an- und abschwellendem Grillenzirpen,
Öl- und Feigenbäumen und viel dürr-braunem Gras. Als wir
schließlich auf de Straße münden, die von Arepolis nach
Githio führt, sind wir beide ein wenig müde, war es doch nicht
nur ein Tag, der in jeder Beziehung geballtes Leben angeboten hatte, sondern
auch einer, wo wir es dankbar aufgenommen haben. Wir rollen hinein nach
Githio, Akbar ist brav und schnurrt sittsam, hatte er heute doch, was
er wollte, ein schönes Paar, denke ich bei mir, und denke dabei natürlich
an den majestätischen Akbar und die flinke rote TDM daneben. Der
Kreisverkehr wickelt uns einmal um sich, schubst uns vor die Gemüsehandlung
und gleich drauf sitzen wir, ungemein zufrieden, auf einem der Stühle
an einem Tischchen und warten auf einen Retsina, vom Kellner serviert,
der hier jeden kennt.
Die Nacht senkt langsam ihren Mantel herab, die
Lichter werden heller, die Schatten tiefer, die Geräusche lauter.
Mopeds knattern mit ihrem unverwechselbaren Enduro-Sound vorbei, Leute,
hauptsächlich Einheimische, schlendern vorbei, unterhalten sich.
Eine Touristin trägt ein paar Blumetöpfe durch die Gegend und
ein Vater fährt auf seinem Moped um das Rund, vor sich seinen kleinen
Buben stehen habend, der begeistert-gespannt, die Augen weit aufgerissen,
die Fahrt in vollen Zügen genießt. Auch Alice scheint wortlos
die Umgebung einzusaugen, ebenso alles in die Erinnerung wie einen Kupferstich,
aber in Farbe, unauslöschlich einzugraben, möglichst mit allen
Sinnen gleichzeitig. Ein Schiff zieht gleich drüben einen glitzernden
Kamm durch die ruhige See und verschwindet hinter der Mole. Eine Fledermaus
katapultiert sich unstet durch die Luft und natürlich sind auch Katzen
da, die zwischen den Stuhl- und Tischbeinen ihren Anteil suchen. Ich lege
meine Hand auf Alices und spüre die Übereinkunft durch sanften
Gegendruck.
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